Die »Bürgeranhörung« von SEGOB:

Neuer Spott für Angehörige von Opfern gewaltsamen Verschwindenlassens

¡Alerta! - Lateinamerika Gruppe Düsseldorf vom 27.07.2015
Stellungnahme der Campaña Contra la Desaparición Forzada

 

27. Juli 2015

Im Rahmen einer vom Staatssekretär für Menschenrechte geleiteten Veranstaltung der Secretaría de Gobernación vom 23. Juli, wurde ein Fragebogen veröffentlicht, der mittlerweile im Internet verfügbar ist und dessen Ziel eine »Anhörung« der Familien, zivilen Organisationen, Experten und Akademiker über wichtige Inhalte des »Gesetzes zur Suche unauffindbarer Personen und der Prävention und Sanktion des Straftatbestandes des gewaltsamen Verschwindenlassens« sein soll. Die Campaña Nacional Contra la Desaparición Forzada nimmt dazu wie folgt Stellung:

  1. 1.- Die Art und Weise, mit welcher der mexikanische Staat seine Gesetzesinitiative mit Familien, Menschenrechtsorganisationen und der Gesellschaft, die konkrete politische Aktionen gegen das Verschwindenlassen und eine unversehrte Rückkehr der Verschwundengelassenen fordern, zu rechtfertigen sucht, zeigt nur das tatsächliche Fehlen politischen Willens, das heißt die fehlende Bereitschaft seitens der Regierung Enrique Peña Nietos die Stimmen und Forderungen sowie Vorschläge der Familien ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören. Bereits seit den 1970er Jahren fordern sie im Angesicht dieser schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit, integrale Reparationen und insbesondere eine Garantie der Nicht-Wiederholung.
  2. 2.- Der Name des besagten Gesetzes (Ley General para la Búsqueda de Personas No Localizadas y la prevención y sanción del delito de la Desaparición Forzada[1]), das im Rahmen der dritten Regierungserklärung des Präsidenten und vor der neuen Legislaturperiode der Abgeordentenkammer vorgestellt werden soll, zeigt die fehlende Bereitschaft des Staates seine direkte Verantwortung im Falle gewaltsamen Verschwindenlassens sowie seine indirekte Verantwortung bei Verschwindenlassen durch Privatpersonen zu übernehmen. Aus diesem Grunde trägt die besagte Initiative den Namen Generelles Gesetz zur Suche unauffindbarer Personen und der Prävention und Sanktionierung des Straftatbestandes des gewaltsamen Verschwindenlassens, anstatt Generelles Gesetz zur Verhinderung, Aufklärung, Sanktion und Reparation des gewaltsamen Verschwindenlassens von Personen und des Verschwindenlassens von Personen durch Privatpersonen. Neben dem Hohn, den das Gesetz für die Gesellschaft, das UN-Komitee gegen das Verschwindenlassen und die Familien bedeutet, handelt dieses den konstitutionellen Reformen des Artikels 73 zuwider, die den Kongress zur Verabschiedung genereller Gesetze im Hinblick auf gewaltsames Verschwindenlassen und andere Formen des illegalen Freiheitsentzuges ermächtigt[2].

    Mit Bezug auf die erwähnten unauffindbaren Personen möchten wir zunächst aufzeigen, dass dieser Fall insofern keine Straftat per se darstellt, als er nicht juristisch als Straftatbestand festgelegt ist. Es handelt sich hierbei eher um eine Form der Umgehung der staatlichen Verantwortung für Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens und Verschwindenlassen durch Privatpersonen. Zudem sind in unserem Land seit Jahren Suchprotokolle für nicht auffindbare oder verirrte Menschen implementiert worden, die in ihrer Mehrheit Nachforschungen in Krankenhäusern, Stellen des Forensisch-Medizinischen Dienstes (SEMEFO) oder Unterbringungen in der Psychiatrie vorsehen, da wie in vielen Fällen unauffindbare Personen einen Unfall erleidet haben könnten oder an einer Krankheit leiden, die es ihm oder ihr unmöglich macht selbstständig die Heimreise anzutreten. Bei Minderjährigen, mehrheitlich Kindern wird in einigen Fällen berichtet, dass diese von den Eltern oder nahen Verwandten getrennt werden, in anderen Fällen sogar durch fremde Personen bei Anwesenheit der Eltern, auch bekannt unter dem Namen robo de infantes [3] , zu dessen Zweck der Amber-Alarm im ganzen Land eingerichtet wurde, um den Verbleib der Kinder klären zu können.
  3. 3.- Unter Rückbezug auf einige Punkte des »Online-Fragebogens« soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieser zu 80% von nicht-auffindbaren Personen spricht, nur die letzten vier Fragen behandeln gewaltsames Verschwindenlassen, wodurch die Prävention, Bestrafung, Nachforschung und Suche von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens und Verschwindenlassen durch Privatpersonen nur unvolkommen Erwähnung finden. Auch hier wird der fehlende politische Wille des Mexikanischen Staates deutlich, dieses schwerwiegende Problem anzuerkennen, als dieser mit allen Mitteln versucht seine Verantwortung zur Nachforschung und der Suche all jener Personen auszuweichen, die durch Einwilligung oder direkte Täterschaft des Staates verschwundengelassen worden sind und unbegrenzte Straflosigkeit für den Staat zementiert.
Es ist wichtig daran zu erinnern, Angehörige von Opfern gewaltsamen Verschwindenlassens seit einigen Jahren ein generelles Gesetz gegen gewaltsames Verschwindenlassen fordern. Ein entsprechendes Gesetz, das Nachforschung, Bestrafung, Prävention und Reparation von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens oder Verschwindenlassens durch Privatpersonen vorsieht, wurde in beiden Kammern 1999 vorgestellt und aufgrund des fehlenden politischen Willens oder der Gleichgültigkeit des mexikanischen Staates nie verabschiedet.

Zu allem vorher Erwähnten: Als Gesellschaft is es unsere Pflicht anzuklagen, dass es der mexikanische Staat ist, der auf systematische Art und Weise gewaltsames Verschwindenlassen begeht.

Infolge der Vorfälle in Iguala, Guerro vom 26. September 2014, als 43 Studenten der Lehramtsschule »Isidro Burgos« durch die lokale Polizei und unter mutmaßlicher Schützenhilfe durch das 27. Bataillon des mexikanischen Heeres verhaftet und schließlich verschwundengelassen worden sind, haben sich diverse internationale Instanzen mit mehr Impetus den nationale Forderungen nach einem generellen Gesetz gegen das Verschwindenlassen angeschlossen.

Der mexikanische Staat hat die historische Chance die ersten Schritte zur Bekämpfung gewaltsamen Verschwindenlassens zu gehen und einen angemessenen juristischen Rahmen zur Prävention und Bestrafung des Straftatbestandes zu schaffen. Trotzdem lassen der Titel des Gesetzes sowie der Inhalt des öffentlich gemachten Fragebogens erahnen, dass der Staat nur Möglichkeiten sucht um vorzuspiegeln, dass das Problem des gewaltsamen Verschwindenlassens angegangen wird, anstatt ihm in seinem exakten Ausmaß zu begegnen.

Unsere Forderung ist die Verabschiedung eines Generellen Gesetzes zur Prävention, Aufklärung, Bestrafung und Reparation von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens oder Verschwindenlassen durch Privatpersonen, das folgende Punkte beinhaltet:
  1. 1. Definition und Festlegung des Straftatbestandes Gewaltsames Verschwindenlassen gemäß Artikel 2 des Internationalen Abkommens.
  2. 2. Definition und Festlegung des Straftatbestandes Verschwindenlassen durch Privatpersonen gemäß Artikel 3 des Internationalen Abkommens.
  3. 3. Das Generelle Gesetz soll explizit benennen, dass es sich um staatliche Akteure handelt, die die Straftat Gewaltsames Verschwindenlassen begehen sowie gleichermaßen verantwortlich sind für Unterlassen bei der Suche, Nachforschung, und Bestrafung der Verantwortlichen sowohl im Falle von gewaltsamen Verschwindenlassen als auch bei Verschwindenlassen durch Privatpersonen.
Damit dieses Gesetz effektiv angewandt wird und Gerechtigkeit für Opfer und ihre Familien garantiert werden kann, muss gleichermaßen das Nationale Strafgesetzbuch (Código Penal Federal) im Hinblick auf gewaltsames Verschwindenlassen reformiert werden, das bisher in Kapitel 3, Titel 10, zweites Buch[4] festgelegt ist und sich nur auf die Bestrafung Staatsbediensteter gemäß Artikel 108 der Verfassung bezieht und damit viele Instanzen, die Teile der staatlichen Struktur darstellen, außer acht lässt wie zum Beispiel im Falle der Bewaffneten Streitkräfte.

Das Generelle Gesetz sollte die Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtshofes gegen den mexikanischen Staat, das heißt hauptsächlich den Fall Rosendo Radilla Pacheco gegen Mexiko, dessen Fall als Präzedenzfall für gewaltsames Verschwindenlassen in Mexiko gilt, berücksichtigen, der bis zum heutigen Tage nicht in seiner Gesamtheit aufgearbeitet worden ist. Diesbezügliche Abschnitte, in Bezug auf Unterlassung bei der sofortigen Suche und der Kriminalisierung von Opfern und Angehörigen, festgelegt im Urteil Campo Algodonero, als auch der Abschnitt über militärische Gerichtsbarkeit, festgelegt im Urteil von Valentina Rosendo Cantú und anderen, müssen vor einem zivilen Gericht und über den gesamten Prozessverlauf ohne Einmischung von Militärangehörigen verhandelt werden.

Solange der mexikanische Staat stur seine gesamte Verantwortung für das Begehen von Straftaten wie dem gewaltsamen Verschwindenlassen und dem Verschwindenlassen durch Privatpersonen NICHT anerkennt, sollten wir als Gesellschaft NICHT für die durch SEGOB vorgeschlagene »Anhörung« bürgen; und zweitens, sollten wir den mexikanischen Staat dazu auffordern ein Generelles Gesetz zu schaffen, das in seiner Gesamtheit den Empfehlungen der Internationalen Instanzen folge leistet und mit der vollen Zufriedenheit aller Familien, Menschenrechtsorganisationen und der gesamten Gesellschaft zählt, um letztendlich die NICHT-WIEDERHOLUNG dieser Menschenrechtsverletzungen, sowie Zugang zu Wahrheit und Gerechtigkeit für die Familien zu garantieren. Drittens, sollten wir KEINE auch nur kleinste Eingeständnisse bei der Verabschiedung eines solchen Gesetzes machen, da der mexikanische Staat auch heute gezeigt hat, dass sein einziges Ziel es ist dem internationalen Druck politisch standzuhalten, und absolut nichts dafür tut, dass diese Handlungen ein Ende finden, deren Anzahl sich in der gegenwärtigen Amtszeit noch vegrößert hat.

Daher rufen wir als Campaña Nacional Contra la Desaparición Forzada alle Familien, nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen sowie die gesamte Bevölkerung dringend dazu auf, gegen die vom Präsidenten bevorzugte Initiative Stellung zu beziehen. Gleichwohl fordern wir den mexikanischen Staat, hauptsächlich beide Kammern, dazu auf die besagte Initiative zu verwerfen, da sie nicht mit internationalen Standards in Einklang zu bringen ist und dem 1. Artikel der Verfassung zuwiderlauft.

Coordinación de la Campaña Nacional Contra la Desaparición Forzada: Comité de
Familiares de Detenidos Desaparecidos »Hasta Encontrarlos”, Comité Cerezo México,
Comité de Solidaridad y Derechos Humanos Monseñor Romero, Albergue Tochan,
Servicio Internacional Cristiano de Solidaridad con los pueblos de América Latina »Oscar
Arnulfo Romero«, Colectivo La ́j ́k-Hormiga, Taller de Desarrollo Comunitario AC y
Comité de Familiares y Amigos de Secuestrados, Desaparecidos y Asesinados en Guerrero

[1] Generelles Gesetz zur Suche unauffindbarer Personen und der Prävention und Sanktionierung des Straftatbestandes des gewaltsamen Verschwindenlassens
[2] Reform des Artikels 73, XXI a) Generelle Gesetze, die mindestens Straftatbestand und Strafmaß hinsichtlich Entführung, gewaltsamen Verschwindenlassen Personen, weitere Formen illegalen Freiheitsentzugs, Misshandlungen, Folter und andere unmenschliche, erniedrigende, sowie elektorale Handlungen. (Publiziert im Diario Oficial de la Federación am 10. Juli 2015).
[3] Kinderraub
[4] Capítulo III Bis del Título , Décimo, Libro Segundo

 

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