Die meisten Täter leben heute noch in Acteal

junge welt vom 18.08.2009
Samuel Stuhlpfarrer, San Cristóbal de las Casas

 

Der Oberste Gerichtshof Mexikos hat Mörder freigelassen, die vor zwölf Jahren 45 Menschen umgebracht hatten. Gespräch mit Ignacio Perez Luna

Ignacio Perez Luna hat im Alter von acht Jahren ein Massaker überlebt, bei dem 45 Angehörige des Stammes der Tzotzilen in Acteal (Mexiko, Bundesstaat Chiapas) ermordet wurden. Darunter waren sein Vater und sein Bruder.

Der Oberste Gerichtshof von Mexiko-Stadt hat jetzt 20 der Mörder vorzeitig aus der Haft entlassen, die vor zwölf Jahren 45 Angehörige des Tzotzilen-Stammes umgebracht haben. Können Sie sich einen Reim auf diese Entscheidung machen?

Offenbar sind die Richter der Auffassung, daß die Männer unschuldig sind. Oder aber, sie gehen davon aus, daß das, was sie taten, nicht bestraft werden muß. Alles deutet darauf hin, daß die Regierung und die ihr unterstellten Behörden annehmen, jetzt — also zwölf Jahre nach dem Massenmord — könne sie ihre Leute still und heimlich freilassen. Aber die Rechnung ist nicht aufgegangen. Die Gerichtsentscheidung hat wütende Reaktionen ausgelöst, und man fragt sich nun mehr denn je, wer die Hintermänner dieses Verbrechens sind.

Die Täter stammten offensichtlich aus dem Umfeld der damals regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Gibt es Beweise für die Verwicklung der PRI in das Massaker?

Durchaus. Die Waffen der Mörder wurden nachweislich von der Regionalregierung besorgt, und die Täter waren durchweg Funktionäre oder Anhänger der PRI. Weder Militär noch Polizei haben einen Finger gerührt, um den Opfern zu helfen.

Sie selbst haben das Massaker als Kind überlebt. Können Sie uns sagen, was sich damals zugetragen hat?

Dazu muß ich etwas weiter zurückgreifen: Nach dem Aufstand der Zapatisten vom 1. Januar 1994 haben sich auch bei uns im Dorf viele gefragt, ob denn die PRI überhaupt noch die Interessen der Eingeborenen vertritt. Es gründete sich eine Organisation, die Gruppe Las Abejas (Die Bienen), die aber im Gegensatz zu den Zapatisten Gewalt kategorisch ablehnt. Die PRI beobachtete das Erstarken von Las Abejas voller Mißtrauen und ging ab Mitte 1997 mit Gewalt gegen deren Anhänger vor.

Wie muß man sich das vorstellen?

Sie brannten unsere Häuser nieder und drohten uns mit der Ermordung. Meine Familie und ich schliefen damals oft nächtelang im Wald, weil wir Angst vor den Anhängern der PRI hatten.

In der Kirche von Acteal hatten sich bereits drei Tage vor dem Massaker viele Familien aus dem Dorf eingefunden. Wir beteten gemeinsam und fasteten dafür, daß der Terror endlich aufhören möge. Dann hörten wir Schüsse — der Priester versuchte noch, uns zu beruhigen, aber um 10.15 Uhr stürmten die PRI-Leute die Kirche. Es waren an die hundert Männer, die das Feuer auf uns eröffneten. Ob Kinder oder schwangere Frauen — sie schossen aus drei bis fünf Meter Entfernung auf alles, was sich bewegte.

Ich selbst konnte in dem Durcheinander aus der Kirche rennen und mich vier Stunden lang an einem nahen Fluß verstecken. Danach wagte ich mich wieder auf die Straße und fragte die Leute nach meiner Familie. Ich war ja erst acht Jahre alt — wohl deswegen wollte mir niemand die Wahrheit zumuten. Sie versicherten mir daher, es sei alles in Ordnung. Erst am Abend, als die Menschenrechtsgruppen die Toten zählten und identifizierten, erfuhr ich, daß sie meinen Vater getötet hatten. Auch meinen Bruder, seine Frau und ihre vier Kinder.

Haben Sie die Täter damals erkennen können? Könnten Sie sie heute identifizieren?

Natürlich. Ich habe viele der Täter erkannt und kann sagen, wer sie sind. Die meisten leben heute noch in Acteal.

Wurden Sie dazu jemals von der Polizei befragt?

Nein, sie hat uns nie vernommen, bis heute nicht. Hätten nicht Menschenrechtsgruppen, wie etwa Frayba aus San Cristóbal, auf eigene Faust recherchiert, wäre es ohnehin nie zu einer Anklage gekommen.

Waren unter den Männern, die jetzt freigelassen wurden, auch solche, die Sie bei dem Massaker gesehen hatten?

Ja, es waren einige dabei.

 

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