Der neue indigene Aufstand

Poonal vom 16.05.2014
von Luis Hernández Navarro

 

(Mexico-Stadt, 29. April 2014, la jornada).- Die Neuformierung der Xi’iuy-Nation, bei der die zweisprachigen LehrerInnen eine wichtige Rolle gespielt haben, drückt verschiedene und sich ergänzende Aspekte aus: die Verteidigung des kollektiven Charakters ihrer Böden (die Xi’iuy verweigern sich der Parzellierung) und ihres Territoriums, die Rückgewinnung ihrer normativen Systeme, ihrer Institutionen und ihrer Sprache sowie die Organisation von Gemeindewachen.

Die Neuformierung der Xi’iuy-Nation

Tief in der Huasteca-Region im Bundesstaat San Luis Potosí formt sich die Nation der Xi’iuy (der Name bedeutet Indígena) neu. Die auch als Pames bekannten BewohnerInnen sind ein autochthones Volk, das im Verschwinden begriffen schien und sich selbst wieder gefunden hat. Ihre Fahne symbolisiert einen Neuaufbau der eigenen Ordnung. Mit diesem gewinnen sie ihre Geschichte zurück und interpretieren sie neu. Die Streifen der Fahnen bestehen aus drei Farben: rot, schwarz und gelb. Rot, weil die Xi’iuy, als sie im so genannten Chichimeca-Krieg nackt gegen die spanische Invasion kämpften, ihren Körper mit dieser Farbe bemalten. Im Zentrum ist eine Palme dargestellt, darunter ein Pfeil, darüber ein Gewehr. Daneben die abstrakte Darstellung der ersten Mönche.

Die Neuformierung der Xi’iuy-Nation, bei der die zweisprachigen LehrerInnen eine wichtige Rolle gespielt haben, drückt verschiedene und sich ergänzende Aspekte aus: die Verteidigung des kollektiven Charakters ihrer Böden (die Xi’iuy verweigern sich der Parzellierung) und ihres Territoriums, die Rückgewinnung ihrer normativen Systeme, ihrer Institutionen und ihrer Sprache sowie die Organisation von Gemeindewachen.

Ungerechtigkeit und Erniedrigung

Sebastián de la Cruz ist Xi’iuy. Er lebt und arbeitet in der Gemeinde La Nueva Palma. Seit dem 16. Februar ist er Gemeindewächter. Vor einigen Monaten verhaftete ihn die Untersuchungspolizei. Anfangs klagten sie ihn eines nie begangenen Raubes an. Dann erpressten sie ihn. Schließlich hielten sie ihn unschuldig fünf Tage im Gefängnis fest. Eine Ungerechtigkeit und Erniedrigung (Televisa-Nachrichten, 09.04.2014).

Damit sie nicht verhaftet werden, müssen die Indígenas aus La Palma der Polizei Bestechungsgelder zahlen und dafür sogar ihre Arbeitsgeräte verpfänden. Wer sich weigert, wird geschlagen, bedroht und in die Zelle gesperrt. Diese Übergriffe sind eine Konstante, die Gerichtsbarkeit ist inexistent. Obwohl viele Indígenas kein Spanisch sprechen, stehen bei der Staatsanwaltschaft keine DolmetscherInnen zur Verfügung.

»Die Polizei von San Luis Potosí ist infiltriert, sowohl auf Landes- wie auf Gemeindeebene«, erklärt mir im Interview Miguel Ángel Guzmán, Lehrer und Anwalt, der die Indígenas in Rechtsfragen berät. »Sie arbeiten in zwei Schichten. In der einen spielen sie die Guten, in der anderen die Bösen. Sie machen Überfälle. Selbst die kleinen Läden erpressen sie!«

Behörden dementieren Probleme mit kriminellen Banden

Als ob dies noch nicht genug wäre, kommen die Xi’iuy vom Regen in die Traufe. Zu den polizeilichen Übergriffen gesellen sich kriminelle Aktivitäten. Die Lage ist sehr ernst. Seit 2010 werden die Xi’iuy auch von Kriminellen erpresst. Verweigern sie die Zahlungen oder bleiben auf ihrem Land, werden sie ermordet. Die Morde bleiben ungestraft. Die StraftäterInnen werden sich mit den Angestellten der Ermittlungsbehörde ohne große Probleme einig.

»Viele Banden und verbrecherische Gruppen entwickelten sich im Schatten des organisierten Verbrechens«, führt Miguel Ángel aus. »Sie übernahmen nach und nach die Kontrolle der Gemeinden. Bis an die Tore dieser entlegenen Orte sind die Erpressungen und Drohungen gelangt.« Die örtlichen Regierungsbehörden leugnen die Vorkommnisse. Es gäbe weder gegen Mitglieder der Länderpolizei noch gegen kommunale Ordnungskräfte Anzeigen wegen Amtsmissbrauch oder Erpressung, versichern sowohl der regionale Kommandant der Behörde für Öffentliche Sicherheit des Bundesstaates als auch der Gemeindepräsident von Tamasopo, Vicente Segura Ortega.

»Wir sind müde von so vielen Übergriffen.«

Martín Hernández Martínez ist ebenfalls Gemeindewächter von La Nueva Palma. Des eigenen Überdrusses überdrüssig, unterstreicht er: „Wir sind müde von so vielen Übergriffen.« Um sich selbst vor Kriminellen, vor polizeilichen Übergriffen und vor der Vertreibung von ihrem Land zu schützen, vereinbarten etwa 2.000 Familienoberhäupter, ihre gemeindebasierten Wachen zu organisieren.

Die neuen Sicherheitsverantwortlichen sind 100 von der Gemeindeversammlung ernannte Personen, bewaffnet mit Knüppeln und Macheten. Noch vor einem Jahr waren es 30. Einige sind vermummt. Sie wollen auf die Ordnung in ihren Dörfern achten. Sie stellen Wachen auf und melden die Präsenz von Fremden. Sie haben sich ausgebildet, um das Vorgehen bei Verhaftungen zu lernen. „Von Selbstverteidigungsgruppen zu Gemeindewachen« lautet der Titel des Ausbildungsheftes, das sie ausgearbeitet haben. Darin steht: „Die uneigennützigen Leute haben das Recht, Waffen zu tragen und ihre Gemeinde zu verteidigen.«

Dem Kongress von San Luis Potosí haben sie einen Gesetzesentwurf über die Tätigkeit von Gemeindewachen vorgeschlagen. Sie wollen gesetzlich anerkannt werden und auf Garantien der Regierungsbehörden des Bundesstaates zählen können.

Erfahrungen aus Cherán als Vorbild

Für die Xi’iuy ist die Erfahrung im Landkreis Cherán im Bundesstaat Michoacán ein Vorbild. Sowohl hinsichtlich der gemeindeorientierten Justiz als auch des Rückgriffs auf Sitten und Gebräuche. Sie wollen der Polizei den Eintritt in ihre Ortschaften nicht verwehren. Doch um weitere Übergriffe zu verhindern, fordern sie vor Verhaftungen von Ejido-Mitgliedern, dass der jeweilige Fall der Gemeinde unterbreitet wird.

Die BewohnerInnen rechtfertigen die Bildung ihrer eigenen Sicherheitskräfte mit dem Artikel 9 der Verfassung von San Luis Potosí. Die Gemeindewachen, so Miguel Ángel Guzmán, hätten schon lange existiert. Heute gibt es in den indigenen Gemeinden MitarbeiterInnen von HilfsrichterInnen. Sie werden unterschiedlich bezeichnet, erfüllen aber die Wächterfunktion.

Kriminalitätsrate hat abgenommen

Mit der Gründung der Gemeindepolizei hat die Kriminalitätsrate abgenommen. Die staatlichen Polizeikräfte haben ihre Präsenz eingeschränkt und die Armee führt regelmäßige Patrouillen durch. Selbst wenn sie mit gepanzerten Fahrzeugen kommt, tritt sie zurückhaltend auf. Die Offiziere sagen: Dies ist nicht unser Problem, sondern das der Polizisten.

Das Entstehen von Selbstverteidigungsgruppen und Gemeindewachen im Bundesstaat beschränkt sich nicht auf die Landkreise Tamasopo und Rayón. Organisierte Gruppen sind in Ciudad Valles, Tamazunchale (Nahuas) und auch in Tampamolón und Aquismón (Nation der Tenek, dort wurde der Ejido-Vorsitzende zum ersten Kommandanten ernannt) an die Öffentlichkeit getreten.

Neuer indigener Aufstand

Im Februar 2013 kündigte Víctor Ramírez vom Bauernbündnis von Ciudad Valles (Frente Campesino de Ciudad Valles) an, dass das Ejido Adolfo López Mateos die Sicherheitsaufgaben in die eigene Hand nehmen werde. Fremden Personen wird der Zutritt verwehrt, die BewohnerInnen wechseln sich bei den Wachaufgaben ab.

Überdruss, so wie in der Huasteca-Region von San Luis Potosí, ist in vielen indigenen Gemeinden vorhanden. Mehrfach haben Gruppen von BürgerInnen die Sicherheit in die eigenen Hände genommen oder beabsichtigen dies. Zum Teil stillschweigend, zum Teil offiziell verschwiegen, ereignet sich im Land ein neuer indigener Aufstand.


Quelle: poonal
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