Über Kritische Reflexion, Individuen und Kollektive

Zweiter Brief von Subcomandante Marcos an Luis Villoro im Rahmen der Korrespondenz über Ethik und Politik

Kommunique vom 14.04.2011
übersetzt von: Dana

 

ZAPATISTISCHE ARMEE DER NATIONALEN BEFREIUNG
Mexiko

April 2011

Falls im Himmel Einstimmigkeit herrscht, haltet für mich einen Platz in der Hölle bereit«
(SupMarcos. Anweisungen für meinen Tod II)


I.- DIE PROSA DES TOTENKOPFS.

Don Luis:

Gesundheit und Grüße, Maestro. Wir hoffen wirklich, dass Sie sich besser fühlen, und dass das Wort wie eines dieser hausgemachten Heilmittel wirken wird, die Linderung verschaffen, obgleich niemand weiß wie.

Während ich anfange, diese Zeilen zu schreiben, werden der Schmerz und die Wut von Javier Sicilia (weit weg an Entfernung, aber seit jeher nahe in Idealen) zum Echo, das in unseren Bergen widerhallt. Es ist zu erwarten und zu hoffen, dass seine legendäre Entschlossenheit, so wie er jetzt unser Wort und unsere Tat erfordert, es schaffen wird, die Wut und die Schmerzen zu vereinen, die sich auf mexikanischem Boden multiplizieren.

Bei Don Javier Sicilia erinnern wir uns an seine kompromisslose aber brüderliche Kritik des autonomen Bildungssystems in den indigenen zapatistischen Gemeinden und seine Hartnäckigkeit, in regelmäßigen Abständen, am Ende seiner wöchentlichen Kolumne in der mexikanischen Zeitschrift Proceso an die ausstehende Erfüllung der Vereinbarungen von San Andrés zu erinnern.

Die kollektive Tragödie eines sinnlosen Krieges, konkretisiert in der besonderen Tragödie, die ihn verwundete, hat Don Javier in eine schwierige und heikle Lage versetzt. Zahlreich sind die Schmerzen, die darauf hoffen, Echo und Volumen in seinen Forderungen nach Gerechtigkeit zu finden, und es gibt nicht wenige Beunruhigungen, die erwarten lassen, dass seine Stimme die ignorierten Stimmen der Entrüstung verkörpert, wenn nicht gar lenken wird.

Über seiner vom würdigen Schmerz vergrößerten Figur kreisen die Aasgeier der Politik, für die ein Tod nur dann zählt, wenn er ihren individuellen Projekten und Grüppchen hinzuaddieret oder subtrahieret werden kann, obwohl sie sich hinter einer Vertretbarkeit verstecken.

Wird ein neuer Mord sichtbar gemacht? Nun, da muss man sehen, wie das die puerile Wahlbuchhaltung beeinflusst. Für die dort oben zählen Tode nur, wenn sie sich auf diese Wahlagenda auswirken können. Wenn aus ihnen in Umfragen und Wahltendenzvorhersagen kein Kapital geschlagen werden kann, kehren sie auf das finstere Konto zurück, wo Tode nichts mehr zählen, obwohl es Zehntausende sind, weil sie sich wieder in eine individuelle Angelegenheit verwandeln.

Ich kenne, in dem Moment, da ich Ihnen diese Zeilen schreibe, die Schritte nicht, die dieser Schmerz, der auffordert, beschreitet. Aber sein Ruf nach Gerechtigkeit, und all jene, die in ihm verkörpert sind, verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung, auch wenn wir noch so klein sind, und noch so großen Beschränkungen unterliegen.

In dem Kommen und Gehen der Nachrichten über diesen Vorfall, soll daran erinnert werden, dass Don Javier Sicilia ein Dichter ist. Vielleicht ist seine beharrliche Würde darauf zurückzuführen.

In seiner sehr eigenen Art, die Welt zu sehen und zu erklären, sagte einst der Alte Antonio, dieser Indigena, der unser aller Lehrer und Leiter gewesen ist, dass es Menschen gab, die fähig waren, Wirklichkeiten zu sehen, die noch nicht existierten, und da auch die Worte noch nicht existierten, um diese Wirklichkeiten zu beschreiben, müssten sie mit Worten arbeiten, die bereits existierten und diese auf seltsame Weise anpassen, teils als Lied und teils als Prophezeiung.

Der Alte Antonio sprach von Poesie und von jenen, die sie erschaffen (denen füge ich jene hinzu, die sie übersetzen, weil die ÜbersetzerInnen von Poesie in fremden Sprachen, auch ziemliche Erschaffer von Poesie sein müssen).

Die Dichter, die Dichterinnen, sehen sie weiter oder auf andere Weise? Ich weiß es nicht, aber auf der Suche nach etwas, dass in der Vergangenheit gesagt, über die Gegenwart sprach, die uns schmerzt, und über die ungewisse Zukunft, fand ich dieses Werk von José Emilio Pacheco, den mir ein großer Bruder vor einiger Zeit geschickt hat, und das ist genau das Richtige, (um nichts zu verstehen), um von niemanden verstanden zu werden:

Die Prosa des Totenkopfes

Wie Ulysses heiße ich Niemand. Wie der Dämon der Evangelien ist mein Name Legion. Ich bin du, weil du ich bist. Oder wirst sein, weil ich war. Du und ich. Wir zwei. Ihr, die anderen, die unzähligen Sie, die sich in mir auflösen.
(...)

Danach war ich, an den Punkt mich in eine Floskel zu verwandeln, ein Symbol der Weisheit. Denn das Weiseste ist auch immer das Offensichtlichste. Da niemand es von Angesicht sehen möchte, werden sie nie überdrüssig zu wiederholen: Wir sind keine Bürger dieser Welt, wir sind nur Passagiere auf dem Weg in das gelobte und unerträgliche Land.

Wenn das Fleisch Gras ist, geboren, um geschnitten zu werden, bin ich für deinen Körper so etwas wie der Baum für die Wiese: nicht unverwundbar, auch nicht von Dauer, sondern nur festeres oder widerstandsfähigeres Material.

Wenn Du und alle, die in jener Lücke der Zeit geboren wurden, die dir als Darlehen gegeben wurde, anfangen ihre Rolle darzustellen in diesem Drama, dieser Farce, dieser tragischen und absurden Komödie, werde ich jahrelang Bestand haben: fleischlos, entfleischt.

Gelassene Grimasse, geheimes Gesicht, die du dich zu sehen weigerst (reiß dir die Maske ab: in mir wirst du dein wirkliches Gesicht finden), obwohl sie dir zutiefst vertraut und immer bei dir ist.

Und in sich trägt es, in flüchtigen Zellen, die jeden Augenblick zu Millionen sterben, alles was du bist: dein Gedanke, dein Gedächtnis, deine Worte, dein Ehrgeiz, deine Wünsche, deine Ängste, deine Blicke, die zu Lichtschlägen den Schein der Welt errichten, deine Entfernung oder dein Verständnis von dem, was wir wirklich Wirklichkeit nennen.

Das was dich über deine vergessenen Verwandten erhebt, die Tiere, und was dich unter sie stellt: das Zeichen des Kain, der Hass auf deine Spezies, deine doppelköpfige Fähigkeit zu erschaffen und zu zerstören, Ameise und Holzwurm.
(...)

Denn ich bin überall mit Ihnen. Immer mit ihm, mit ihr, mit dir, wartend, ohne zu protestieren, wartend. Aus den Armeen meiner Verwandten wurde die Geschichte geschmiedet. Aus der Pulverisierung meiner Scherben wurde die Erde geknetet.
(...)

Und, siehe da, ich -- Maske des Todes -- bin das tiefgründigste deiner Lebenszeichen, dein letzter Fußabdruck, deine letzte Gabe von Müll an den Planeten, der schon nicht mehr in sich passt vor so vielen Toten. Obgleich ich nur für kurze Zeit bestehen werde, dann jedenfalls für sehr viel länger als dir gewährt wurde zu bestehen.
(...)

Alle Schönheit und alle Intelligenz ruhen in mir, und du weist mich ab. Du siehst mich als Zeichen der Angst vor den Toten, die sich dagegen wehren, tot zu sein, oder vor dem flachen und einfachen Tod: deinen Tod. Weil ich mich nur mit deinem Schiffbruch über Wasser halten kann. Nur wenn du Grund berührt hast, erscheine ich.

Aber in einem gewissen Alter deute ich mich in den Falten an, die mich zeichnen, in den Haaren, die meine verbrauchte Weißheit teilen. Ich, dein wirkliches Gesicht, deine letzte Erscheinung, dein letztes Gesicht, das dich zu Niemand macht und zu Legion verwandelt, biete dir heute einen Spiegel an und sage dir: Betrachte dich.


(José Emilio Pacheco, "Prosa de la calavera", in "Fin de siglo y otros poemas", Mexiko, Fondo de Cultura Económica / Secretaría de Educación Pública, Lecturas Mexicanas No. 44, 1984, S. 114-117)

Ii .- Die Bedeutung der Kritischen Reflexion.

»Wenn die Heuchelei anfängt an Qualität zu verlieren, wird es Zeit anzufangen die Wahrheit zu sagen«
Bertold Brecht.

Der Krieg von oben geht weiter, und sein Pfad der Zerstörung beansprucht auch, dass wir alle anfangen, dieses alltägliche Grauen als etwas Natürliches zu akzeptieren, etwas Unabänderliches. Als ob die herrschende Verwirrung vorsätzlich gewesen sei und darauf abzielt, eine Resignation zu demokratisieren, die lähmt, die konform macht, die niederschlägt, die besiegt.

In Zeiten, in denen die Verwirrung organisiert ist und Willkür bewusst ausgeübt wird, ist es notwendig etwas zu tun.

Und eine Möglichkeit ist es, zu versuchen diese Verwirrung durch kritische Reflexion zu desorganisieren.

Wie Sie aus den Briefen sehen können, die ich beifüge, Don Luis, haben sich diesem Gedankenaustausch über Ethik und Politik, Carlos Antonio Aguirre Rojas, Raul Zibechi, Sergio Rodríguez Lascano und Gustavo Esteva angeschlossen. Wir hoffen, dass sich dem weitere Überlegungen hinzufügen werden.

Ich möchte in diesem zweiten Brief einige der Punkte berühren, die Sie in Ihrer Antwort angesprochen haben, und die, direkt oder indirekt, auch von unseren Korrespondenten aufgegriffen wurden, die uns ihre Ideen aus Mexiko Stadt, Oaxaca und Uruguay schicken.

Alle sprechen auf ihrer eigenen Art und Weise, das heißt in ihrem eigenen Kalender und ihrer eigenen Geografie, das Thema der kritischen Reflexion an. Ich bin sicher, dass niemand von uns (Sie, sie, wir) beansprucht, unabsetzbare Wahrheiten festzulegen. Unser Vorsatz ist es Steine, gut, Ideen, in den scheinbar ruhigen Teich der gegenwärtigen theoretischen Arbeit zu werfen.

Der Vergleich mit den Steinen, den ich benutze geht über die Rhetorik von einer zeitweilig durch den Stein aufgestörten Oberfläche hinaus. Es geht darum auf den Grund zu gehen. Sich nicht mit dem Offensichtlichen zu begnügen, sondern den aufgestauten Teich der Ideen mit Unehrerbietigkeit zu überqueren und unten, auf dem Grund anzukommen.

In der gegenwärtigen Epoche ist die kritische Reflexion scheinbar gestaut. Und ich sage scheinbar, wenn man sich daran hält, was in den Druck- und elektronischen Medien als theoretische Reflexion präsentiert wird. Und dabei geht es nicht nur darum dass das Dringende das Wichtige abgedrängt hat, in diesem Fall, der Wahlkampf die Zerstörung des sozialen Gefüges.

Es heißt zum Beispiel, dass das Jahr, das uns betrifft, 2011, ein Wahlkampfjahr ist. Gut, das waren auch alle früheren Jahre. Mehr noch, das einzige Datum, das im Kalender von oben nicht vom Wahlkampf beansprucht wird, ist ... der Wahltag selbst.

Aber man kann schon sehen, dass das Unmittelbare nur schwerlich zwischen dem unterscheiden kann was gestern passiert ist, oder vor 17 Jahren.

Abgesehen von den »ärgerlichen« Unterbrechungen durch die natürlichen und menschlichen Katastrophen (denn die täglichen Verbrechen dieses Krieges sind eine Katastrophe), wenden sich die Theoretiker von oben, oder die Denker des Unmittelbaren immer wieder dem Thema des Wahlkampfes zu ... oder sie vollführen Jongleurkünste um jedes Thema mit dem Wahlkampf in Verbindung zu bringen.

Die Abfalltheorie -- genau wie Junk Food --, ernährt nicht, sie unterhält nur. Und genau darum scheint es zu gehen, wenn wir uns an das halten, was in der großen Mehrheit der Tageszeitungen und Magazine erscheint, so wie in den Gesprächsrunden von »Spezialisten« der elektronischen Medien unseres Landes.

Wenn diese Abfalltheorie-Verkäufer zu anderen Teilen der Welt blicken und zu dem Schluss kommen, dass die Mobilisierungen, die Regierungen zu Fall bringen, das Produkt von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerke sind, und nicht von Organisation, der Fähigkeit zu mobilisieren und der Kraft zum Aufruf, bringen sie dadurch, mehr noch als grobe Ignoranz, den uneingestandenen Wunsch zum Ausdruck, ohne irgendeine Anstrengung ihren Platz in der »GESCHICHTE« einzunehmen. »Twitte, und du kommst in den Himmel« ist ihr modernes Credo.

Und, ebenso wie die »Wunderprodukte«, unterstützen diese Lobhudler des theoretischen und politischen Alzheimers, leichte Lösungen für das gegenwärtige soziale Chaos.

Niemandem fällt auf, dass sie, genau wie in der Werbung dargestellt, bei Verwendung einer derartigen Herrenlotion oder eines Damenparfüm, dann auch augenblicklich in Frankreich, am Fuße des Eiffelturms, oder in den Pubs des London von oben gesichtet werden.

Aber genauso wie es bei den Wunderprodukten, die versprechen das Gewicht zu senken ohne Sport zu treiben oder auf Essen zu verzichten, Menschen gibt die das glauben, gibt es auch solche, die glauben, dass man Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie gewinnen kann, indem man lediglich eine Stimme zugunsten der Fortdauer der Nationalen Aktionspartei (PAN), dem Aufkommen der Demokratischen Revolutionspartei (PRD) oder der Rückkehr der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), abzugeben braucht.

Wenn diese Leute verkünden, dass es nur eine einzige Option gibt, den Weg des Wahlkampfes oder den Weg des bewaffneten Kampfes, beweisen sie damit nicht nur ihren Mangel an Vorstellungskraft und Wissen über die Landes- und Weltgeschichte. Auch, und vor allem, stricken sie damit wieder die Falle, die als Argument für die Intoleranz und die Forderung nach einer faschistischen und rückständigen Einstimmigkeit für die eine oder andere Seite des politischen Spektrums gedient hat.

Eine »brillante« Analyse ist eine, die sich der Dringlichkeit der Definitionen widmet . . . angesichts der Optionen, die jene von oben aufzwingen.

Aber vor den falschen Optionen warnt sehr gut Gustavo Esteva in seinem Text, und ich glaube, dass sich das gut für ein eigenes Gesprächspunkt in diesem Fernaustausch eignen würde.

Anstatt zu versuchen, uns ihre schwächlichen Axiome aufzudrängen, könnten sie sich dafür entscheiden, zu debattieren, zu argumentieren, zu versuchen zu überzeugen. Aber nein. Es handelte und handelt sich darum aufzudrängen.

Ich glaube ehrlich, dass sie nicht ernsthaft daran interessiert sind zu diskutieren. Und nicht nur, weil sie keine gewichtigen Argumente haben (bis jetzt haben sie nur eine Liste guter Absichten und Einfältigkeiten, die an das pathetische grenzen, wo die PAN zeigt, dass der »Fox Modus« kein isolierter Fall ist, sondern eine ganze Schule von Anführern in dieser Partei, während die PRI den Autismus gegenüber der eigenen Geschichte predigt, und die verschiedenfarbige selbsternannte institutionelle Linke versucht, mangels Argumenten durch Wahlsprüche zu überzeugen), sondern weil es nicht darum geht irgendwas im Hintergrund zu ändern.

Es ist fast schon lustig anzusehen, wie sie Kunststücke vollbringen, um die Massen zu entzücken (ja, sie verachten sie, aber sie brauchen sie), und gleichzeitig, ohne rot zu werden, die wirtschaftliche Macht hofieren.

Das, worum es ihnen geht, ist, im engen Zwischenraum der Trümmer des mexikanischen Nationalstaates zu manövrieren, um zu versuchen eine Krise zu exorzieren, die, wenn sie hochgeht, auch mit ihnen aufräumen wird, das heißt mit der politischen Klasse insgesamt. Kurzum: für sie ist es eine Frage des persönlichen Überlebens.

Die Berufung zu Spionen, Informanten und Gendarmen passt gut zu diesem theoretischen Abfall, der die intellektuelle und künstlerische Hysterie anstachelt, zuerst gegen die Studentenbewegung in 1999-2000 und ihrem Generalstreikrat, und dann gegen alles, das nicht die Anweisungen dieser Bande von Gedanken- und Handlungspolizei akzeptiert.

Es handelt sich darum, eine Differenzierung festzulegen, die eher ein Exorzismus ist: da gibt es sie, die wohlerzogenen, das heißt die zivilisierten, und dann gibt es die anderen, die Barbaren.

In ihrem schwächlichen theoretischen Aufbau stehen auf der einen Seite (und oben), die brillanten Persönlichkeiten, weise, gemäßigt und klug; und auf der anderen Seite (und unten), steht diese obskure Masse, unwissend, zügellos und provokativ.

Auf der einen Seite: die klugen und reifen Usurpatoren der Vertretbarkeit der Mehrheiten.

Auf der anderen Seite: die gewalttätigen Minderheiten, die nur sich selbst vertreten.

-*-

Aber nehmen wir an, dass sie daran interessiert wären, zu debattieren und zu überzeugen.

Diskutieren wir zum Beispiel die wahren Konsequenzen des Sechs-Jahre Projekts der PAN, eine bekannte Strophe der mexikanischen Nationalhymne zu ändern und an ihrer Stelle zu setzen: »Bedenke, geliebtes Heimatland, dass Dir der Himmel mit jedem deiner Kinder ein kollaterales Opfer schenkte«, während keine der anderen Parteien eine pünktliche und solide Alternative aufgebracht hat.

Oder die angeblichen Wohltaten der Rückkehr PRI und anschließenden Bestätigung einer ganzen Kultur von Korruption und Verbrechen, die die gesamte politische Klasse Mexikos durchdrungen hat.

Oder die wahren Möglichkeiten des Projektes, das Rad der Geschichte zurück zu drehen und zum Wohltäterstaat zurückzukehren − der Vorschlag der noch schwächlichen Oppositionskoalition.

Alle, davon abgesehen, dass sie die theoretische Reflexion verabscheuen (natürlich zumindest jede, die keine pubertäre Selbstzufriedenheit beinhaltet), nehmen sich etwas Unmögliches vor: die Trümmer des Nationalstaates zu erhalten, zu retten oder zu erneuern, der das Parteiensystem des Staates hervorgebracht hat und verkörpert. Der in der PRI seinen besten Spiegel gefunden hat, und vor dem sich heute die gesamte politische Klasse von oben herauszuputzen bemüht.

Oder haben sie nicht bemerkt, wie weit schon die Grundlagen dieses Staates zerstört worden sind? Wie erhält, rettet oder erneuert man einen Leichnam? Und dennoch, bemühen sich die politische Klasse und die Analytiker, die sie begleiten, seit langem vergeblich, die Ruinen einzubalsamieren.

Aber natürlich ist Unwissenheit nicht verwerflich. Außer natürlich, sie kleidet sich mit Weisheit.

Wir sagen, es ist nicht möglich irgendeine Lösung für die Zerstörung des Nationalstaates anzubieten, ohne das System zu belangen, das für diese Zerstörung verantwortlich ist, und für den Alptraum, den das gesamte Land durchlebt.

Wir sagen, es gibt Lösungen, aber sie können nur von unten entstehen, aus einem radikalen Vorschlag, der nicht darauf wartet von einem Rat der Weisen legitimiert zu werden, sondern der bereits gelebt wird, das heißt in zahlreichen Winkeln unseres Landes gekämpft wird. Und bei dem es sich daher seiner Form, seiner Art und Weise, seinem Kalender und seiner Geografie nach nicht um einen einmütigen Vorschlag handelt. Der also pluralistisch ist, einbeziehend, partizipativ. Das hat nichts mit den Uneinstimmigkeiten zu tun, die die Blauen, Gelben, Roten, Grünen, Rosas und die Komparsen, die sie begleiten, aufzudrängen versuchen.

Aber wir geben zu, dass wir uns irren können. Vielleicht stimmt die Annahme, dass die bereits begangene Zerstörung einen Handlungsspielraum übrig lässt, um von oben her das soziale Gewebe wiederherzustellen.

Aber anstatt eine ernste und tiefgehende Debatte zu ermutigen, verlangt man von uns zu schweigen und dann wiederum werden wird von uns gefordert, unsere Verfolger zu unterstützen, jene zum Beispiel, die mit ihren Worten oder ihrem Schweigen Personen Unterschlupf gewähren wie Juan José Sabines Guerrero, der von der Regierung von Chiapas aus jene verfolgt und unterdrückt, die sich nicht dem Chor der falschen Lobhudelei an seine zur Regierung gewordenen Lügen anschließen, der die Menschenrechtsverteidiger an der Küste und im Hochland von Chiapas verfolgt, und die Indigenas von San Sebastián Bachajón, die sich weigern ihr Land zu prostituieren, der paramilitärische Gruppen zu Handlungen gegen die indigenen zapatistischen Gemeinden ermutigt.

Denn jene, die wirklich wissen, was in Chiapas geschehen und ungeschehen gemacht wird, und sich nicht fürchten, haben das Motto von Sabines geändert und nennen es jetzt: »Untaten, nicht Worte«. Sabines Guerrero ist das beste Beispiel für die verfaulte mexikanische politische Klasse: er hat die Unterstützung der PAN, PRI, PRD und der Bewegung von AMLO; er ist großzügig mit den Medien, damit sie das sagen, was ihm passt und den Mund darüber halten, was ihm nicht passt; er hält den Anschein aufrecht, dass es niemanden kümmert was sein wird, ein Anschein der jeden Augenblick in tausend Scherben platzen könnte; und regiert als ob er ein fleißiger Aufseher auf einer porfiristischen Hacienda wäre.

Und dennoch fordert man uns auf »konstruktive kritische Beiträge zu leisten«, für eine Bewegung, die dazu geleitet und geführt wird, die gleiche Geschichte der Unterdrückung mit anderen Namen zu wiederholen.

Wann werden sie verstehen dass Personen, Gruppen, Kollektive, Organisationen, Bewegungen existieren, die nicht daran interessiert sind zu ändern, was oben ist, oder eine politische Klasse zu erneuern (das heißt, zu recyclen) die nichts weiter ist als ein Parasit?

Wir wollen keinen Austausch von Tyrannen, von Besitzern, von Herren oder Höchsten Rettern, sondern wir wollen keinen haben.

Aber dennoch, wenn wir dem, was da oben passiert für etwas dankbar sein sollten, dann dafür, dass sie wieder einmal die theoretische Armut und die offensichtliche strategische Schwäche derer enthüllt haben, die beabsichtigen und vorschlagen jene von oben zu erhalten, zu ersetzen oder zu recyclen, um die Rebellion derer von unten zu exorzieren.

Ich glaube aufrichtig, dass eine tiefgehende kritische Reflexion versuchen müsste, den Blick von dem hypnotischen Karussell der politischen Klasse zu wenden und andere Wirklichkeiten zu sehen.

Was haben sie zu verlieren? In jedem Fall würden sie mehr Argumente dafür haben, um sich zur »einzigen möglichen Alternative« zu ernennen haben. Schließlich sind die Anderen ja sooo klein, und (uff!) sooo radikal.

Aber vielleicht schaffen sie doch irgendwann zu sehen . . .

Dass die heldenhafte Anstrengung von anarchistischen und libertären Kollektiven, sich der Logik des kapitalistischen Marktes zu entziehen, Wirkung und Ursache eines radikalen Gedankens ist. Und dass die Zukunft ihre Hauptwette auf die radikalen Gedanken setzt. Also täten sie gut daran, diese bunte Art eine eigene Identität zu haben, mit Respekt zu betrachten: die Piercings, Tätowierungen, bunten Haarschöpfe und anderen Ornamente, die sie abstoßen.

Oder den Kampf der sozialen Organisationen der unabhängigen Linken, die sich dafür entscheiden, Fahrer zu organisieren, mini-mikro-nano-Kleinhändler und Anwohner (wie dem auch sei, sind auch hier die Frauen in der Mehrheit), statt Automobilisten, Handelskammern und elitäre Nachbarschaftsvereine, und die über wichtige Änderungen in ihren Lebensbedingungen berichten können. Und zwar nicht durch den Weg von elektoralen Zugeständnissen getarnt als Ämter, sondern durch die Organisation des Kollektivs mit direkten, indirekten und langfristigen Projekten. Deshalb bleiben sie unabhängig und leisten so Widerstand.

Oder den legendäre Widerstand der indigenen Völker. Wenn jemand etwas über Schmerz und Kampf weiß, sind sie es.

Oder die würdige Wut der Mütter und Väter von Ermordeten, Verschwundenen, Gefangenen. Denn sie täten gut daran sich zu erinnern, dass in diesem Land gar nichts passiert . . . bis die Frauen entscheiden, dass es passiert.

Oder die tägliche Entrüstung von ArbeiterInnen, Angestellten, Bauern, Indigenas, Jugendlichen, angesichts des Zynismus der Politiker ungeachtet der Parteifarben.

Oder den hartnäckigen Kampf der ArbeiterInnen der mexikanischen Elektrizitätsgewerkschaft, obwohl sie eine gigantische Medienkampagne, Repression, Gefängnis, Drohungen und Zusetzungen gegen sich haben.

Oder den beharrlichen Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen und das unversehrte Vorzeigen der Verschwundenen.

Oder nicht? Ist die Demokratie, die sie sich wünschen nicht nur eine nach Belieben verabreichte Amnesie? In der man sich aussucht was man sehen möchte und so gewählt wird zu vergessen?


Iii. — Das Individuum gegen das Kollektiv?

In Ihrem Brief, Don Luis, berühren Sie das Thema vom Individuum und vom Kollektiv. Eine alte Diskussion, die von oben aufgestellt und benutzt wird, um ein System zu rechtfertigen, den Kapitalismus, gegenüber den Alternativen, die als Widerstand gegen ihn erwachsen.

Das Kollektiv, wird uns gesagt, löscht die Individualität aus, unterwirft sie. Und dann wird, in einem flachen theoretischen Sprung dazu übergegangen, Lobeshymnen auf das System zu singen, in dem, wie wiederholt gesagt wird, dass alle Individuen sein können, was sie wollen, gut oder schlecht, weil die Garantie der Freiheit existiert.

Ich meine, dass wir dieser Sache mit der "Freiheit" etwas tiefer auf den Grund gehen sollten, aber vielleicht bei einer anderen Gelegenheit, für diesmal wenden wir uns dem Individuum zu . . . oder der Individuen, je nachdem.

Das System singt Lobpreisungen auf das Individuum von oben oder von unten.

Dem von oben, weil die Hervorhebung seiner Individualität, gut oder schlecht, effizient oder defizient, brillant oder obskur, die Notwendigkeit verbirgt, die Gesellschaft auf irgendeine Weise zu organisieren. So kommt es, dass es Individuen gibt, die schlecht regieren . . . oder noch schlechter (Entschuldigung, mir fällt keiner ein, der mich sagen lassen könnte "oder gut"), Individuen der wirtschaftlichen Macht, etcetera.

Wenn das Individuum von oben verdorben ist, dumm, grausam und starrsinnig (ich weiß, das klingt wie eine Beschreibung von Felipe Calderón Hinojosa ), dann muss man dieses schlechte Individuum entfernen und ein gutes Individuum an seine Stelle setzen. Und wenn es keine guten Individuen gibt, dann nimmt man den, der am wenigsten schlecht ist (ich weiß, das klingt als würde ich einen Wahlspruch von vor fünf Jahren wiederholen und recyclen).

Das System, das heißt die Form der sozialen Organisation bleibt intakt. Oder den zulässigen Variationen unterworfen. Das heißt, es können einige Veränderungen vorgenommen werden, aber ohne das Ausschlaggebende zu verändern, das heißt: einige wenige sind oben, viele sind unten, und jene die oben sind, sind dort auf Kosten jener, die unten sind.

Und dem Individuum unten wird applaudiert, und es wird bewundert, weil die individuelle Rebellion nicht fähig ist, eine ernsthafte Gefahr für die der Funktionsweise der Form der sozialen Organisation darzustellen. Oder sie kann lächerlich gemacht und angegriffen werden, weil das Individuum verletzlich ist.

Erlauben Sie mir dann eine rhetorische Willkür: sagen wir, die grundlegenden Bestrebungen aller menschlichen Wesen sind Leben, Freiheit, Wahrheit. Und, dass man vielleicht von einer Aufwertung sprechen kann: besseres Leben, mehr Freiheit, größere Kenntnis.

Ist es möglich, dass das Individuum diese Aspirationen und ihre entsprechenden Aufwertungen in voller Fülle in einem Kollektiv erreichen kann? Wir glauben ja. Jedenfalls sind wir sicher, dass er sie ohne das Kollektiv nicht erreichen kann.

"Wohin, mit wem, wogegen?" Dies, so sagen wir, sind die Fragen deren Antwort den Platz des Individuums und des Kollektivs in einer bestimmten Gesellschaft, einem Kalender und einer Geografie, definiert.

Und nicht nur das. Sie definieren auch die Wichtigkeit der kritischen Reflexion.

Zuvor sagte ich, dass diese kollektiven Reflexionen nicht den Anspruch erheben, zur allgemeinen Wahrheit zu werden, aber sie versuchen sich von der einstimmigen Lüge zu entfernen, die man uns von oben aufzudrängen versucht.

-*-

Und nur ein paar Worte über die Bemühungen, die zur Stunde als die von einsamen Individuen erscheinen.

Jene, die die verschiedenen Initiativen kritisieren, die, obwohl verstreut, aus dem sozialen Schmerz erwachsen, sollten sich daran erinnern, dass jene zu richten und zu verurteilen, die etwas tun, diejenigen freisprechen, die nichts tun.

Denn die Willkür zu beenden, die Verwirrung zu desorganisieren, den Krieg aufzuhalten, sind kollektive Aufgaben.

IV. -- Was folgen wird

Die Welt, wie wir sie kennen wird zerstört werden. Verwirrt und übel zugerichtet werden sie ihren Anhängern nichts antworten können wenn sie fragen »Weshalb«

Zuerst wird es zu spontanen, gewaltsamen und flüchtigen Mobilisierungen kommen. Danach eine Ebbe, die ihnen gestatten wird, ruhig zu atmen (Puh! Alles schon wieder vorbei, mein Guter«). Aber dann werden neue Erhebungen folgen, aber organisiert, weil Kollektive mit Identität sich an ihnen beteiligen werden.

Dann werden sie sehen, dass die Brücken, die sie zerstört hatten, im Glauben sie seien errichtet worden um die Barbaren zu unterstützen, nicht nur unmöglich zu rekonstruieren sein werden, sie werden auch merken, dass diese Brücken dazu da waren, ihnen zu helfen.

Und sie werden ihnen erzählen, dass eine Epoche der Finsternis folgen wird, aber das wird nichts anderes als purer Groll sein, weil das Licht, dass sie zu behalten und zu verwalten beanspruchten, den Kollektiven nichts bedeuten wird, die sich ihr eigenes Licht erschaffen haben, und mit ihm und in ihm schreiten und weiter schreiten werden.

Die Welt wird nicht mehr die gleiche Welt sein. Sie wird nicht einmal besser sein. Aber sie wird eine neue Gelegenheit bieten, zum Ort zu werden, an dem der Frieden mit Arbeit und Würde wiedererrichtet werden kann, und nicht ein kontinuierlicher Marsch gegen den Strom, inmitten eines endlosen Albtraums.

Dann, als Poesie geformt, auf einem Bild von einer niedergerissenen Mauer, werden diese Worte von Bertold Brecht zu lesen sein:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut in der wir untergegangen sind, gedenkt wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid. Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd durch die Kriege der Klassen, verzweifelt wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. Dabei wissen wir doch: auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unserer mit Nachsicht. (*)

Leben Sie wohl Don Luis. Grüße, und auf dass die Unbeweglichkeit nicht von neuem triumphieren möge.

Aus den Bergen des südöstlichen Mexikos.
Subcomandante Insurgente Marcos.
Mexiko, April 2011.

P.S. — Als ich bereits dabei war diesen Brief zu beenden, erreichte der Tod ein weiteres Mal auf seinen unvermuteten Pfaden einen Weggefährten. Felipe Toussaint Loera, ein Christ von der Art, die an die Notwendigkeit der irdischen Gerechtigkeit glauben, ist an einem Abend dieses warmen Aprils von uns gegangen. Über Felipe und andere wie ihn, haben wir in den vergangenen Texten gesprochen. Er gehörte und gehört dieser Generation von Männern und Frauen an, die den Indigenas auch dann zur Seite standen, als sie noch nicht in Mode waren, und auch dann, als sie wieder aufhörten, es zu sein. Ich erinnere mich an ihn von einem Vorbereitungstreffen der Anderen Kampagne in 2005, als er sein Bestreben ratifizierte, seine individuelle Geschichte in die Geschichte eines Kollektivs einzuschreiben, das immer wieder wiedergeboren wurde. Wir grüßen sein Leben, denn darin antwortete Felipe auf die Fragen "wohin, mit wem, wogegen" mit "unten, mit den Eingeborenen, die kämpfen, gegen das System, das sie ausbeutet, sie ausraubt, unterdrückt und verachtet". Alle Tode von unten schmerzen, aber es gibt einige die tiefer schmerzen. Der von Felipe fühlt sich an, als ob uns etwas, das sehr zu uns gehörte, fehlen würde.


Anmerkung zur Übersetzung

[* Bertholt Brecht, "An die Nachgeborenen" (http://www.schmidt-salomon.de/brecht.htm)]

 

Quelle: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2011/04/11/sci-marcos-de-la-reflexion-critica-individus-y-colectivs-carta-segunda-a-luis-villoro-en-el-intercambio-espistolar-sobre-etica-y-politica/


 

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