Kommunique der EZLN: »Sie und Wir« - Teil 6 - Die Blicke 2.

2. Hinsehen und zuhören von/nach unten

Kommunique vom 07.02.2013
SupMarcos
übersetzt von: RedmyCZ, Christine Hoedl

 

Können wir noch wählen, wo wir hinsehen und von welcher Seite aus wir das machen?

Können wir zum Beispiel wählen, zwischen dem Hinsehen zu denen, die im Supermarkt arbeiten, ihnen vorwerfen, dass sie im Wahlbetrug Komplizen waren, und uns über die orange Uniform, die die Angestellten tragen müssen, lustig machen oder die Angestellte ansehen, die, nachdem sie die Kasse übergeben hat.....?

Die Kassiererin nimmt sich die orange Schürze ab, und sie knurrt voller Zorn, weil man behauptet, dass sie die Komplizin für den Wahlbetrug war, der Dummheit und Frivolität an die Macht gebracht hat. Sie, Frau, jung oder erwachsen oder Mutter oder ledig oder geschieden oder Witwe oder alleinerziehende Mutter oder in guter Hoffnung oder ohne Kinder oder was immer, sie die um 7.00 Uhr früh zu arbeiten beginnt und um 4.00 Uhr am Nachmittag aufhört, immer vorausgesetzt natürlich, dass es keine Überstunden zu machen gilt, und ohne die Anfahrtszeiten von und nach Hause zu rechnen und danach in die Schule oder nach Hause, um die ´Arbeiten, die dem weiblichen Geschlecht eigen sind, auszuführen, die man mit einer gewissen Koketterie erledigen kann´, wie sie das in einer Zeitschrift gelesen hat, die an der Kasse aufliegt und die sie durchblättern konnte, als es einmal wenige Kunden gab. Sie, die angeblich gerettet werden soll, es hängt nur von einer Wählerstimme ab und trara, die große Glückseligkeit ist da. ´Binden sich etwa die Eigentümer die orange Schürze um?´ murmelt sie entrüstet. Sie richtet sich ein wenig her, nachdem sie am Morgen absichtlich schlampig daher kommt, damit sie der Geschäftsführer nicht belästigt. Und dann geht sie hinaus. Draußen wartet ihr Freund auf sie. Sie umarmen sich, sie küssen sich, sie berühren sich mit den Blicken und dann gehen sie los. Sie gehen in ein Internet-Café oder Cyber-Café oder wie das immer heißen mag. 10 Pesos kostet die Stunde, 5 Pesos eine halbe Stunde.....

Sie bestellen ´eine halbe Stunde´ und kalkulieren im Kopf die Zeit für die Metro, den Bus, den Fußweg.

´Roco, bitte kannst Du aufschreiben´ , sagt er.

´Ok, aber wenn Du Deinen Lohn kriegst, dann zahlst Du gefälligst Deine Schulden, denn sonst erwischt mich der Besitzer und dann komme ich zu Dir zum aufschreiben´

´Ok Alter, aber das wird dauern, denn ich arbeite jetzt als Autowäscher´.

´Na Alter, wasch Dich halt´, antwortet Roco.

Die drei lachen über den Witz.

´Die 7´, sagt Roco.

´Suchen Sie mal´, sagt sie.

Er gibt eine Nummer ein.

´Nein´, sagt sie, ´suchen Sie, wie alles begann´.

Sie navigieren. Sie kommen etwas über 131 und dann geben sie das Video ein.

´Das sind Schicki-Mickis´, sagt er.

´Immer ruhig, Vorkämpfer der Revolution. Sie sind nicht richtig bei Kopf, wenn Sie die Menschen nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilen. Nur weil ich eine helle Haut habe, nennt man mich Tussi und Schicki-Micki, und man sieht nicht, dass es bei mir nur bis zur Monatsmitte reicht. Man muss jeden einzelnen sehen, seine Geschichte und was er macht, Dummkopf´, sagt sie und begleitet ihre Argumente mit einem leichten Schlag auf seinen Hinterkopf.

Sie schauen das Video weiter an.

Sie schauen, schweigen, hören.

´Die haben es dem Peña Nieto aber direkt hineingesagt ....... die sind mutig, die haben Eier´, sagt er.

´Und Eierstöcke, Dummkopf´, sagt sie und er erhält einen weiteren Schlag auf den Hinterkopf.

´Na na meine Prinzessin, ich werde Sie wegen intrafamiliärer Gewaltanwendung anzeigen´.

´Dummkopf, Anzeige müsste auf Gewalt gegen Andersgeschlechtliche lauten´ und es folgt ein weiterer Schlag.

Das Video ist zu Ende.

Er: ´So beginnen die Dinge. Mit einigen wenigen, die keine Angst haben.´

Sie: ´Oder sie haben Angst, aber sie überwinden diese´.

´Halbe Stunde ist vorüber´ schreit Roco.

´Ja wir gehen schon´.


Sie lächelt beim Hinaus Gehen.

´Und worüber lächeln Sie jetzt?’¨

´Nichts. Nur, ich habe mich daran erinnert, dass Sie sagten´ — und sie drückt sich näher an ihn heran — ´intrafamiliär. Das heißt, Sie möchten, dass wir eine Familie werden?´

Er zögert nicht:

´Ok ok, Prinzessin, damit es für uns nicht zu spät wird, aber ohne so viele Schläge auf den Hinterkopf, besser sind Küsschen und weiter unten und links´.

´He Alter, keine schmutzigen Witze´ − und ein weiterer Schlag. ´Und da ist nichts mit Prinzessin, ok? Sind wir nicht gegen die verfluchte Monarchie?

Er antwortet, bevor noch der obligatorische Schlag kommt: ´Ok, meine geliebte Plebejerin´.

Sie lacht, er auch. Nach einigen Schritten sagt sie:

´Und glauben Sie wirklich, dass die Zapatisten uns einladen werden?¨

´Na klar, der Vins ist mein Kollege, und der Vins sagte, dass er mit dem Sockengesicht dick befreundet ist, weil er ihn einmal bei einem ´mortal kombat´ gewinnen ließ, bei den Glücksspielautomaten, wir brauchen also nur zu sagen, dass wir zum Freundeskreis des Vins gehören und alles klappt´, argumentiert er voller Euphorie.

´Und werde ich meine Mutter mitnehmen dürfen? Sie ist schon alt....´.

´Natürlich, und wenn wir schon von Hexen sprechen, wenn wir Glück haben, bleibt sie im Schlamm stecken, die zukünftige Schwiegermutter´ und er senkt den Kopf und wartet auf den obligatorischen Schlag, den er mit diesem Ausspruch wirklich verdient hat, der kommt aber nicht.

Sie, bereits wütend:

´Und was zum Teufel werden uns die Zapatisten geben, sind sie doch so weit weg? Werden sie dafür sorgen, dass ich ein besseres Gehalt bekomme, werden sie dazu beitragen, dass ich respektiert werde, dass die verfluchten Männer auf der Straße nicht mehr auf meinen Hintern starren und dass mein verdammter Chef aufhört, mich bei jeder Gelegenheit anzugrapschen? Werden sie mir helfen, die Miete zu zahlen, Kleider und Schuhe für meine Kinder zu kaufen? Werden sie die Preise von Zucker, Bohnen, Reis und Öl senken? Werden sie mir zu essen geben? Werden sie sich den Polizeistreifen entgegenstellen, die täglich kommen, um die aus den Vorstadtvierteln, die Raub-CDs verkaufen, zu erpressen und ihnen sagen, wenn sie nicht zahlen, werden sie bei Herrn oder Frau Sony angezeigt....?

´Man sagt nicht ´Raub-CD´, sondern ´CD aus alternativer Produktion´, meine Prinze...Plebejerin. Und schimpfen Sie nicht mit mir, wir sind ja in der gleichen Situation´.

Aber sie hat sich schon in Rage geredet und kann nicht mehr bremsen:

´Und Sie? Werden sie Ihnen Ihre Arbeit zurück geben, in der Fabrik, wo Sie schon Facharbeiter waren oder was weiß ich? Werden sie Ihre Ausbildung anerkennen, die Fortbildungskurse, die Sie gemacht haben, und alles nur dazu, dass das Arschloch von Fabrikeigentümer die Fabrik ich weiß nicht wohin verlegt hat, und die Gewerkschaft, und der Streik, und alles was Sie gemacht haben, nur, um dann als Autowäscher zu enden?! Oder wie Ihr Freund, der Chompis, den sie entlassen haben, und der Eigentümer verschwindet, damit er sich nicht verteidigen kann, und die Regierung, wie immer der gleiche Lügengeschichte, das ist dafür da, um das Service zu verbessern, und die Weltklasse und weiß ich was für ein Scheiß noch. Und haben sie die Tarife gesenkt? Nein, wird immer teurer, und die verdammten Stromausfälle gibt es immer öfter, und der verfluchte Calderon, der wird den Gringos Unterricht in Schamlosigkeit erteilen, die ja selbst Meister in diesem Gegenstand sind. Und mein Vater, Gott hab ihn selig, der auf die andere Seite ging, nicht als Tourist, sondern um den Zaster zu verdienen, um uns durchzubringen, als wir klein waren. Und als er über die Grenze ging, hat ihn die Migrationspolizei fertig gemacht, wie wenn er ein Terrorist wäre und nicht ein ehrlicher Arbeiter, und bis heute haben wir seinen Leichnam nicht bekommen und der verfluchte Obama, der sieht aus als hätte sein Herz die Farbe der Dollars.´

´Na na na, jetzt halten Sie mal an, meine liebe Plebejerin´.

´Jedes Mal wenn ich daran denke, werde ich wütend, man arbeitet wie ein Irrer, nur dafür, dass am Ende die von oben alles behalten. Es fehlt nur noch, dass sie das Lachen privatisieren, obwohl, das glaube ich nicht, denn davon gibt es zu wenig, aber die Tränen, die gibt es in Hülle und Fülle und dann werden sie reich..... noch reicher. Und dann kommen Sie daher mit Ihrem die Zapatisten hin und her, und unten und links und die achte....

´Die Sechste, nicht die achte´ unterbricht er sie.

´Ja ja was immer, diese Typen sind so weit weg und dann sprechen die ein spanisch, schlechter als Sie´.

´Na na, seien Sie mal nicht so ekelhaft zu mir.

Sie trocknet sich die Tränen und murmelt. ¨Scheiß Regen, hat mir schon mein Estee Lauder verwischt, dabei habe ich mich schön gemacht, um Ihnen zu gefallen´.

´Ui, Sie gefallen mir ja noch besser ohne — Kleider.´

Die beiden lachen.

Sie wird wieder ernst und fragt: ´Also, sagen Sie mir jetzt ehrlich, werden uns diese Zapatisten retten’?´

´Nein meine geliebte Plebejerin, sie werden uns nicht retten. Das und Anderes, das müssen wir selber machen.´

´Was heißt das?´

´Sie werden uns lehren´.

´Und was werden sie uns lehren?

´Dass wir nicht allein sind´.

Sie schweigt einen Augenblick. Dann sagt sie:

´Nicht alleine, Frauen und Männer, und ein weiterer Schlag folgt.

Der Autobus ist zum Bersten voll. Sie warten auf den nächsten.

Es ist kalt und es regnet. Sie umarmen sich fester, nicht, um nicht nass zu werden, sondern um gemeinsam nass zu werden.

Weit weg wartet jemand, es gibt immer jemand, der wartet. Und während er wartet, mit einem alten Bleistift und einem alten Heft mit Eselsohren, zählt er das Schauen von Unten zusammen, das er in einem Fenster beobachtet.

(Fortsetzung folgt....)

Von irgendeinem Winkel aus irgendeiner Welt

SupMarcos
Planet Erde


Anm. d. Übers.:

  1. Im mexikanischen Wahlkampf 2012 wurde der Vorwurf laut, die Partei PRI, die anschließend die Wahlen gewann, habe im Bundesstaat Estado de México 1,8 Millionen elektronische Einkaufsgutscheine für die Supermarktkette Soriana (deren Angestellte orangene Uniformen tragen) verteilt, um Wähler_innen-Stimmen zu kaufen — mehr dazu hier:
  2. Dies spielt auf die Bewegung #yosoy132 («Ich bin der/die 132igste”) an, eine vor allem studentisch geprägte Bewegung, die aus Protest gegen den Wahlbetrug, die Manipulationen der Medien das repressive Klima und die fehlende Demokratie in Mexiko entstanden ist.


 

Quelle: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/


 

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