Rezension: Augustin Souchy: Mexiko − Land der Revolutionen

Buchtipp vom 07.05.2009
Markus Henning

 

Nachstehend eine sehr gründliche Rezension zu einem interessant klingenden Buch. Dank an Libertarian Press Agency − Berlin -



Vom ersten Guerillero, von landhungrigen Azteken und von der Freiheit als dem köstlichsten sozialen Gut — Augustin Souchy in Mexiko. Eine Buchbesprechung

Augustin Souchy; Mexiko — Land der Revolutionen. Mitteilungen von 1942 bis 1976, herausgegeben und eingeleitet von Jochen Knoblauch, Oppo-Verlag Berlin 2008 / 111 S. / 16 Euro

Im Sommer 1976 nutzt Augustin Souchy (1892-1984), in Schlesien geborener Anarchosyndikalist, anti-militaristischer Agitator und Weltreisender in Sachen Revolution, eine Vortragstournee durch die USA auch zu einem zehntägigen Abstecher nach Mexiko. Nach eineinhalb Jahrzehnten taucht er damit für kurze Zeit wieder ein in die soziale Realität jenes Landes, das ihm 1942 nach seiner Flucht aus Europa Exil gewährt hatte und bis zum Anfang der 1960iger Jahre zur zweiten Heimat geworden war. Voller Wissbegier tritt er auch jetzt wieder umgehend in direkten Kontakt zur sozialen Bewegung und besucht eine Versammlung von viertausend Bauern, die aus allen Landesteilen in der Hauptstadt zusammenkommen sind, um sich zur "Union der kleinen Landbesitzer" zusammenzuschließen. Aus erster Hand berichten ihm seine Gesprächspartner von den nach wie vor ungelösten Strukturproblemen in der mexikanischen Landwirtschaft: Die von Souchy stets als freiheitlich-sozialistisches Projekt begriffene und hoffnungsvoll in Wort und Tat begleitete Agrarreform, jenes verheißungsvolle Erbe der mexikanischen Revolution (1910-1917), ist leider so gut wie gar nicht vorangekommen. Hunderttausende, meist indianische Campesinos warten immer noch auf Landzuteilung. Weitgehend abgekoppelt von den zwischenzeitlich erzielten Wohlfahrtssteigerungen im industriellen Sektor ist ihr Leben geprägt von der Willkür korrupter Behördenmacht, von materiellem Elend, Schuldknechtschaft, Fatalismus und verzweifelter Landflucht. Souchys während der Jahre im Ausland gehegte Erwartungen an ein unmittelbar bevorstehendes Wiederaufflammen des Rebellengeistes in den unterentwickelt gehaltenen Regionen Mexikos haben sich als wirklichkeitsfremde Projektionen erwiesen. Ein Realitätsschock, den er zwar mit Bedauern zur Kenntnis nimmt, von dem Souchy sich in seinen Emanzipationshoffnungen aber keineswegs grundsätzlich erschüttern lässt. Er passt lediglich ihren Zeithorizont der veränderten Lage an und bringt — knapp zwanzig Jahre vor Beginn des neozapatistischen Indigenen-Aufstandes in Chiapas — die folgende Prognose zu Papier: "Meiner Ansicht nach ist der Aufstieg des mexikanischen Farmers eine Frage von Jahrzehnten." (S. 92)

Chronologisch am Ende stehend, gehört diese autobiographisch geschilderte Episode zu den stärksten Passagen des hier zu besprechenden Buches. Wie durch ein Brennglas lenkt sie den Blick auf genau jene menschlichen Qualitäten, deren politische und journalistische Umsetzung Augustin Souchy zu einem der markantesten und sympathischsten Zeitzeugen libertärer Entwicklungen im 20. Jahrhundert werden ließen: Lebenslange Neugierde und Lernfähigkeit, Mut zur persönlichen Intervention und unbedingte Bereitschaft, sich jederzeit existentiell auf das Ringen um soziale Befreiung einzulassen, sowie eine seltene Gabe, die Solidarität mit den Unterdrückten als authentische Begegnung auf gleicher Augenhöhe konkret werden zu lassen.

An vielen Stellen seiner "Mitteilungen" wird greifbar, wie kosmopolitische Weltgewandtheit und Einfühlungsvermögen Souchy auch in Mexiko den Weg in die Herzen der Menschen bahnen. Bei seinen Vortragsabenden kündigen ihn die politischen Gesinnungsfreunde in liebevoller Pathetik als "’Caballero de la Libertad’ (Ritter der Freiheit)" (S. 66) an. Oder er wird während einer abenteuerlichen Landverteilungsexpedition im Jahre 1942 spontan von einer Gruppe indianischer Neusiedler integriert und über Wochen hinweg mit rührender Gastfreundschaft umsorgt. "Das erste unserer kargen Kost war immer ’Don Augustin’ zugedacht. (...) Nie zuvor hatte ich in einer solch harmonischen Gemeinschaft gelebt. Meinen Freunden im Tupinamba [ein Bohèmecafé in México City] konnte ich später erzählen, dass ich mich nirgends sicherer gefühlt hatte als unter den landhungrigen Azteken im Tropenwald von Montepio." (S. 38)

Getragen von einem tief verwurzelten Urvertrauen in das anarchistische Gesellschaftsideal verdichtet sich die Lebensnähe der eigenen Erfahrungswelt in Souchys Mexiko-Texten zu stilistischer Kraft und inhaltlicher Originalität. Sie machen das weitgefächerte Panorama seiner revolutionsgeschichtlichen, soziologisch-ökonomischen und literaturtheoretischen Betrachtungen zu einer Lektüre, die auch heute noch anregend und erkenntnisfördernd wirken kann.

Das gilt selbst da, wo die Zeitgebundenheit seiner Analysen mittlerweile zu Widerspruch und kritischer Reflexion herausfordert. Namentlich was die politischen Institutionen und postrevolutionär etablierten Formen der Konfliktaustragung in seinem Gastland angeht, neigt Souchy in einer Mischung aus revolutionärem Überschwang und Dankbarkeit des geretteten Flüchtlings verschiedentlich zu einer allzu positiven Einschätzung. Vor einer ideologischen Verabsolutierung bewahrt ihn aber auch in diesem Punkt der eigene, stets offene Blick auf die soziale Realität. So verkündet er 1950 den Lesern und Leserinnen der in Deutschland erscheinenden anarchistischen Zeitschrift "Die Freie Gesellschaft" voller Euphorie, dass in Mexiko ganz im Geist der seit 1917 geltenden Revolutionsverfassung "(...) die Freiheit (...) als das köstlichste soziale Gut betrachtet (wird)." (S. 14) Auf der anderen Seite analysiert er in derselben Artikelserie aber auch die Ausbreitung von Pfründenwesen, Vetternwirtschaft und Korruption im Herrschaftsapparat der alleinregierenden "Partei der institutionalisierten Revolution (P.R.I.)", beklagt die mangelnde Initiative und fehlende Selbstverantwortung von Arbeiter- und Bauernschaft, geißelt den ideologischen Einfluss des reaktionären Klerus und kritisiert die Ungerechtigkeiten des nach wie vor kapitalistisch verfassten Wirtschaftssystems.

Im Wesentlichen hat die mexikanische Revolution an der Diskriminierung der indianischen Ureinwohner ebenso wenig geändert, wie an der generell ethnisch bedingten Schichtung der sozialen Hierarchie. Detailliert beschreibt Souchy, wie rigide in Mexiko gesellschaftlicher Status, Partizipations- und Aufstiegschancen von der jeweiligen Volksgruppenzugehörigkeit und Nationalität determiniert werden, und dekonstruiert damit zugleich gängige Schemata eurozentrierter Geschichtsphilosophie: "Hätte Karl Marx in Mexiko gelebt anstatt in England, so wäre er kaum auf seine Formulierung, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Klassenkämpfe ist, gekommen." (S. 17)

In dem Exkurs "Der erste Guerillero" (S. 51-53) spürt Souchy einem nicht weniger weit verbreiteten Revolutionsmythos nach, dessen historische Wurzeln er bis zu dem kastilianischen Edelmann Francisco de Xavier Mina zurückverfolgt. Unterstützt von den Regierungen in Großbritannien und den USA hatte sich dieser als selbst ernannter Befreiungsheld im Jahre 1817 an der Spitze von 130 Freischärlern verschiedener Nationalitäten in Mexiko eingeschifft, um den Aufstand gegen die spanischen Kolonialherrscher zu entfesseln. Da es ihm jedoch in keinem Moment gelungen war, einen lebendigen Kontakt mit der heimischen Bevölkerung aufzubauen, waren seine Verbände bereits nach wenigen Monaten aufgerieben, Mina selbst wurde von spanischen Truppen festgesetzt und standrechtlich erschossen. Ein militärisches Fiasko, in dem sich die Fragwürdigkeit eines importierten Guerillakrieges offenbarte — und das bereits 150 Jahre bevor der auch heute noch als Revolutionsikone verehrte Ché Guevara mit genau demselben Avantgarde-Konzept in Bolivien scheitern sollte!

Ansätze zu einem konstruktiv-freiheitlichen Gegenmodell weist die gegen den Militärdiktator Porfirio Díaz gerichtete Revolutionsbewegung auf, welche ab 1910 so gut wie alle Bevölkerungsgruppen Mexikos in ihren Bann zog. Der Darstellung ihrer Vorgeschichte, ihres Verlaufes, ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Nachwirkungen räumt Souchy daher breiten Raum ein. Neben vielem anderen findet die von Anarchisten gegründete "Liberale Revolutionspartei" und ihre Rolle "(...) als das geistige Zentrum der mexikanischen Revolution" (S. 13) dabei ebenso Erwähnung wie der nachhaltige Einfluss anarchosyndikalistischer Tendenzen auf die im Laufe der sozialen Umwälzungen in Mexiko erst entstehende Gewerkschaftsbewegung.

Wie tiefgreifend Wirtschaft und Gesellschaft vom revolutionären Aufbruch erfasst wurden, entschlüsselt sich Souchy nicht zuletzt am Aufschwung des künstlerischen Schaffens im Lande. Anhand von Autoren wie Mariano Azuela, Martin Luis Guzmán, Rubén Romero oder José Luis Erro zeichnet er feinfühlig nach, welch produktive Energien sich seit den frühen 1920iger Jahren in einer neuen, ganz eigenen Literaturgattung niederschlugen. Die ihr eigene Dynamik, von der plastischen Schilderung äußerer Ereignisse zu psychologischen Reflexionen überzugehen, erfasst Souchy — und das ist aus libertärer Perspektive höchst interessant — als literarischen Ausdruck einer realgeschichtlichen Problematik: "Die Romanciers zeigen auf ihre Weise, was eine Revolution vollbringen und was sie nicht erreichen kann. Die Lösung der sozialen Frage wurde 1910 revolutionär begonnen, konnte aber bis heute noch nicht befriedigend zu Ende geführt werden. Für die intermenschlichen Probleme aber ist keine Revolution zuständig, denn auch die Revolution produziert keine neuen Menschen. Diese Lehre kann man aus den mexikanischen Revolutionsromanen ziehen." (S. 56)

Im Sammelband "Mexiko — Land der Revolutionen" wird Augustin Souchy als anarchistischer Autor voller Lebensklugheit und Klarsicht präsentiert. Herausgeber und Verlag ist eine ansprechende Zusammenstellung gelungen, in welcher die bereits erwähnte Artikelserie der "Freien Gesellschaft" (1950) durch Auszüge aus Souchys Büchern "Betrifft: Lateinamerika" (1974) und "Vorsicht Anarchist" (1977) eine inhaltlich sinnvolle Abrundung erfährt. Ein sorgfältig gestalteter Anhang mit ausführlichem Glossar, Zeittafel und Quellenverzeichnis macht die wiederveröffentlichten Texte selbst ohne spezielle Vorkenntnisse gut zugänglich. Auch von daher ist dem Buch eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen.

Markus Henning
 

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