Bolivien: Aymara Rebellion und Demokratische Diktatur

Znet vom 13.10.2003
von Forrest Hylton
übersetzt von: Dana

 

"Wir werden ausrechnen, wie viel ihr uns an Steuerrückzahlungen seit 1532 schuldet! Ihr seid nur Pächter! Wir sind die rechtmäßigen Eigentümer dieses Landes" ... wenn ihr nicht regieren könnt, gebt uns die Macht zurück! ... Lasst uns regieren!" — Oppositionssenator Germán "El Inca" Choquehuanca an den bolivianischen Vizepräsidenten Carlos Meza, 9. Oktober 2003

Während in der politischen Schicht Gerüchte über einen bevorstehenden Ausnahmezustand und/oder eines versuchten Regierungssturzes die Runde machten, zogen die Bürger Boliviens am 10. Oktober, 21 Jahre nach Ende der letzten Militärdiktatur, die Bilanz zwischen Diktatur und Demokratie. Nach dem Massaker vom 12. Oktober in El Alto, einer Aymara Stadt mit 800.000 Einwohner oberhalb von La Paz, das mindestens 25 Tote und 100 Verwundete forderte, kamen Millionen Bolivianer zu dem Schluss, dass Diktatur und Demokratie sich gegenseitig nicht notwendigerweise ausschließen, sondern ergänzen. Die Opposition fordert eine neue Demokratie, in der Form einer Ständigen Versammlung, in der die Mehrheit eine politische/kulturelle Gleichstellung genießt, und das Schicksal ihrer natürlichen Ressourcen — insbesondere des Erdgases — entscheidet. Das Zeitalter der Herrschaft multinationaler Konzerne und des Pseudo-Multikulturalismus der neoliberalen Demokratie, ringt mit dem Tode. Der Ausnahmezustand wurde nur deshalb noch nicht ausgerufen, weil das hohe Militär eine Revolte in den Baracken befürchtet. Die Lage der Polizeistreitkräfte ist genauso unstabil: am Abend des 10. Oktober zum Beispiel, wurden sechs Polizeibeamte festgenommen; man warf ihnen vor eine Rebellion planen zu wollen, unter der Leitung eines ehemaligen Polizisten namens David Vargas, der die Polizeirevolte anführte, die am 12/13 Februar den städtischen Aufstand ausgelöst hatte.

Wieder einmal, dieses Mal ironisch, fasste der bolivianische Präsident Gonzalo Sánchez, die Situation knapp zusammen: eine winzige Minorität versuche das Land zu spalten. Sánchez de Lozada — dessen Befürworter nach Umfragen bei 8% liegen — und sein innerer Kreis, haben sich aufgerichtet, ihre Stimmen verachtungsvoll erhoben, und kriegerische Posturen eingenommen. Die US-Botschaft, die Medien und die oberen Rängen von Militär und Polizei sind die einzigen, die das Regime noch unterstützen. Die Oppositionssektoren bestehen auf den Rücktritt von Sánchez de Lozada und seine drakonischen Minister, Carlos Sánchez Berzain und Yerko Kudoc, sowie eine änderung des Gesetzes zur Regulierung der multinationalen Erdölkonzerne (D.S. 24806),

Am Nachmittag des 10. Oktobers, bei der Bestattungsfeier des 22-jährigen Aymara Ziegellegers Ramiro Vargas, auf der Allee "6 de Marzo" in Ventilla, am Außenrand von El Alto, skandierten die Trauergäste "Jetzt bestimmt! Bürgerkrieg! Jetzt bestimmt! Bürgerkrieg!" Vargas wurde am 9. Oktober von der Polizei erschossen, aus dem einzigen Grund, dass mehr als 500 Bergarbeiter aus Huanuni eingetroffen waren, um sich dem Bürgerstreik in El Alto anzuschließen, dass sich gegen die FTAA und dem Export bolivianischen Erdgases an die US über Chile richtete. Nach der Ermordung von Ramiro Vargas, gaben die Bürgerkomitees von El Alto der Polizei 24 Stunden um ihre Häuser zu verlassen, und riefen sie auf sich dem Aufstand anzuschließen. Andernfalls würden sie der Gerechtigkeit des Volkes zum Opfer fallen. Am 11. Oktober wurde ein Polizist von Einwohner eines Stadtviertels von El Alto gefasst, und sieben Stunden lang gefangengehalten, bevor seine Kollegen ihn befreiten. Andere Polizisten und Polizistinnen tauchten entweder unter, oder blieben zu Hause; niemand wagt es durch die Strassen von El Alto zu patrouillieren. Am Abend des 11. Oktobers war ein Teil von El Alto ohne Strom, infolge eines Angriffes auf Electropaz, eine multinationale Firma, die von den Rebellen am 12/13 Februar anvisiert worden war, und weil Soldaten die Straßenlaternen abgeschossen hatten, um für die Erdgastransporter Platz zu machen, die nach La Paz unterwegs waren. Früher am Tag tötete die Armee zwei Zivilisten — den 27-Jährigen Walter Huanca Choque und den Fünf-Jährigen Alex Mollericona — während einer Operation, um die Transporter nach La Paz zu bringen (das zu der Zeit unter einer schweren Knappheit von Treibstoff und Herdgas zu leiden hatte). Die Operation misslang, und La Paz blieb bis zum 12. Oktober ohne Gas, als, infolge des Massakers im Viertel von Senkata, Gastransporter unter Militärbewachung die Hauptstadt mit 32.000 Liter erreichten (5% des täglichen Bedarfes). Am 13. Oktober wird La Paz ohne Brot oder Fleisch dastehen, da die Bäcker und Fleischer beschlossen haben sich dem Protest gegen den beabsichtigten Export bolivianischen Erdgases anzuschließen; es wird auch ohne öffentliche Transportmittel bleiben, da ein Transportstreik ausgerufen wurde, in Solidarität mit den Bürger und Märtyrer von El Alto.

Trotz der ziellosen Angriffe von Tanks, Flugzeuge, Soldaten, und Hubschrauber, verbleiben mehr als 90% von El Alto, am fünften Tag eines ungebrochenen Zivilstreiks, in der Hand von Bürgervereinigungen, Straßenhändler, Studenten öffentlicher Universitäten, und der Regionalen Arbeiterzentrale (COR), unter der Leitung von Roberto de la Cruz, einem Aymara Militanten der Indigenen Revolutionären Bewegung (MIP), und Anhänger von Felipe Quispe, Anführer der Handelsgewerkschaft der Aymara Landarbeiter (CSUTCB), Quispe und die Handelsgewerkschaft der Aymara Landarbeiter setzen ihren Hungerstreik beim Radiosender San Gabriel in El Alto fort, und die Blockaden gehen im Norden von La Paz ebenfalls weiter; zum ersten Mal ist das aufständische Altiplano — Huarina, Warisata, Acacahi und Sorata — mit der Oberschicht des nationalen Kapitals in dem bedeutendsten Aymara-Aufstand seit 1899 politisch verbunden. Die "Belagerung von La Paz" (el cerco a La Paz), eine Taktik, die seit 1781 nicht mehr effektiv angewendet wurde, ist zu einer greifbaren Möglichkeit geworden, statt einer leeren Phrase radikaler Rhetorik.

Die Medien behaupten, das COR und de la Cruz würden Leute zwingen sich an den Blockaden zu beteiligen, was auf einer gewissen Weise stimmt: in der Aymara Gemeindepolitik ist die Minderheit gezwungen Mehrheitsentscheidungen unter Androhung des Ausschlusses aus der Gemeinde zu akzeptieren. Niemand sollte überrascht sein, dass dieses nicht-liberale Muster in El Alto wiederholt wird, das überwiegend Aymara ist. Der Ausmaß des Zwanges sollte jedoch nicht übertrieben werden: angesichts des Massakers vom 12. Oktober beteiligen sich auch Personen freiwillig, die ursprünglich gegen den Zivilstreik waren.

Obwohl die Achse der Revolte die westliche Hochlandregion umklammert hält, war die subtropische Yungas Region, nordöstlich von La Paz, die Evo Morales und der führenden Oppositionspartei Bewegung für den Sozialismus (MAS) anhängt, in der Woche vom 6.-13. Oktober vollständig blockiert. Hunderte Fahrzeuge und Tausende Personen steckten im Verkehr fest, aber da sich keine Ausländer darunter befanden, fanden in der Yungas Region keine Rettungsmissionen statt — und, bislang auch keine Massaker, wie am 20. September in Warisata, bei dem sechs Aymara Bauern/Arbeiter und ein Polizeibeamter getötet wurden, damit Touristen nach La Paz zurückkehren konnten. Im südlichen Hochland und den Tälern von Sucre und Potosi, waren die Blockaden nicht beständig, sollten sich aber nach dem 13. Oktober intensivieren.

In Yapacaní, Santa Cruz, gab es sporadische Blockaden, aber der östliche Teil des Gebietes befindet sich unter der Kontrolle der Regierung. Das Tiefland von Chapare — Evo Morales’ Festung — sind tagsüber völlig militarisiert, aber in der Nacht sind die Strassen von brennenden Autoreifen und Baumstämme blockiert, und nach dem Treffen von 500 Delegierten der Handelsgewerkschaften der Cocabauern in Cochabamba am 11. Oktober, wurde für den 13. Oktober eine massive Blockade angekündigt, in Koordination mit einem Aufmarsch in Cochabamba, im Gedenken an die Nationalisierung des bolivianischen Erdöls während der Nationalen Revolution von 1952. Die Cocabauern, wie die Bürger von El Alto und den Aymara Hochland-Gemeinden, fordern den Rücktritt von Sánchez de Lozada, die Abschaffung der Gesetze zur Regulierung der multinationalen Ausbeutung der Erdölressourcen, und die Nationalisierung des bolivianischen Erdgases. Zusätzlich fordern die Cocabauern die Einstellung der erzwungenen Vernichtung der Cocafelder.

Es bleibt abzusehen, ob es der Oppositionsbewegungen unter Führung der Hochland Aymara, gelingen wird, Sánchez de Lozada zu stürzen, eine Ständige Versammlung zu implementieren, und ein neues Bolivien zu schmieden, oder ob der rechtsgerichtete Autoritarismus a la Uribe mit der Hilfe der US Botschaft durchgesetzt werden wird. Die Situation entfaltet sich mit einer solchen Geschwindigkeit, dass Voraussagen nur von marginalen Nutzen sind, aber eins ist sicher: die Aymara Arbeiter und Bauern des westlichen Hochlandes; die Cocabauer des östlichen Tieflandes; die Quechua-sprechenden indigenen Bauern der südlichen Hochlandes und Täler; die Arbeiter von La Paz und Cochabamba; kurzum, die Menschen, die den Reichtum von Bolivien produzieren, fordern das Ende von 500 Jahren Plünderung, Ausbeutung und politischer Bevormundung. Sie fordern zu Nutznießer ihrer Arbeit zu werden, die politischen Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen zu treffen, und die Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen auszuüben. Aber nicht für sich selbst: wie die Anführer der Bürgerkomitees in Santa Rosa, El Alto, es am Abend des 12. Oktobers ausdrückte, "Herr Journalist, wir werden nicht wegrücken, bis der Gringo weg ist. Er ist hier in El Alto nicht länger Präsident. Wir regieren hier. Wir werden niemanden erlauben unser Erdgas zu exportieren, und schon gar nicht in die Vereinigten Staaten über Chile. Das Gas gehört uns, und wir wollen es für unsere Kinder und Enkel, damit sie nicht so leben müssen wie wir es tun. Unser Gas ist für ihre Zukunft."

 

Quelle: http://www.zmag.org/weluser.htm


 

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