Rundbrief von Heike

News vom 05.09.2001
September 2001

 

Liebe FreundInnen

Seit einiger Zeit habe ich begonnen Euch wieder einen Rundbrief zu schreiben. Er wurde nicht fertig, denn immer wieder passierten neue Dinge, neue Erfahrungen und Eindrücke, neue Gedanken... Dann lese ich und denke ist doch alles wieder überholt. Als ich dann von meiner letzten Reise aufs Land zurück ins Büro kam war der Computer kaputt und damit der mehrfach begonnene und geänderte Rundbrief weg. Tut mir leid, deswegen solange nichts von mir gehört.

Und nun komme ich wieder bald nach Deutschland. Ich hoffe viele von Euch direkt zu sehn. Erzählen ist auch leichter als schreiben, Fragen und gemeinsame Reflexion. Diesmal habe ich keine Tourmanagerin und keine Pläne wegen Vortragsreisen. Trotzdem bin ich gerne bereit wieder Vorträge zu halten. Habe auch wieder neue Dias und neue Erfahrungen. Ich werde am 22.9.2001 in Berlin landen und ende des Jahres nach Mexico zurück fliegen. Wenn alles gut geht mit einem ZFD Vertrag über PBI — Dienst in übersee — BMZ, zurück ins Sipaz team.

Ich verlasse Chiapas mit gemischten Gefühlen. Auch wenn es nur für drei Monate ist. Ich freue mich auf Deutschland und viele Leute wieder zu sehn. Aber ich weis auch das die Besuche in den Gemeinden im Norden ohne mich vermutlich nicht, oder nur sehr begrenzt stattfinden werden. Der Norden von Chiapas, besonders das Tiefland von Tila wurde 1996 zu einem der gefährlichsten Gebiete in Chiapas. Im Sinne der Aufstandsbekämpfung gründete die Regierungspartei PRI die Organisation "Desarrollo Paz y Justicia (DPJ)", Entwicklung für Frieden und Gerechtigkeit. Mit Versprechungen und Drohungen wurden Indigenas dazu angestiftet gegen Indigenas zu kämpfen. Viele verloren ihre Tiere in diesem Krieg. Ihre Häuser, ihr Land, ihre Freiheit... einige ihr Leben. Ganz viele verloren ihr Vertrauen in ihre Nachbarn und Verwandten.

Im vorigen Jahr fanden in Mexico Präsidentschaftswahlen und in Chiapas Gouverneurswahlen statt. Ein neuer Präsident, ein neuer Gouverneur... neue Politik ? In gewissem Sinne schon. Neue Strategien und doch die alten Ziele ? Wir können nicht in die Herzen der Politiker schauen. Wir können ihre Worte hören und sehen und erleben was sich ändert und was sich wiederholt. Auch sind es nicht nur die Präsidenten und Gouverneure welche die Politik bestimmen. Chiapas ist weiterhin militarisiert. Aber die Soldaten schauen mich von weitem an und verlangen nicht wie früher meinen Pass. Ich muss meine Existenz nicht mehr rechtfertigen. Paramilitärs, bzw. bewaffnete zivile Gruppen ? Die gibt es weiterhin. Es gab weder Bestrafung noch Entwaffnung. Die neue Regierung von Chiapas hat eine Versöhnungskomission eingerichtet die nun versucht zwischen den durch den Krieg zu Feinden gewordenen Gruppen zu vermitteln und Lösungen zu finden mit denen beide Seiten leben können. Chiapas scheint mir riesig gross. Und es ist nicht dasselbe wenn ich von einem Bezirk und einem anderen spreche. Ich kann nur aus meiner Erfahrung sprechen, einem kleinen Stück Chiapas. Im Tiefland von Tila hat sich viel verändert seit ich vor zweieinhalb Jahren begann dort Gemeinden zu besuchen. Es war ein Risiko über die Stadt Tila ins Tiefland zu reisen. Mehrere Menschen sind auf diesen Wegen verschwunden. Andere wurden von Mitgliedern der Gruppe (DPJ) nur eingeschüchtert, geschlagen oder beklaut. Auch AusländerInnen. Oft bin auch ich den sicherern Umweg über Tabasco gereist. Doch langsam gibt es wieder mehr Reisefreiheit. Der Priester, der jahrelang wegen Morddrohungen seine Gemeinden nicht besuchen konnte beginnt wieder dort Messen zu halten. Die Katecheten beginnen wieder sich in Tila und nicht mehr nur Tabasco zu versammeln. Neue Freiheiten. Aber auch neue Probleme. Wenn am Nachmittag die Camionetas (Kleinlaster) in die Gemeinden zurück fahren dann wird oft Alcohol getrunken und mitgenommen. Viele Konflikte brechen im Alkohol aus. Es gibt auch wieder mehr Geld. Die vorige Regierung verteilte die Sozialhilfen nur an ihre örigen. Die Zapatisten die eigentlich keine Hilfen der Regierung annehmen sind nun gespalten. Jahrelanger Wiederstand macht müde. Wenn die Vorderungen nach Entschädigung (für Verluste durch Krieg) nicht erfüllt werden, dann begnügen sich viele doch lieber mit einem staatlich geförderten Rinderprojekt um damit langsam wieder Kühe zu besitzen. Oder durch einen staatlich geförderten Kredit ein Haus mit Steinfussboden zu erhalten, eine Schule und Lehrer für ihre Kinder. Andere halten das für Verrat. Einige Gemeinden halten zusammen und es ist möglich gleichzeitig Zapatista zu sein, die PRD zu wählen und staatliche Projekte zu beantragen. Andere sind gespalten aber tolerant. "Schliesslich sind wir alle eine Familie...". Und in wieder anderen Gemeinden gibt es nun neue Konflikte.

Vor zwei Jahren sah ich zwei Gegner im Konflikt. Für oder gegen die Regierung. Heute ist das alles viel verworrener. Damals sah ich eine Strategie des Krieges die Menschen gegeneinander aufzuhetzen: "Teile und herrsche". Klar ist aber auch, das die Strategie eines Krieges niedriger Intensität eine Langzeitstrategie ist. Sie wird nicht durch einen Regierungswechsel aufgehoben. Reaktionen der betroffenen Menschen dauern an. Das soziale Gefüge, das Vertrauen ist gestört. Ein Beispiel: Ein Junge wird beschuldigt im Gemeindeladen zu klauen. Er bekommt Angst und läuft davon. Seine Eltern machen eine Anzeige gegen diejenigen die den Jungen beschuldigt haben. Sie glauben er sei entführt. Was hat das mit Krieg zu tun werdet ihr fragen. Auch ich muss immer viel fragen und viele verschiedene Leute befragen um halbwegs zu verstehn. Deutlicher ist das Beispiel der Kirche in einem anderen Ort. DPJ hat die Kirche besetzt. Der Gottesdienst findet seit Jahren im Haus der Katechetin statt. Der Versöhnungskomission der Regierung gelingt es beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Der Führer der DPJ verlangt die Katecheten auszuwechselt werden. Einer seiner früheren Anhänger macht einen Kompromissvorschlag und ist am nächsten Verhandlungstag nicht mehr dabei. Wir erfahren von Drohungen, natürlich ausserhalb der Verhandlungen. Gegen den Führer der DPJ gibt es Anzeigen wegen illegalen Waffenbesitz, Rinderdiebstahl, Anstiftung zu Mord... und mehrere Haftbefehle. Warum wird er nicht verhaftet? Im Oktober werden die Bürgermeister neu gewählt. Es wäre spannend den Wahlprozess zu beobachten, nicht nur am Wahltag. Nicht selten wechseln die Leute ihre politische Partei, manchmal auch ihre Religion. Oportunismus, Geld, persönliche Beziehungen sind wichtiger als Ideologien. Im Tiefland von Tila gab es bisher nur die PRI und die PRD. Seit 1995 wurde die PRD von DPJ bitter verfolgt. Im vorigen Jahr tauchte dann die PAN dort auf, und nun gibt es die PT. Unzufriedene PRI Leute vereinigten sich mit einigen PAN. Ein Konflikt um eine Camioneta und einen Laden führte zu Streit unter Zapatisten und PRD. Einige schlossen sich der neuen PT an und gehen nun gemeinsam mit früheren Feinden in den Wahlkampf.

Wechseln wir den Ort, Chenalho, Hochland von Chiapas. Auch hier hat ein spannender Wahlprozess begonnen. Die Abejas (pazifistische Organisation die 1997 in Acteal Opfer eines von paramilitärs durchgeführten Massakers wurden, 45 Tote) beteiligen sich mit einem Kandidaten für das Bürgermeisteramt. Er hat selbst unter PRI Leuten Unterstützung. Chenalho ist der Bezirk mit den meisten Desplazados, interne Flüchtlinge. Vor wenigen Tagen gelang es 333 Flüchtlingen der Organisation Abejas in ihre Gemeinden zurückzukehren. Ich glaube wir waren mehr als Tausend BegleiterInnen. Einige selber noch Flüchtlinge. Langsam bewegen wir uns durch eine friedlich scheinende Berglandschaft, passieren mehrere Indigena Gemeinden, ein Militärlager. Gemischte Gefühle, Trauer, Unsicherheit, Freude und Hoffnung eines Neuanfangs. Der Bischoff und der Gouverneur begleiten die Karawane. Zivile Friedenscamps werden eingerichtet. Die Leute waren vor ihren eigenen Nachbarn geflüchtet. Indigenas bewaffnet und aufgehetzt durch die Regierungspartei PRI, auch als paramilitärs bezeichnet. Vermutliche Täter des Massakers in Acteal sind im Gefängnis. Doch in den Gemeinden gibt es weiterhin bewaffnete Männer. Ich sehe Familien die am Strassenrand stehn und die Ankunft der Heimkehrenden begrüssen oder nur anschauen. Was geht in ihren Herzen vor ?

Werden diese Menschen zusammen finden ? Nach dem Massaker in Acteal hatten einige Presbiterianer und einige Abejas begonnen gemeinsam zu beten. Doch dann über ihr Leben zu sprechen in einem Krieg wo sie zu Feinden gemacht wurden war ein schwieriger Schritt. Sie baten auch Sipaz um Ideen. Sipaz lud eine Organisation der Friedenskomissare aus Nicaragua ein. Diese waren aus ökumenischer Arbeit entstanden und begannen in Konflikten zwischen Sandinisten und Kontras in ihren Gemeinden zu vermitteln. Die Leute aus Nicaragua trafen sich in San Cristóbal mit Presbiterianos und Abejas. Anschliessend besuchten sie deren Gemeinden. Für mich war es ein Erlebnis vom Flüchtlingslager der Abejas in eine vom Militär besetzte PRI dominierte protestantische Gemeinde zu kommen. Eine grosse presbiterianische Kirche, in der mit Microfon gesprochen wird, daneben ein asphaltiertes Basketballfeld. Elektrisches Licht, fliessend Wasser, Häuser mit Steinfussboden... die Kinder essen bei den Soldaten. Dagegen im Flüchtlingslager der Abejas, Häuser mit Wänden aus Plastikplanen, kein Trinkwasser, nur das Wasser in der Regentonne, Krankheiten... Es gehört kein böses Herz dazu sich für die PRI zu entscheiden. Das Projekt der Friedenskomissare hat begonnen. Ein langsamer Prozess. Im September werden einige von Ihnen nach Nicaragua reisen. Sipaz hat eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Papiere, Finanzsuche, Kontakte. Wir wissen nicht was letztendlich draus wird. Sipaz kann nur Anstösse und Unterstützung geben. Der Prozess des Friedens ist Aufgabe der Leute hier.

Was heisst auch Friedensprozess. Der Aufstand der Zapatisten 1994 machte uns den Krieg bewusst. Ein Frieden, oder besser ein Verhandlungsprozess begann, zwischen Zapatisten und mexicanischer Regierung. Dieser wurde von den Zapatisten abgebrochen, als die Regierung ausgehandelte Abkommen nicht umsetzte und stattdessen systematisch einen Krieg niedriger Intensität gegen Zapatisten und ihre Sympatisanten führte. Unter der neuen Bundesregierung gab es Hoffnungen eines neuen Friedensprozesses. Ich habe euch darüber berichtet. Mit dem wieder veränerten Indigena Gesetz ist diese Hoffnung wieder weiter enfernt. Ich schicke euch demnächst die Analyse von Sipaz dazu. Muss noch übersetzt werden. In diesem Rundbrief sind meine persönlichen Beobachtungen und Einschätzungen. Vielleicht werde ich mit einigen von Euch ja bald direkt sprechen können. Meldet Euch über e-mail.

Liebe Grüsse Heike, Milanomi
 

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