Bundesstaatsanwalt: UNAM ist Brutkasten der Guerilla
Poonal vom 06.09.2001 | |
Von Thomas Guthmann |
(Mexiko-Stadt, 6. September 2001, Poonal). — Es herrscht reges Treiben in der Cafeteria der Fakultät für Architektur an der Autonomen Nationalen Mexikanischen Universität — UNAM. Es ist Mittagszeit und auch die Studierenden der grössten Uni Lateinamerikas wollen essen. Mir gegenüber sitzt Mónica, Philosophiestudentin. Die Frage, was sie von den Anschlägen der Revolutionären Volksstreitkräfte — kurz FARP genannt — hält, beantwortet sie mit einem Lächeln. Das seien keine richtigen Sprengsätze gewesen, sondern Knallfrösche, meint sie.
Einige Tage zuvor, am 8. August waren in drei Filialen der mexikanischen Bank Banamex Sprengsätze explodiert. Diese richteten tatsächlich nur geringen Sachschaden an. Menschen kamen nicht zu schaden. Zu der Aktion bekannte sich eine kleine Guerrillagruppe, die FARP, die erstmalig am 8. Mai vergangenen Jahres in Erscheinung trat. In einer Erklärung zu der Aktion bekundete die Volksstreiter, dass die Schonfrist für den seit Dezember letzten Jahres amtierenden Fox vorbei sei.
Nach 71-jähriger Einparteienherrschaft durch die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) hatte im neuen Jahrtausend ein Machtwechsel stattgefunden. Erstmals erlangte ein Kandidat der rechtskonservativen PAN, Vincente Fox, das Amt des Präsidenten. Er war mit den Versprechungen angetreten, demokratische Reformen durchzuführen und die sozialen Konflikte, wie beispielsweise den in Chiapas, zu lösen. Dass er diese Versprechen auch umsetzen will, wird von verschiedenen linken Gruppierungen bezweifelt.
In einer öffentlichen Erklärung kritisieren die FARP, dass Fox lediglich den neoliberalen Kurs seiner Vorgänger fortführen würde und von Reformen keine Spur sei. Der Verkauf der Banamex-Bank an den multinationalen Bankriesen Citigroup machte Banamex zu einem Ziel der FARP, die mit ihren Anschlägen auf die Bankfilialen Zeichen gegen die Tendenz der neoliberale Politik setzen. Die Entäusserung der Bank an an den Multikonzern wurde in vielen Medien als Ausverkauf Mexikos kritisiert. Die FARP sieht in dem Verkauf der Bank Banamex einen kriminellen Akt. In dem Kommuniqué zu den Bombenexplosionen wird auch das Indígena-Gesetz das die Regierung im Schnellverfahren durchgepeitscht hat, kritisiert. Das Indígena-Gesetz, dass am 14. August veröffentlicht wurde, wird von den Vertretern der Indígenas für eine "Totgeburt" gehalten.
Nach Einschätzung von Experten gibt es derzeit in Mexiko etwa bis zu 17 militante Gruppierungen, die sich dem bewaffneten Kampf widmen. Die hohe Zahl ist teilweise Resultat von Spaltungen. So gelten die Revolutionären Volksstreitkräfte als eine Abspaltung der Revolutionären Volksarmee (EPR). Anlässlich des Marsches der Zapatisten Anfang des Jahres nach Mexiko- Stadt erklärte ein FARP-Oberstleutnant José Luis, dass die Guerillaorganisation bereit wäre, in mehreren Bundesstaaten Mexikos, darunter auch dem Distrito Federal — der Verwaltungseinheit von Mexiko- Stadt — zu operieren. Zugleich plädierte der Oberleutnant für die Koordination der verschiedenen bewaffneten Gruppen. Jüngst kündigte die EPR in einer Mitteilung an die Presse an, ihre Aktivitäten verstärken zu wollen.
Einzuschätzen, welche politische und militärische Stärke bewaffnete Gruppen in Mexiko entwickeln können, bleibt nach wie vor, auch für die Regierung, ein schwieriges Unterfangen. Auf Seiten der Behörden führten die Anschläge der FARP zu einigen Aktivitäten. Bereits am Tag nach Anschlägen berief Fox sein Sicherheitskabinett ein. Zudem wurden 7.000 Polizisten für eine Fahndung nach den Tätern eingesetzt. Bei einer Hausdurchsuchung wurden schliesslich am 14. August im Süden von Mexiko-Stadt nach Angaben der Fahnder 171.000 Dollar Bargeld, das aus Entführungsaktionen entstammen soll, sowie Waffen und Propaganda-Material der EPR gefunden. Bei der Polizeiaktion wurden fünf junge Leute, darunter drei Brüder, festgenommen.
Den Gefangenen werden neben den Anschlägen auf die Banamex Filialen auch Mitgliedschaft in der EPR vorgeworfen. Nach Logik der ermittelnden Bundesstaatsanwaltschaft existieren die FARP nämlich nicht. Unter anderem Label, so die Behörde, sollen die Guerilleros der EPR Anschläge ausführen um der Öffentlichkeit zu suggerieren, es existierten viele bewaffnete Oppositionsgruppen. Die EPR dementiert diese Darstellung. Die drei Brüder seien zwar Kinder von EPR-Militanten, aber ihre Verhaftung komme einer Geiselnahme gleich. Denn die Kinder hätten nichts mit der EPR zu tun. Die Unterstellung, die EPR würde unter anderen Namen operieren, sei eine Fortführung der Aufstandsbekämpfung, des "schmutzigen Kriegs" der siebziger Jahre, als das Verschwindenlassen von Personen Alltag im Lande war.
Nach den Festnahmen verdichteten sich die Anzeichen, dass die fünf Guerilleros in der Haft gefoltert wurden. Nach Angaben von Familienangehörigen weisst Héctor Cerezo Contreras Verletzungen im Gesicht und am Hals auf, die von einer Plastiktüte stammen. Die Tüte wurde ihm bei seiner Verhaftung über den Kopf gestülpt. Selbst die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) spricht im Zusammenhang mit der Festnahme von "schlechter Behandlung".
Den Festnahmen folgte eine Reihe bemerkenswerter Statements der Verfolgungsbehörden. Zu diesen zählt die Behauptung, die Nationale Autonome Universität Mexikos, die UNAM, sei ein Brutkasten der Guerilla. Die Behauptung fusst auf der Tatsache, dass zwei der Verhafteten in der Fakultät für Ökonomie eingeschrieben sind. Zwar stellte sich der leitende Staatsanwalt Rafael Maceda de la Concha einige Tage später in anderem Licht dar und behauptete, auf der Seite der Universität und der Freiheit der Lehre zu stehen. Doch der Sturm der Entrüstung, der intellektuellen Kreisen losbrach, war nicht mehr zu stoppen.
Die Sensibilität in der Bevölkerung hat ihren Grund: Auf die Brutkasten- Aussage wird von vielen in Erinnerung an die brutale Beendigung des grossen UNAM-Streiks durch Militärpolizei empfindlich reagiert. Auslöser des Streiks, der knapp ein Jahr dauerte, war die geplante Einführung von Studiengebühren. Mit dem Streik konnte die Einführung dieser Gebühr verhindert werden — aber allem, was die UNAM nun von staatlicher Seite in Misskredit zu bringen versucht, wird postwendend etwas engegengesetzt.
Zahlreiche namhafte Intellektuelle verurteilten die Aussage von Staatsanwalt de la Concha als verbalen Angriff gegen die UNAM. Darunter auch der mexikanische Botschafter in Kuba, Ricardo Poscoe, sowie der Schriftsteller Carlos Monsiváis. Monsiváis sagte, dass es bei der Kampagne darum ginge, die UNAM zu diskreditieren.
Nach Ansicht von Alfredo López Austin, erimitierter Philosophieprofessor der UNAM, waren öffentliche Universitäten schon immer Ziel von Angriffen der staatlichen Seite. Das liege, so López Austin, daran, dass Universitäten der Transparenz verpflichtet sind, während undemokratische Regierungen sich gegenüber der Öffentlichkeit nicht transparent zeigten. In diesem Zusammenhang könnte der Vorwurf des Generalstaatsanwalt Mexikos bedeuten, dass sich der Kurs der Regierung, nach dem der Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft schon längere Zeit stagniert, ändert. Nach dem "Schmusekurs" setze die Regierung jetzt wieder, so zumindest der Anschein, auf verstärkt autoritäre Politik.
Am 30. August wurde an der mexikanischen Börse in Mexiko-Stadt ein weiterer Sprengsatz entdeckt. Die Polizei konnte ihn Entschärfen. Zur Anbringung bekannte sich eine weitere Rebellentruppe, die Villistisch Revolutionäre Volksarmee (EVPR). In einem Schreiben heisst es, dass die Börse als Symbol eines weltweiten Kapitalismus gesehen werde und somit Ursache der Armut vieler Millionen Menschen sei. In einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung als arm gilt, stossen solche Aktionen auf Verständnis. So schreibt Carlos Ramirez in einem Kommentar in einer mexikanischen Tageszeitung: "Die Guerrilla steht nicht am Anfang der Gewalt. Die Aktionen der FARP stehen am Ende eine langen Kette von Gewalt. Am Anfang steht die strukturelle Gewalt des Analphabetismus, der Unterernährung und der Arbeitslosigkeit."
Quelle: poonal
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