Evangelisten der »Armee Gottes« töten im Namen des Fortschritts

Angriffe gegen Autobahn-Opposition im Hochland von Chiapas

Direkte Solidarität Chiapas vom 05.08.2009

 

Ein Artikel zu Chiapas für den Correos de las Américas vom August 2009 − siehe anbei. Dieses Correos-Heft (http://zas-correos.blogspot.com/) hat übrigens das Schwerpunktthema Putsch in Honduras.

Von einer breiten Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen, köcheln die sozialen Konflikte in Chiapas weiter vor sich hin. Einer der Brennpunkte ist die Frage des Fortschritts, der Investitionen in Infrastrukturprojekte, insbesondere für den Tourismus. Und letztlich darum, wer die Kontrolle über diese Ressourcen hat, die lokale Bevölkerung oder Investoren von aussen. Das war der Hintergrund des durch Polizeieinheiten verübten Massakers von Chinkultik im Herbst 08, ebenso die immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen in der Region um die Wasserfälle von Agua Azul, und nun entbrannte in Mitzitón ganz in der Nähe San Cristóbal ein Konflikt, der einen Toten und mehrere Verletzte zur Folge hatte.

Am 21. Juli war eine Kommission des Dorfes Mitzitón auf Patrouille, als ein Wagen auf sie losfuhr, dessen vermummte Insassen zudem das Feuer eröffneten. Der Dorfbewohner Aurelio Díaz Hernández wurde vom Wagen überrollt und getötet, zwei schwer und zwei weitere leicht verletzt. Über den Hintergrund des Angriffs wurde in der Presse und seitens der Regierung viel spekuliert. Es sei ein religiöser Konflikt zwischen evangelischen und katholischen Indigenen, war eine gubernamentale Erklärung. Es gehe um einen Landstreit, um den Besitz des Landstücks Chixtetik. Einmal mehr wird sinuiert, die Indigenen seien halt einfach nicht fähig, friedlich miteinander zusammenzuleben.

Doch die BewohnerInnen von Mitzitón sehen das anders: Sie warnten seit längerem, dass eine Gruppe von Personen, welche vor Jahren wegen kriminellen Aktivitäten aus der Gemeinde verwiesen wurden, sie bedrohten. Am Sonntag, den 19. Juli, beschloss die Gemeindeversammlung von Mitzitón, Land und Territorium zu verteidigen.

„Grupo del Choque« der PRD-Regierung

Die Angreifer gehören einer Gruppe an, die von Carmen Díaz López und Refugio Díaz Ruiz geleitet wird, beides Pastoren der Kirche "Alas de Águila". Diese "Adlerflügel"-Kirche organisiert einen Arm der "Selbstverteidigung" namens "Ejército de Diós", Armee Gottes. Der Pastor Esdras Alonso aus Tuxtla ist "Kommandant" dieser Armee und politischer Aktivist, der einen "Generalstab" mit 12 Angehörigen und eine Miliz von Hunderten von Auserwählten aufbieten kann. Diese verstehen sich als "Soldaten", deren Pflicht es ist, "das Wort Gottes zu verkünden". Dies beispielsweise per Märschen durch San Cristóbal, wo sie Militärkappen mit Rangabzeichen, Tarnhosen und Kampfstiefel vorführen. Gemäss dem Jornada-Journalisten Hermann Bellinghausen sind diese "von der "Philosophie" der berüchtigten Kaibiles (der Sondereinheit zur Bekämpfung der Guerilla) von Guatemala inspiriert, deren Motto sie auch übernommen haben: "Wenn ich vorrücke, folge mir. Wenn ich anhalte, treib mich vorwärts. Wenn ich zurückweiche, töte mich".

Religion spielt also eine Rolle? Wenn man das noch Religion nennen will, dann ja. Fakt ist, dass seit den Siebziger Jahren im chiapanekischen Hochland die Zersplitterung der Gemeinden in verschiedene Religionen als Vorwand diente für Vertreibungen, Mord und Totschlag. Die evangelikalen Sekten, meist aus der USA importiert, stellten sich gern als Opfer der Verfolgung dar. Heute sind sie offensichtlich Teil der Aufstandsbekämpfung. Bellinghausen verortet die "Armee Gottes" politisch folgendermassen: "Ohne ihre parteiische Zugehörigkeit offen zu verkünden, sind ihre Pastoren mit der PRD affiliiert, und einer von ihnen ist gegenwärtig Gemeinderat im Rathaus von San Cristóbal. Esdras Alonso war seinerseits Koordinator für Religiöse Angelegenheiten und Sekretär des Bezirksratshauses für die vorherige Regierung. Somit sind die Unterstützer der Armee Gottes PRD-Angehörige, in einem Bezirk unter PRI-Regierung, (in einem Staat, der von dem regiert wird was hier als PRD gilt)." Zudem war Esdras Alonso der erste Anwalt der Paramilitärs, die 1997 im Flüchlingslager von Acteal 45 Indigenas der befreiungskirchlichen Organisation "Las Abejas" massakrierten. In den letzten Jahren fiel die Gruppe durch den Handel mit illegalen MigrantInnen aus Zentralamerika auf. Bis jetzt waren alle ihre Taten straffrei, also vermuten die BewohnerInnen von Mitzitón wohl zurecht, dass sie Protektion innerhalb der Regierung geniessen.

Autobahn versus Autonomie

Mitzitón ist nicht zufällig Schauplatz einer solchen Auseinandersetzung: Hier soll die neue Autobahn San Cristóbal — Palenque beginnen, just auf dem Gelände Chixtetik sei der "Kilometer Null" geplant, vermuten die Gemeindemitglieder. Um sich gegen dieses Projekt zu wehren, haben sie sich als Gemeindeversammlung der "anderen Kampagne" angeschlosssen, welche die EZLN 2005 ins Leben gerufen hatte, als eine Art Netz der lokalen Widerstände, als Verteidigungsbündnis, das mittelfristig einen nationalen Aktionsplan gegen das herrschende System und langfristig eine neue antikapitalistische Verfassung für Mexiko erarbeiten will. Das "Megaprojekt" der Autobahn nach Palenque führt seit seiner Initiierung zu Debatten. So erklärte der Gouverneur Sabines letztes Jahr, dieser Bau sei nicht durchführbar, worauf ihn Präsident Calderón tags darauf prompt korrigierte. Die Familie von Calderóns ehemaligem Intimus, der bei einem ungeklärten Flugzeug-Absturz ums Leben gekommene frühere Innenminister Mouriño, hält mit der spanisch-mexikanischen Tankstellenkette Grupo Energético del Sureste die Trümpfe in der Hand und baut schon an Teilstrecken der Autobahn. Die Investitionen in die private Autobahn soll mehrere Milliarden Dollar betragen. Dies als Weiterführung der Projekte der Vorgängerregierung (Pablo Salazar, PRD), die an der Küste einen gigantischen Hafen für Luxusliner bauen liess und die Schnellstrasse Tuxtla — San Cristóbal fertigstellte. Palenque mit seinen pittoresken Maya-Ruinen soll besser angebunden werden, die fünfstündige kurvenreiche Fahrt durch die indigene Misère (inklusive Überfallrisiko) soll für TouristInnen der Vergangenheit angehören, schönes neues Mexiko.

Doch es scheint, dass die für die Autobahn nötigen 58’490 Hektaren indigenen Landes nicht widerstandslos enteignet werden können. Die Leute verspüren auch keine Lust, sich in die "ciudades rurales" genannten Modelldörfer umsiedeln zu lassen (siehe Kasten), wo ihnen jegliche landwirtschaftliche Produktion verunmöglicht wird. So kann die Gemeinde Mitzitón auf eine breite regionale Unterstützung zählen. Allen voran durch die pazifistisch-kämpferischen "Abejas", welche eine Solidaritätsdelegation nach Mitzitón entsandten und ein kluges Communiqué veröffentlichten, in dem sie erklärten, die Agressoren seien "eine Verbrechergruppe, Menschenhändler, welche sich unter dem Namen der Evangelikalen verstecken, um vorzutäuschen, dass das Problem religiöser Art sei; wir sagen dies Euch aus Erfahrung, denn so versuchte die Regierung auch das Massaker von Acteal darzustellen, als einen interreligiösen Konflikt, wobei es sich in Tat und Wahrheit um einen Teil des Krieges zur Aufstandsbekämpfung handelte". Auch die "andere Kampagne" äusserte sich zum Angriff in Mitzitón, und liess es nicht bei Worten bewenden: Am 30. Juli blockierten mehrere Hundert Indigenas, Delegationen aus 20 Gemeinden, die wichtige Strasse San Cristóbal-Comitán bei Mitzitón während sechs Stunden. Diese Mobilisierungen der "otra" entstehen unabhängig von der EZLN, die sich in den letzten Monaten bedeckt hält. Vielleicht wurde die "otra" doch zu früh abgeschrieben und das Netz der Widerstände wird in dieser oder anderer Form weiter geknüpft.
UNO unterstützt Modelldörfer

Der UNO-Koordinator Magdy Martínez Solimán besuchte Ende Juli Chiapas. Nicht, um die Ereignisse von Mitzitón zu untersuchen, nein, er hatte höheres im Sinn: Eine Vereinbarung mit der Regierung von Chiapas, wonach die UN-Milleniums-Ziele zur Armutsbekämpfung in die Verfassung des Bundesstaates verankert werden sollen. Dies sei die erste Verfassung weltweit, welche sich die Erfüllung der Milleniums-Ziele auf die Fahnen schreibe, so stolz der UNO-Mann. So sollen denn auch 27.5 Millionen Pesos (2.25 Mio. Sfr.) aus dem Milleniums-Fons nach Chiapas fliessen. Was da für eine Armutsbekämpfung vorgegaukelt wird, das wurde bei der Rundreise des UNO-Vertreters klar: Er besuchte die gemäss der Regierung von Chiapas erste "nachhaltige rurale Stadt der Welt" namens Nuevo Juan del Grijalva. In diese "ciudades reales" genannte Modelldörfer soll die disperse indigene und mestizische Landbevölkerung umgesiedelt werden, damit ihnen dort alle Segnungen der Zivilisation kostensparend zuteil werden. 10 auf 20 Meter umfassen die Einheiten pro Familie. Von Selbstbestimmung und Territorium ist so natürlich dann auch keine Rede mehr. Und wo liegt dieses prophetische "Nuevo Juan del Grijalva"? Dort, wo im November 2007 ein Dorf nach einem Bergsturz unter den Fluten des Flusses Grijalva verschwand. "Die Erinnerung an die Tragödie von Juan de Grijalva hat sich in Hoffnung und Enthusiamus transformiert", schreibt die Regierung Sabines auf ihrer Homepage. Naomi Kleins Katastrophen-Kapitalismus lässt grüssen...


Quelle:
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