WTO in Cancun: "Politischer Selbstmord" aus Protest gegen die WTO

Poonal vom 10.09.2003
Von Andreas Behn, Poonal 590 vom 16.09.2003

 

(Cancun, 10. September 2003, npl).- Ein tragischer Todesfall überschattete die erste große Demonstration gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO. Augenzeugen zufolge stach sich ein koreanischer Demonstrant, der die Polizeigitter zum Schutz der Hotelzone erklommen hatte, selbst in die Brust. Wenig später starb der 56-jährige im Krankenhaus an einer Lungenverletzung. Seine Mitstreiter sagten, dass es sich um einen "politischen Selbstmord" gehandelt habe.

Um 11 Uhr waren rund zehntausend Demonstranten bei sengender Hitze vom Tagungsort des Bauern- und Indígena-Forums in Richtung Hotelzone aufgebrochen. Zuvor hatte der Veranstalter der Demonstration, der internationale Bauerverband Via Campesina, erklärt, trotz des Verbots in die Hotelzone bis zum zehn Kilometer entfernten Konventionszentrum, dem Tagungsort der WTO, marschieren zu wollen. Doch schon nach einige Hundert Metern, am Kilometer Null des Boulevard Kukulkán, der durch die endlose, mit Luxushotels gespickte Landzunge führt, war kein Duchkommen mehr. Bereits in der Nacht hatte die Polizei an dieser Stelle fast drei Meter hohe Zaunelemente zusammengeschweißt, dahinter waren mehrere Hundertschaften und gepanzerte Wagen postiert.

Erfolglos versuchten zuerst die Organisatoren und später der so genannte ältestenrat der Bauernorganisationen, die Polizei und ihre Vorgesetzen dazu zu bewegen, die Sperre aufzuheben. Danach versuchten mehrere internationale Delegierte der Via Campesina-Organisationen, ihr Vorhaben durchzusetzen: Dem Präsidenten der WTO eine Erklärung des Bauern- und Indígena-Forums zu übergeben, in der sie das Ende der Liberalisierung der Agrarwirtschaft fordern. Auch sie fanden kein Gehör und begannen mit bloßen Händen, die schon zuvor etwas eingedrückten Absperrungsgitter zu durchbrechen, erklärte die Pressesprecherin von UNORCA, Jennifer Lara, gegenüber npl. Sofort prügelte die Polizei auf die vier Via Campesina Delegierten ein, die die Sperre überwinden konnten. Dabei wurden der Präsident des mexikanischen Bauernverbandes UNORCA, Alberto Gomez Flores, und sein baskischer Kollege Paul Nicolson am Kopf verletzt, berichtete Lara weiter.

Daraufhin begannen immer mehr Demonstranten, gegen die Polizei vorzugehen, vor allem junge Vermummte, die mit Steinen und Eisenstangen angriffen. Eingekeilt zwischen der Polizeiprügel und den wütenden Jugendlichen versuchten die Organisatoren der Demonstration, sich zurückzuziehen. Der Absperrungszaun war inzwischen halb eingerissen, auf rund 30 Metern war er niedergetrampelt. Während einige Demonstranten noch über eine Stunde Steine auf die verschanzten Polizisten warfen, die diese meist gleich wieder zurückschleuderten, dirigierten die angeschlagenen Delegierten vom Lautsprecherwagen aus die Mehrheit der Bauern und Indígenas zum anderen Ende des Platzen, um dort die Kundgebung zu beginnen. Laut Polizeiangaben wurden 46 Menschen auf beiden Seiten verletzt, Anwälte sagten, dass keine Festnahmen gemeldet worden seien.

"Es sind Radikalinskis, die aus verschiedenen Städten angereist sind und keine Lust haben, sich an die Abmachungen zu halten", schimpfte ein Student aus Mexiko-Stadt, der nicht ausschloss, dass unter ihnen auch einige Provokateure waren. Zuvor war Konsens unter den Teilnehmern gewesen, dass der Marsch friedlich verlaufen sollte und dass die Anliegen der Landarbeiterorganisationen im Mittelpunkt stehen sollten.

"Wir sind friedlich und kämpfen gegen die WTO, die für die Gewalt verantwortlich ist," so Rafael Alegría, der Präsident von Via Campesina, der den Polizeiprügeln nur knapp entkommen war. Als sich wenig später bestätigte, das der Aktivist aus Südkorea seinen Verletzungen erlegen war, drückte Alegría seine Trauer und Solidarität aus und nannte ihn "ein weiteres Opfer des WTO-Regimes".

Am frühen Abend versammelten sich Hunderte Menschen zu einer Mahnwache vor dem Zentralkrankenhaus von Cancun. Etwa 50 Koreaner saßen mit Kerzen im Kreis und sangen Lieder. Um sie herum standen Aktivisten aus anderen Ländern. "Unser Genosse Lee Kyang Hae hat sich nicht aus persönlichen Motiven umgebracht, sondern um die Welthandelsorganisation zum sofortigen Stopp ihrer Verhandlungen zu bewegen," erklärten Mitglieder der koreanischen Bauernorganisation KCTU, die ebenfalls Mitglied in dem internationalen Dachverband Via Campesina ist. Sein Tod sei "nicht unerwartet" gekommen und sei im Sinne der koreanischen Tradition als Teil des politischen Kampfes zu verstehen.

Rund 200 Aktivisten war es schon am Mittwoch Morgen zu Beginn der offiziellen Eröffnung der Konferenz im hermetisch abgeriegelten Konventionszentrum gelungen, ihren Protest kundzutun. Einige hielten Plakate hoch, andere hatten sich aus Protest gegen den antidemokratischen und ausschließenden Charakter der WTO die Münder mit Klebeband verschlossen. Minutenlang konnten sie die Rede des mexikanischen Außenminister Derbez mit Buhrufen stören, während der größte Teil des Publikums stur nach vorne blickte, als sei nichts geschehen. Als die Gruppe versuchte, zum Rednerpult vorzudringen, auf dem Mexikos Präsident gerade seine Grußworte an die 2.000 anwesenden Delegierten formulierte, wurden die Demonstranten von Sicherheitskräften aufgehalten und aus dem Saal geführt. Durch Akkreditierungen über NGOs war es ihnen gelungen, an der Veranstaltung teilzunehmen.


Quelle: poonal
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