Ya basta − Selbstverstaendnis

News vom 30.04.2004

 

Einladung zur Rebellion

Am 1.1.1994 begann der Aufstand der Zapatistischen Armee der nationalen Befreiung (EZLN) in Chiapas, Mexiko, Planet Erde, als gleichzeitig das Land dem sogenannten Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) beigetreten wurde. Der Aufstand der Zapatistas richtet sich vor allem gegen die Ausbeutung, den Rassismus und die Marginalisierung der indigenen und ländlichen Bevölkerung. Nach einer 14-tägigen militärischen Auseinandersetzung mit der Bundesarmee folgte eine lange Phase der Verhandlungen, die ohne befriedigendes Ergebnis blieb. Die Zapatistas verstärkten ihre Selbstorganisierung. Sie besetzten Großgrundbesitz, bauten eigene Schulen und ein Krankenhaus, politische und kulturelle Zentren und entwickelten eigene, basisdemokratische Verwaltungsstrukturen. Heute verwirklichen autonome Gemeinden, Landkreise und die "Räte der guten Regierung" eine weitgehende Autonomie. Die Antwort der mexikanische Regierung ist ihr schmutziger "Krieg niederer Intensität", der in Massakern an der Zivilbevölkerung gipfelt.

1996 lud die EZLN alle Widerständigen dieser Welt zum Ersten Intergalaktischen Treffen in den lakandonischen Urwald ein, um sich gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit zu vernetzen. Zur Vorbereitung dieses Treffens fand im Juni 1996 ein europäisches Treffen in Berlin statt. Aus der Vor- und Nachbereitung dieser beiden Treffen entstand in uns der Wunsch nach einer dauerhaften Zusammenarbeit. Langsam und beständig wuchs ein Netzwerk von politischen Gruppen und einzelnen Menschen, das sich ständig neu erfindet, lernt und lacht, Solidarität organisiert und Widerstand leistet.

2004, im elften Jahr des zapatistischen Aufstandes, treten wir mit einem neuen Selbstbewusstsein an die Öffentlichkeit, weil wir glauben, dass unsere politischen Ideen einen möglichen Weg in die Zukunft aufzeigen können. Diese Ideen wollen wir zur Diskussion stellen und gemeinsam, mit möglichst vielen Menschen, weiterentwickeln. Unser "fliegendes" Selbstverständnis markiert nur einen Punkt auf unserem Weg. Wir beschreiben heute unsere Gedanken, damit ihr sie lesen und wir voneinander lernen können.

Das Ya basta-Netz

"Gegen die Internationale des Schreckens, die der Neoliberalismus darstellt, müssen wir die Internationale der Hoffnung aufstellen. Die Einheit, jenseits der Grenzen, Sprachen, Hautfarben, Kulturen, Geschlechter, Strategien und Gedanken, all derer, denen eine lebende Menschheit lieber ist." (Aus der ersten Erklärung von La Realidad des CCRI der EZLN, 1996)

Das Ya basta-Netz ist ein Netz von Menschen, von denen viele durch den Aufstand der Zapatistas zur Rebellion ermutigt wurden oder sich darin bestärkt sehen und die in Solidarität mit den aufständischen Menschen in Chiapas leben. Es ist ein lernendes Netz, in dem die verschiedenen emanzipatorischen Kämpfe und Widerstandsformen nebeneinander bestehen können und aufeinander (kritisch) Bezug nehmen, ohne sich auszuschließen. Wir bilden ein Netz, in dem die Menschen sich gegenseitig in ihren lokalen Kämpfen unterstützen. Ein Netz, das viele Menschen ermutigen will sich zu engagieren. Wir führen nicht nur notwendige Verteidigungskämpfe, sondern nehmen uns auch die Zeit, klare Konzepte für Wege in eine andere Welt zu entwickeln. Ein Netz, das junge und ältere Menschen "einfängt" und auch auffängt, weil es uns das Gefühl gibt nicht alleine zu kämpfen. Ein Netz in dem Erfahrungen weitergegeben, und Mut gemacht wird. Dabei suchen wir nach Informations- und Aktionsformen, die auch über die linke Szene hinaus nachvollzogen werden können. Wir treffen Absprachen, knüpfen Kontakte und teilen uns die Arbeit bei der Organisierung direkter Solidarität. Wir haben keine Lust auf eine avantgardistische elitäre Linke, die vom Schreibtisch aus "klug" die Tagesereignisse kommentiert und abqualifiziert, aber im Alltag nicht bereit ist, am eigenen Umgang mit den Mitmenschen zu arbeiten, Widerstand gegen die herrschenden Zustände zu leisten oder den eigenen Konsum zu reflektieren.

Und außerdem:"Hay que reirse mucho para cambiar el mundo" (in etwa: es muß viel gelacht werden, um die Welt zu verändern).

Ya basta — es reicht!

Es heißt Ya basta-Netz, weil das "Ya basta" unseren gemeinsamen Ausgangspunkt markiert. Den Schrei, mit dem wir den Herrschenden dieser Welt verkünden: "nein, nein, wir woll’n nicht eure Welt, wir woll’n nicht eure Macht und wir woll’n nicht euer Geld. Wir wollen nichts von eurem ganzen Schwindel hör’n, wir wollen euren Schwindel zerstör’n" (Quetschenpaua).

Politik "Es ist nicht notwendig, die Welt zu erobern. Es reicht, sie neu zu schaffen. Durch uns. Heute." (Subcomandante Marcos)

Die Gesellschaft zu verändern, bedeutet unsere eigene Alltagspraxis zu verändern. Wir richten unseren Widerstand gegen alle, die die Welt, ob sie nun die ganze oder ihre eigene kleine Welt, das Land, die Firma, die Familie, die Gruppe meinen, lieber zu ihrer ausschließlich eigenen Zufriedenheit ordnen und damit die Erfüllung von Träumen und Hoffnungen der anderen verhindern. Unsere Politik ist eine langfristige Prozedur, sie ist oft widersprüchlich und schreitet langsam voran. Doch eben darin liegt die Chance für ihr Gelingen. Wir begreifen Politik als einen Prozess, in dem alle Menschen ihre eigenen Angelegenheiten gemeinsam und eigenverantwortlich in die Hand nehmen unter Respektierung ihrer Unterschiedlichkeiten. Die dauerhafte Repräsentation der eigenen Interessen durch andere Menschen oder Institutionen lehnen wir ab, da sie nachweisbar nicht zum Wohle aller Menschen beiträgt. Wir kämpfen für eine Welt, in der alle Menschen frei und selbstbestimmt leben können. Wir sind davon überzeugt, dass emanzipatorische Veränderungen nur durch eine Bewegung von unten machbar sind, und dass staatliche Politik letztendlich nichts an den Herrschaftsverhältnissen ändert

Preguntando caminamos — fragend gehen wir voran!

Wir stellen viele Dinge fest, die uns ungerecht vorkommen und uns wütend machen. Die Dinge, die uns losgehen lassen, sind die, die unser Herz berühren, nicht nur den Kopf. Was uns wütend macht, versuchen wir zu beschreiben. Dabei bleibt so vieles offen, weil wir die ganze Komplexität dieser Welt nicht in Worte fassen können. Dennoch wollen wir nicht warten, bis wir alles verstanden haben. Wir gehen los. Mit unseren vielen Fragen. Während wir gehen, werden wir die ein oder andere Antwort finden und noch mehr Fragen. Die Antworten finden wir nur, weil wir gehen.

Fragend gehen, das bedeutet: unsere Fragen zu formulieren, ohne Angst, dass andere sie für dumm halten. Es bedeutet Fehler machen zu dürfen. Es bedeutet, die Fragen der anderen ernst zu nehmen, wie die eigenen, so absurd sie auch erscheinen. Es bedeutet aber auch, unsere Antworten selbstbewusst vorzutragen, weil sie einen Punkt unseres Weges markieren, sie aber auch als das zu begreifen, als Beitrag zu einer gemeinsamen Suche nach Antworten. Todo para todos — nada para nosotros

Für alle alles, für uns nichts. Das sagen die Zapatistas. Das meint, dass wir nur ein kleiner Teil von allen sind und für uns keine besondere Stellung in Anspruch nehmen. Dass wir die Macht nicht wollen, um unsere Träume zu leben, weil unser Traum von Freiheit erzählt. Wir kämpfen nicht um die Macht, nicht als Netz, nicht als Gruppe, nicht als Menschen. Wir wollen gleichberechtigt mit allen anderen leben und uns unsere Träume erfüllen. Alle Menschen sollen die Möglichkeit zu einem würdevollen Leben haben und Zugang zu allen lebensnotwendigen Güter, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrem Alter oder ihrem Geldbeutel.

Für eine Welt der vielen Welten

Wir haben eine Vorstellung von der Welt in der wir leben möchten. So eine Vorstellung existiert in jeder von uns und doch gibt es darin viele Unterschiede. Was dem einen wichtig erscheint, ist für die andere nur eine Randnotiz. Schon in einer kleinen Gruppe finden wir die verschiedensten Träume und wenn wir darüber hinaus sehen, wird ihre Anzahl unendlich groß. So unterschiedlich wie die Lebensbedingungen unter denen die Menschen auf unserer Welt leben müssen, sind auch ihre Hoffnungen. Die Welt von der wir träumen, ist eine Welt in der alle diese unterschiedlichen Vorstellungen einen Platz finden. Eine Welt der vielen Welten. Diese Welt besteht aus einer Vielzahl kleiner oder größerer Gemeinschaften von Menschen, die einen gemeinsamen Weg und eine gemeinsame Perspektive entwickeln. Wie diese Gemeinschaft gestaltet wird, entscheiden ausschließlich die Menschen, die sich daran beteiligen. Eine grundlegende Bedingung, die dabei zu erfüllen wäre, ist, dass keine dieser Gemeinschaften auf Kosten einer anderen lebt und dass alle Menschen frei wählen können, in welcher Gemeinschaft sie leben möchten. Alle Gemeinschaften, entscheiden ohne Zwang ob und wie sie sich vernetzen möchten, um übergreifende Dinge zu regeln.

Diese Welt kann nicht erobert werden, wir müssen sie neu erschaffen. Und damit können wir schon heute beginnen. Wir organisieren unser Leben so, dass es einen Beitrag auf dem Weg zu dieser Welt leistet und setzen ihre Prinzipien, Autonomie, Würde und Solidarität schon heute in die Tat um. Und wir laden alle Menschen ein, sich mit uns auf den Weg zu machen.

Hoffnung

Die zapatistische Rebellion ist eine Hoffnungsträgerin für unzählige Menschen auf der ganzen Welt. Denn die Zapatistas zeigen tagtäglich, dass Widerstand gegen die als Naturgesetz proklamierte "neoliberale Welt(unter)ordnung" möglich ist. Dass eine Politik jenseits von Parteien und Lobbyverbänden machbar ist; eine Politik, die nicht anhand eines ideologisch festgeschriebenen Programms die Machteroberung zum Ziel hat. Diese Hoffnung ist Rebellion und Prinzip. Wir sind entschlossen, sie uns niemals und von keinem nehmen zu lassen. Das besondere an den Zapatistas ist, dass sie nicht nur von einer anderen Welt träumen, sondern sie tatsächlich erschaffen. Dabei ist uns klar, dass die Zapatistas — wie wir auch — nicht immer ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Mit ihrem Widerstand demonstrieren sie den Herrschenden auf der ganzen Welt, dass der Siegeszug der kapitalistischen Globalisierung aufgehalten werden kann und machen uns unglaublich viel Mut, dem Schweinesystem auch unser "ya basta" entgegenzuschleudern.

Solidarität

Solidarität bedeutet für uns, einen gemeinsamen Weg zu gehen, voneinander zu lernen, uns zu unterstützen und an verschiedenen Orten gleichzeitig für eine menschliche Welt zu kämpfen, die Zapatistas in Chiapas und wir hier "im Herzen der Bestie", und uns zusammen als Teil einer globalen Bewegung, als jeweils "kleine Stücke im großen Weltpuzzle der Revolution" zu begreifen.

Und weil die Zapatistas so wichtig für uns sind, ist ein Bereich unserer Tätigkeit die direkte Unterstützung der Widerständigen in Chiapas. Das heißt, wir sammeln Geld für verschiedene Projekte und versuchen immer wieder durch Aktionen, Veranstaltungen und Publikationen eine kritische Öffentlichkeit für ihren legitimen Kampf hier in der BRD herzustellen. Außerdem sind welche von uns von Zeit zu Zeit in Mexiko, um dort Projekte zu unterstützen, politische Prozesse und die Situation der Menschenrechte zu beobachten und zu dokumentieren sowie um weitere Kontakte zu knüpfen. Wichtig ist uns vor allem die Unterstützung der Selbstorganisation in den autonomen Regionen in Chiapas, die sich beispielsweise durch den Vertrieb von Kaffee einer zapatistischen Kooperative materialisiert.

Globalisierung der Widerstände

"Der Zapatismus ist keine neue Ideologie oder Wiederauflage alter Ideologien (...) Es gibt keine Rezepte, keine Linien, keine Strategien, Taktiken, Gesetze, Regeln oder universale Parolen. Es gibt nur eine Sehnsucht: eine bessere Welt zu schaffen, das heißt eine neue. Zusammengefaßt: Der Zapatismus gehört niemanden, deshalb gehört er allen." (Subcomandante Marcos, 1997)

Wir dürfen beim Blick auf Chiapas nicht vergessen, dass auch wir eine eigene linke Geschichte und Gegenwart haben, auf die wir aufbauen können, ohne sie kaputt zu reden. Eine Geschichte, die erwähnenswert und wichtig ist! Erfahrungen sozialer Kämpfe von denen wir lernen können und möchten. Auch in der BRD und anderen europäischen Ländern gibt es eine lange Tradition des radikalen Widerstandes und viele Beispiele für erfolgreiche und solidarische Selbstorganisation. Viele Menschen organisieren ihr Leben kollektiv und rebellisch in Kommunen, besetzten Häusern, Kollektivbetrieben, autonomen Zentren und politischen Gruppen. Viele Kämpfe existieren isoliert von einander und werden deshalb von uns und der Öffentlichkeit nicht in einem Zusammenhang wahrgenommen. Sogar hier gibt es real existierende Alternativen zum Kapitalismus.

In Chiapas haben es die Menschen geschafft, mit ihrer verstärkten Vernetzung, besseren Organisierung und einer gemeinsamen politischen Grundlage aus vielen Einzelprojekten eine andere Wirklichkeit zu schaffen. Das können wir auch! Wir wollen unsere Ideen und Erfahrungen mit denen der Zapatistas verknüpfen, mit dem Ziel auch hier eine deutliche wahrnehmbare Alternative zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen aufzubauen und diese Verhältnisse durch eine Welt der vielen Welten zu ersetzen.

"Rebellion ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen zuhält. Sie weiß, dass sie keinen Platz zum Landen hat, aber dennoch zögert sie nicht zu fliegen. Und nein, weder der Schmetterling, noch die Rebellion sind dumm oder selbstmörderisch, es ist nur so, dass sie wissen, dass sie doch etwas haben, wo sie landen können, weil es in dieser Richtung eine kleine Insel gibt, die kein Satellit entdeckt hat. Und diese Insel ist eine Schwesterrebellion, die sicher hinausfahren wird, sobald der Schmetterling, das heißt die fliegende Rebellion, anfängt, schwächer zu werden. Dann wird die fliegende Rebellion, dass heißt, der Seeschmetterling, Teil dieser auftauchenden kleinen Insel und wird somit zu einem Hilfspunkt für andere Schmetterlinge, die bereits ihren entschlossenen Flug über das Meer begonnen haben."
 

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