Die ökologische Bewegung der Armen

Poonal vom 09.12.2012
von Wolf-Dieter Vogel

 

(Berlin, 09. Dezember 2012, npl).- Ein Interview mit den Journalisten und Buchautoren Luis Hernández* über Mexikos neuen Präsidenten, UmweltaktivistInnen und das gute Leben.

Enrique Peña Nieto hat jetzt sein Amt als mexikanischer Präsidenten angetreten. Die ehemalige Staatspartei PRI kommt nach zwölf Jahren Unterbrechung wieder an die Macht. Was bedeutet das für das Land?

Immerhin haben wir durch den Wahlsieg Peña Nietos jetzt, nach dem Carla Bruni weg ist, die schönste First Lady der Welt: Angelica Rivera, eher bekannt als „La Gaviota« - die Möve.

Peña Nieto dürfte die Wahl nicht nur gewonnen haben, weil seine Frau eine berühmte Telenovela-Darstellerin ist. Viele haben den PRI-Politiker gewählt, weil sie hoffen, dass die Partei besser mit der Mafia verhandeln und einen Rückgang der Gewalt erreichen kann. Ist das realistisch?

Die PRI hat angeboten, die alte Ordnung wieder herzustellen. Ich halte das also nicht für ausgeschlossen. Als die PRI noch den Präsidenten stellte, arbeitete sie eng mit den Kartellen zusammen und die illegalen Geschäfte liefen ohne die gewalttätigen Exzesse, die wir jetzt erleben. Das war in der 71-jährigen Amtszeit bis 2000 so und gilt in manchen Regionen bis heute.

Der ehemalige Präsident Felipe Calderón hat mit seiner militärischen Offensive gegen die Mafia das Gleichgewicht zerstört, das bis dato im Guten oder im Schlechten bestand. Calderón hat auf einen Bienenstock geschlagen, und alle Bienen sind wild geworden.

Allerdings macht Peña Nieto nicht den Eindruck, dass er mit dieser Politik brechen will. Auch er setzt auf ein militärisches Vorgehen ...

... und hat den kolumbianischen ehemaligen Polizeichef Oscar Naranjo als Berater unter Vertrag genommen. Naranjo zählt zu den zentralen Figuren im Kampf gegen den Drogenzar Pablo Escobar, er arbeitete eng mit der US-Antidrogenbehörde DEA zusammen. Ich nehme an, Peña Nieto hat seine Entscheidung auf den Rat Washingtons getroffen. Die USA machen Druck, damit er Calderóns Linie weiterverfolgt.

Also doch keine friedlicheren Verhältnisse?

Die Frage ist, ob es überhaupt ein Zurück geben kann, ob die Bedingungen für eine Verständigung mit den Kartellen nicht irreversibel zerstört wurden. Im Zuge des Krieges wurden viele wichtige Kapos getötet. Jene, die nachgekommen sind, zeigen sich wilder als ihre Vorgänger. Sie haben weniger Erfahrung und müssen, um ihre Einflusszonen zu verteidigen, noch mehr Gewalt anwenden. Es ist einfacher, die alte Ordnung wiederherzustellen, wenn man zwei oder drei Ansprechpartner hätte. Heute weiß man aber nicht mehr, mit wem man verhandeln soll.

Parlament und Regierung haben in der letzten Legislaturperiode mehrere Initiativen ins Leben gerufen, um die Lage der Menschenrechte zu verbessern. Was hat das gebracht?

Das vom Parlament abgesegnete Opfergesetz wurde von Calderón boykottiert und musste deshalb überarbeitet werden. Nun steht es zwar erneut auf der Tagesordnung, doch bedeutende Kräfte wie die Friedensbewegung bezweifeln, dass es noch viel bewirken kann. Die Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger und Journalisten können nicht durch Gesetze gestoppt werden. Das Problem ist die Straflosigkeit und der fehlende Willen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein Beispiel aus meinem neuesten Buch: In San Luis Potosí wehren sich seit Jahren Anwohner gegen eine Mine. Sie haben alle juristischen Mittel ausgeschöpft und drei Beschlüsse erkämpft, die einen Abbaustopp verfügten. Trotzdem wird dort weiterhin Gold und Silber gefördert.

Man kennt Sie als großen Kenner des indigenen Zapatismus und Gewerkschaftsexperten. Wie kommt es dazu, dass Sie sich jetzt mit Umweltfragen beschäftigen?

In Mexiko wird derzeit in wilder Form die Umwelt zerstört. Der offene Tagebau spielt dabei eine große Rolle, aber auch immer mehr Wasser ist vergiftet, ganze Wälder werden abgeholzt. Zudem soll der Anbau gentechnologisch veränderten Maises bald legalisiert werden. Schon jetzt ist Mexiko eine große Müllhalde. Das hat zu einem guten Teil mit dem Entwicklungskonzept zu tun, das hinter der Freihandelspolitik steckt.

Wieso?

Die mexikanische Industrie war ab Ende der 1970er Jahre stark von den Maquiladoras, den Weltmarktfabriken im Norden des Landes geprägt. Mexiko bot billige Arbeitskräfte. Mit dem Freihandelsvertrag zwischen den USA, Kanada und Mexiko, der 1994 in Kraft trat, boomte die Region regelrecht. Schon das führte dazu, dass die Umwelt kollabierte: Abwässer wurden hemmungslos in den Rio Bravo geleitet, giftige Gase aus Gießereien verschmutzten die Luft. Doch als dann 2001 China der WTO beitrat und wesentlich günstigere Arbeitskräfte bot, migrierten viele der internationalen Unternehmen in den Osten. Innerhalb von vier Jahren ging die Zahl der Maquiladoras auf die Hälfte zurück. Das veranlasste die Regierung de facto zu einem Moratorium der Umweltauflagen. Sie schloss die Augen, wenn diese Gesetze verletzt wurden, damit die Industrie nicht in den Umweltschutz investieren muss. Das hat schwere Zerstörungen der Natur sowie große gesundheitliche Schäden hervorgerufen. In einigen Regionen sind die Krebserkrankungen zehnmal höher als im bundesweiten Durchschnitt, Kinder werden ohne Gehirn geboren. Auch schwerwiegende Hautprobleme stehen häufig im Zusammenhang mit dem Ausstoß giftiger Abfälle der Industrien, offener Müllhalden oder der Wasserverschmutzung.

Aber offensichtlich regt sich Widerstand?

Die zerstörerische Entwicklung führt zu zahlreichen Protesten. Vor allem arme ländliche und städtische Bevölkerungsschichten wehren sich. Am stärksten leiden indigene Gemeinden, denn sie verfügen ja über den größten natürlichen Reichtum. Da geht es um die Ressourcen, die die Menschen zum Überleben brauchen. Sie sind Umweltschützer geworden, weil sie existenziell bedroht sind. Wahrscheinlich würden sie sich selbst gar nicht so nennen und identifizieren sich nicht mit dem Begriff Umweltschützer. Ich würde von einer ökologischen Bewegung der Armen sprechen.

In Deutschland verbindet man die Umweltbewegung eher mit der Mittelschicht, die Grünen stehen zum Beispiel dafür.

In Mexiko galt die Umweltproblematik lange Zeit als Luxusproblem der Gesellschaften der 1. Welt. Doch nun ist diese ökologische Bewegung von unten entstanden. Die Menschen wehren sich dagegen, dass die Bäume ihrer Wälder gefällt werden, Staudämme die Erde austrocknen oder offener Tagebau Boden und Wasser vergiftet. Zugleich leiden die Aktivisten unter denselben Problemen wie die große Mehrheit der sozialen Bewegungen: Sie werden kriminalisiert und sind schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele wurden ermordet, gewaltsame Repression ist alltäglich.

Wer steckt hinter den Aggressionen?

Für die Angriffe gegen Bergbaugegner sind meist die Minenunternehmen verantwortlich. Zum Beispiel die kanadische Firma Blackfire, die in Chiapas agiert. Dort wurde Mariano Barca ermordet, der sich gegen den giftigen Abbau von Mineralien wehrte. Eines Tages erschienen vor seinem Haus drei Killer und erschossen ihn. Die Ermittlungen ergaben, dass die Attentäter Verbindungen zu Blackfire hatten. Später wurden sie aber einfach eingestellt. Auch in San José de Progreso in Oaxaca wurde ein Wortführer der Bewegung gegen den Bergbau ermordet. Dort stecken die Pistoleros mit dem örtlichen Bürgermeister, dessen Umfeld von der Mine profitiert, und dem Unternehmen unter einer Decke. Andernorts sind illegale Holzfäller für die Angriffe verantwortlich. Häufig sind Polizisten und Behörden beteiligt.

Welche Rolle spielt die Mafia?

Die Drogenkartelle brauchen Territorium, um Marihuana und Mohn zu pflanzen. Zudem müssen sie Kokain transportieren, das aus Kolumbien kommt. Und sie brauchen menschliche Ressourcen, Killer zum Beispiel. In ihrer Strategie der territorialen Kontrolle zählt der Schutz der Umwelt nicht gerade zu ihren größten Sorgen. Häufig sind sie gleich mehrfach in Geschäfte involviert: Im Bundesstaat Michoacán lassen sie illegal Holz fällen und transportieren Drogen. Entsprechend terrorisieren sie die Bevölkerung. Zudem muss die Mafia Geld waschen, ein guter Teil ihres Vermögens geht in große touristische Projekte, durch die unter anderem viele Mangroven zerstört werden.

Zurück zur legalen Wirtschaft: Welche Rolle spielen europäische Firmen?

Die Spanier verhalten sich wie die neuen Kolonisatoren. Sie besetzen viele Räume, die vorher US-Territorium waren. So zum Beispiel das Energieunternehmen Endesa und der Erdölkonzern Repsol, aber auch Baufirmen und Betriebe, die giftige Müllhalden hervorrufen. Andere sind wie Aguas de Barcelona in die Privatisierung von Wasser in urbanen Zonen involviert. Die Menschenrechtsklausel, die im Kooperationsvertrag zwischen der EU und Mexiko festgeschrieben ist, interessiert da niemand.

In Bolivien und Ecuador, wo starke indigene Organisationen das Verhältnis zur Natur auf die politische Agenda gesetzt haben, hat sich eine Debatte über das Konzept des »Buen Vivir« entspannt. Diese Idee eines »erfüllten Lebens« setzt auf ein Leben im Einklang mit der Natur. Gibt es in Mexiko ähnliche Diskussionen?

Man verwendet nicht diesen Begriff, aber diskutiert über das, was sich dahinter verbirgt: Die Harmonie mit der Natur und in den Beziehungen zwischen den Menschen. Damit beschäftigen sich auch bei uns vor allem Indigene. Sie klagen Autonomie und das Recht auf Selbstbestimmung ein, haben eigene Behörden sowie Regierungen und kümmern sich um die Wiederbelebung ihrer Traditionen. In der Gemeinde Cherán kämpfen sie etwa gegen die Abholzung ihrer Bäume. Der Waldschützer ist in indigenen Gemeinden eine wichtige Person.

Das Konzept des Buen Vivir wird aber auch von sozialen Bewegungen reflektiert. Indigene Intellektuelle importieren es aus Südamerika, aber auch die Leitfigur der Friedensbewegung Javier Sicilia, der im Kampf gegen die Gewalt eine sehr wichtige Rolle spielt, ist davon inspiriert. Seine Vision ist dem Konzept des Buen Vivir ähnlich.

* Luis Hernández Navarro, geb. 1955, ist als Redakteur der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada für die Meinungsredaktion verantwortlich. Er ist Mitbegründer unabhängiger Gewerkschaften und beriet u.a. die indigene zapatistische Guerilla EZLN in Verhandlungen mit der Regierung. Er veröffentlichte mehrere Bücher über die Zapatisten, indigene Autonomie und Gewerkschaftskämpfe. Jüngst ist sein Buch »Wer Beton sät, wird Zorn ernten — Mexikos Umweltbewegung von unten« (Unrast-Verlag, Münster, 200 Seiten, 14 Euro, ISBN: 978-3-89771-049-8) in Deutschland erschienen.


Quelle: poonal
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