Jahresbericht 2011 von amnesty international zu Mexiko

amnesty international vom 15.05.2011

 

Amtliche Bezeichnung: Vereinigte Mexikanische Staaten
Staats- und Regierungschef: Felipe Calderón Hinojosa
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 110,6 Mio.
Lebenserwartung: 76,7 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 22/18 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 92,9%

Kriminelle Banden entführten und töteten 2010 Tausende von Menschen. Polizisten und Angehörige der Streitkräfte, die zur Bekämpfung der Banden eingesetzt worden waren, machten sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig. Im Justizsystem und bei den Überwachungsmechanismen gab es weiterhin schwere Mängel, und Straflosigkeit nach Menschenrechtsverletzungen war die Regel. Mehrere Menschenrechtsverteidiger und Journalisten wurden schikaniert, bedroht und ermordet. Das Versprechen, Maßnahmen zum Schutz vor Übergriffen zu treffen und ein geregeltes Verfahren für die Untersuchung derartiger Vorfälle einzuführen, wurde nicht gehalten. Migranten ohne regulären Aufenthaltstatus wurden häufig Opfer von Verschleppung, Vergewaltigung und Mord. Die Massentötung von 72 Migranten offenbarte das Ausmaß derartiger Verbrechen und zeigte, wie systematisch bei ihrer Durchführung vorgegangen wird. Die gesetzlichen Maßnahmen reichten nicht aus, um die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen zu verhindern und die Täter zu bestrafen. Der Oberste Gerichtshof (Suprema Corte de Justicia de la Nación) fällte mehrere Grundsatzurteile in Menschenrechtsfällen. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Mexiko wegen grober Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen des Militärs begangen worden waren. Es gab keine Fortschritte bei der Beendigung der Straflosigkeit für die während Mexikos "schmutzigem Krieg" (1964-82) verübten Menschenrechtsverletzungen. Viele indigene Gemeinschaften hatten weiterhin nur begrenzten Zugang zu Grundversorgungseinrichtungen. Fünf gewaltlose politische Gefangene wurden auf freien Fuß gesetzt.

Hintergrund

Die Medien registrierten mehr als 11000 von Banden verübte Mordfälle, den Großteil davon in den nördlichen Bundesstaaten. Die meisten von ihnen standen in Zusammenhang mit Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen und anderen kriminellen Banden, zu einer unbekannten Anzahl von Tötungen kam es aber auch bei Zusammenstößen von Drogenkartellen und anderen kriminellen Banden mit der Polizei oder Sicherheitskräften. In Ciudad Juárez wurden fast 3000 Menschen ermordet; bei einem Teil der Opfer handelte es sich um Jugendliche, die bei Massentötungen ums Leben kamen. Bei Übergriffen auf Rehabilitierungszentren für Drogenabhängige in mehreren Bundesstaaten kamen zahlreiche Patienten zu Tode. Mehr als 50 Soldaten und 600 Polizeibeamte kamen durch Gewalt von Banden ums Leben. Die Polizei wurde verdächtigt, weitreichende Verbindungen zu kriminellen Banden zu unterhalten. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden Passanten und andere unbeteiligte Bürger getötet, was tausende Menschen zur Flucht veranlasste. Die Gewalt griff auf andere Regionen des Landes über. Nur in wenigen Fällen wurden die für die Morde Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt.

Die US-Regierung stellte im Rahmen der Mérida-Initiative weiterhin Finanzmittel für die Sicherheit und andere Zwecke zur Verfügung. Die Mérida-Initiative ist ein über drei Jahre laufendes regionales Abkommen über Zusammenarbeit und Sicherheit. Das US-Außenministerium empfahl dem US-Kongress jedoch, die Bewilligung der Auszahlung eines kleinen Teils der Finanzmittel zurückzuhalten, da die mexikanische Regierung Auflagen zur Wahrung der Menschenrechte nicht erfüllt habe.

Ende 2010 waren beim mexikanischen Kongress noch immer eine Reihe von Rechtsreformen anhängig. Sie betrafen die verfassungsmäßige Anerkennung internationaler Menschenrechtsabkommen, die Nationale Menschenrechtskommission (Comisión Nacional de Derechos Humanos − CNDH), das Strafrechtssystem, Polizeiaufgaben, die nationale Sicherheit, die Rolle des Militärs beim Gesetzesvollzug sowie die Militärgerichtsbarkeit. Das Büro der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte gab einen Bericht über die Situation der Menschenrechtsverteidiger heraus. Der Oberste Gerichtshof wies Klagen gegen die in Mexiko-Stadt eingeführte gleichgeschlechtliche Ehe sowie die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare ab.

Polizei und Sicherheitskräfte

Militär

Es gab weiterhin Berichte über widerrechtliche Tötungen, das "Verschwindenlassen" von Personen, Folter und willkürliche Festnahmen durch Angehörige des Militärs. Die CNDH erhielt Beschwerden über vom Militär begangene Menschenrechtsverstöße und berichtete im November 2010 über laufende Ermittlungen zu mehr als 100 Beschwerden über widerrechtliche Tötungen durch Militärangehörige in den vorangegangenen 18 Monaten.

Die Militärgerichtsbarkeit beanspruchte in solchen Fällen weiterhin die Zuständigkeit, während die zivilen Justizbehörden die Untersuchung dieser Fälle ablehnten. Es gab im Jahr 2010 nur wenige Informationen über Fortschritte bei strafrechtlichen Verfolgungen durch Militärgerichte, und eine Verurteilung eines aktiven Militärangehörigen wegen Menschenrechtsverletzungen wurde nicht bekannt. Vorschläge der Regierung für eine begrenzte Reformierung der Militärgerichtsbarkeit reichten nicht aus, um zu gewährleisten, dass Menschenrechtsverletzungen künftig aus dem Zuständigkeitsbereich des Militärs ausgeschlossen sind.


Polizeikräfte

Nach wie vor trafen Berichte über willkürliche Inhaftierungen, Folter, exzessive Anwendung von Gewalt und das »Verschwindenlassen« von Personen durch Polizeikräfte des Bundes, der Bundesstaaten und der Kommunen ein. Versuche, das Polizeiwesen zu reformieren, blieben erfolglos, weil es nicht gelang, glaubwürdige Aufsichts- und Kontrollinstanzen und effiziente strafrechtliche Verfahren zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen einzuführen.


Rechte von Migranten

Zehntausende von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus, die auf dem Weg in die USA waren, wurden bei ihrer Reise durch Mexiko von kriminellen Banden verschleppt, vergewaltigt und ermordet. Häufig wurden diese Verbrechen mit dem Wissen, der Komplizenschaft oder dem stillschweigenden Einverständnis der Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalpolizei begangen. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen wurden selten zur Rechenschaft gezogen. Die Ernennung eines Sonderstaatsanwalts im Bundesstaat Chiapas war eine der wenigen erfolgreichen Initiativen, um die gegen Migranten verübten Straftaten zu untersuchen. Die Regierung kündigte eine verbesserte Koordination zwischen bundes- und bundesstaatlichen Institutionen an, um das Problem anzugehen. Die Migrationsgesetzgebung wurde in einigen Punkten reformiert, um es Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus zu ermöglichen, Strafanzeige zu stellen und im Notfall medizinische Versorgung zu erhalten.

Angestellte und freiwillige Helfer in kirchlichen Zufluchtsstätten, die Migranten humanitäre Hilfe leisteten, wurden eingeschüchtert und bedroht.

Recht auf freie Meinungsäußerung - Journalisten

Journalisten und Medienunternehmen waren auch 2010 Drohungen und Angriffen ausgesetzt. Mindestens sechs Journalisten wurden ermordet. Kriminelle Banden nahmen insbesondere Journalisten ins Visier, die über Verbrechen berichteten. In einigen Bundesstaaten unterwarfen sich die Medien einer Selbstzensur und vermieden die Berichterstattung über solche Ereignisse. Die Generalstaatsanwaltschaft bekundete erneut ihre Bereitschaft, Straftaten gegen Journalisten und andere Medienschaffende zu untersuchen, die Mehrzahl der Taten blieb aber unaufgeklärt. Die Regierung beschloss zwar ein Programm zum Schutz von Journalisten, doch bis Jahresende war es noch nicht umgesetzt worden.


Menschenrechtsverteidiger

In vielen Teilen des Landes wurden Menschenrechtsverteidiger angegriffen und schikaniert. Obwohl die Regierung zugesichert hatte, ihre Arbeit zu respektieren und ihre Sicherheit zu garantieren, gaben einige Regierungsbeamte Erklärungen ab, die die Legitimität einiger Menschenrechtsverteidiger in Zweifel zogen. Die offiziellen Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern wurden häufig mangelhaft angewandt. Ein spezielles Schutzprogramm sowie ein neues Verfahren für die Untersuchung von Angriffen gegen Menschenrechtsverteidiger waren Ende 2010 noch nicht umgesetzt worden.


Unfaire Gerichtsverfahren

Das Strafrechtssystem wurde in vielen Punkten den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren nicht gerecht. Es ließ Raum für politisch motivierte Strafverfolgung, anfechtbare Urteile und eine häufige Anwendung der inoffiziellen Untersuchungshaft (arraigo). In einigen Fällen, in denen durch nationale und internationale Aufmerksamkeit Ungerechtigkeiten ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerieten, führten Rechtsmittel des Bundes zu Freilassungen. Diejenigen, die sich des Missbrauchs des Strafrechtssystems schuldig gemacht hatten, wurden jedoch nicht zur Verantwortung gezogen.


Gewalt gegen Frauen und Mädchen - sexuelle und reproduktive Rechte

Gewalt gegen Frauen war nach wie vor weit verbreitet. Im Jahr 2010 wurden Hunderte von Frauen zu Hause und außerhalb ihres Hauses getötet. Gesetzliche Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren zur Verbesserung des Schutzes von Frauen eingeführt worden waren, wurden in der Praxis häufig nicht angewandt bzw. waren nicht dazu geeignet, Frauen zu schützen oder sicherzustellen, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden.

Entgegen entsprechenden Anordnungen des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 unternahm die Regierung weder ausreichende Schritte, um die Folterung und Ermordung von drei Frauen in Ciudad Juárez im Jahr 2001 (»Baumwollfeld-Fall«) zu untersuchen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, noch um die nach wie vor übliche Praxis der Gewaltanwendung gegen Frauen und ihre Diskriminierung in der Stadt zu bekämpfen. Fast 300 Frauen wurden während des Jahres 2010 ermordet. Die Leichen von mindestens 30 Opfern wiesen Verletzungen auf, die darauf hindeuteten, dass sie sexuelle Gewalt und Folter erlitten hatten. Nur wenige Täter wurden zur Verantwortung gezogen. Im Dezember erschoss ein Unbekannter Marisela Escobedo vor dem Gouverneurspalast der Stadt Chihuahua, als sie an einer Demonstration teilnahm, um Gerechtigkeit für die Ermordung ihrer Tochter 2008 in Ciudad Juárez zu fordern.

Beim Obersten Gerichtshof war Ende 2010 noch eine Verfassungsklage anhängig, die die Verfassungsmäßigkeit der in 17 Bundesstaaten eingeführten Verfassungsänderung betraf, mit der das Recht auf Leben vom Augenblick der Befruchtung an garantiert wird. In einem anderen Fall entschied der Oberste Gerichtshof, die Regierungen der Bundesstaaten seien verpflichtet sicherzustellen, dass die Versorgung von Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden waren, im Einklang mit der nationalen Direktive für medizinisches Fachpersonal stehe, wozu auch die »Pille danach« gehöre.

Rechte indigener Völker

Angehörige indigener Gemeinschaften hatten nach wie vor keinen gleichberechtigten Zugang zu Justiz, Gesundheit, Bildung und anderen Rechten und Dienstleistungen. Die Regierungsbehörden versäumten es, die indigenen Gemeinschaften wirksam bei der Verbesserung sowohl des Schutzes ihrer Rechte wie auch des Zugangs zu öffentlichen Dienstleistungen zu unterstützen. Obwohl die Regierung zugesichert hatte, die Müttersterblichkeit zu senken, trug unzureichende medizinische Versorgung weiterhin zu einer überproportional hohen Müttersterblichkeit unter indigenen Frauen in den südlichen Bundesstaaten bei.


Internationale Rechtsprechung

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Mexiko wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in den Fällen von Inés Fernández und Valentina Rosendo sowie Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera. Die beiden indigenen Frauen waren 2002 von Soldaten vergewaltigt und die beiden Umweltaktivisten 1999 von Polizisten des Bundesstaats Guerrero gefoltert, inhaftiert und anschließend wegen falscher strafrechtlicher Anklagen verurteilt worden. Das Gericht forderte Mexiko auf, seine Verantwortung zu akzeptieren, den Frauen Entschädigungen zu zahlen und eine effiziente Ermittlung der Zivilbehörden gegen die Täter zu gewährleisten. Die Regierung Mexikos versprach, die Anordnungen zu befolgen, doch waren zum Jahresende diese sowie zwei weitere Urteile aus dem Jahr 2009 größtenteils noch nicht umgesetzt worden.

Nachdem der UN-Menschenrechtsausschuss die Einhaltung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte durch Mexiko überprüft hatte, übermittelte er der mexikanischen Regierung eine Reihe von Empfehlungen.

Neben den Besuchen des UN-Sonderberichterstatters über das Recht auf Bildung und des UN-Sonderberichterstatters über die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte fand ein gemeinsamer Besuch der Sonderbeauftragten der UN und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) für den Schutz der Meinungsfreiheit statt. Im Mai wurde die Regierung dazu gedrängt, einen Bericht des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter zu veröffentlichen.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten Mexiko im Jahr 2010 dreimal.
Standing up for Justice and Dignity: Human rights defenders in Mexico (AMR 41/032/2009)
Invisible victims - Migrants on the move in Mexico (AMR 41/014/2010)
Memorandum to the Government of Mexico and the Congress of the Union: Reforms to respect and ensure international human rights law and restrict military jurisdiction (AMR41/070/2010)
The invisibles - a film (amnesty.org/en/theinvisibles)

 

Quelle: http://www.amnesty.de/


 

URL der Nachricht:  https://www.chiapas.eu/news.php?id=5919