»Die Zeit der Frauen ist gekommen« - Marichuy an der UNAM

Poonal vom 17.01.2018
Wolf-Dieter Vogel

 

Das Gesicht der Unsichtbaren: Marichuy, erste indigene Präsidentschaftskandidatin Mexikos. Foto: DesinformémonosDas Gesicht der Unsichtbaren: Marichuy, erste indigene Präsidentschaftskandidatin Mexikos. Foto: Desinformémonos
(Mexiko-Stadt/Tuxpán, 17. Januar 2018, taz).- Seit über zwei Stunden warten ihre studentischen Anhänger*innen, als María de Jesús Patricio Martínez erscheint. Die Abenddämmerung wirft ein warmes Licht auf die präkolumbianischen Motive, die das Bibliotheksgebäude der Nationaluniversität in Mexiko-Stadt zieren. Traditionell in bestickter Bluse gekleidet steigt die Frau vom Volk der Nahua auf die Bühne. Auf dem Kopf trägt sie eine Blumenkrone, um den Hals eine mit Blumen verzierte Kette. Musiker*innen haben vorab mit kämpferischen Liedern für Stimmung gesorgt, Redner*innen die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Die 54-Jährige spricht über Armut und Ungleichheit, kritisiert das kapitalistische Bildungssystem und prangert die vielen Frauenmorde in ihrem Land an. »Keine weiteren Toten«, rufen die, die ihr zuhören. Und: »Viva Marichuy«.

Es ist ein Heimspiel für die Frau, die alle nur Marichuy nennen: Die etwa 3.000 Studierenden, die sich hier auf dem Universitätsgelände versammelt haben, stehen hinter ihrer Kandidatur als unabhängige Kandidatin für die in diesem Sommer anstehenden Präsidentschaftswahlen. »Unterschreibt und unterstützt Marichuy«, steht auf handgeschriebenen Plakaten an zahlreichen Ständen, an denen meist junge Leute Unterschriften sammeln.

»Stell dir vor, wir hätten eine indigene Präsidentin«, sagt die Aktivistin Agui Rubio, die mit einer Unterschriftenliste durch die Menge läuft. Eine ungewöhnliche Vorstellung in einem Land, das von gewalttätigem Machismo geprägt ist und in dem die Mehrheit der Indigenen, die zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen, in bitterer Armut lebt.

Damit Martínez antreten darf, muss sie zunächst 866.000 Menschen finden, die ihre Kandidatur unterstützen. Deshalb mobilisiert sie seit Oktober in ländlichen indigenen Gemeinden ebenso wie bei linksradikalen städtischen Sympathisant*innen. Worum es ihr geht, beschreibt ein Transparent, das an der Bühne auf dem Universitätsgelände hängt: »Nie mehr ein Mexiko ohne uns«.

Sie polemisiert nicht



Mit diesem Ziel sind 1994 die indigenen Rebell*innen der Zapatistischen Befreiungsarmee, der EZLN, im Bundesstaat Chiapas angetreten. Mit einem bewaffneten Aufstand forderten sie ihre Rechte ein und wollten der gesellschaftlichen Ausgrenzung ein Ende bereiten. Seither kämpfen die Zapatist*innen in der südmexikanischen Region für ein Leben jenseits staatlicher Reglementierung. Sie betreiben eigene Schulen, vermarkten ihren Kaffee und organisieren ihren Alltag in kollektiven Strukturen. Über Chiapas hinaus haben sie sich mit anderen mexikanischen Gemeinden zusammengetan. Gemeinsam sind sie seit 1996 im Nationalen Rat der Indigenen, dem CNI, organisiert.

Martínez war von Anfang an dabei. Sie erlebte, wie die EZLN erfolglos mit der Regierung über die Rechte der indigenen Bevölkerung verhandelte. Sie sah mit an, wie Politiker*innen jedweder Couleur immer wieder ihr Wort brachen. Auch deswegen hat der CNI sie als Präsidentschaftskandidatin aufgestellt. Oder besser gesagt: als Sprecherin. Martínez betont, dass sie nur stellvertretend für den vom CNI geschaffenen Rat der indigenen Regierung antrete, einem Gremium, dem mehr als 130 Vertreter*innen aus Gemeinden, Stadtteilen und indigenen Völkern angehören: »Sie haben mich ausgewählt, weil es nicht möglich ist, dass das ganze Kollektiv antritt«, erklärt sie.

Martínez schreit nicht wie eine Wahlkämpferin. Sie polemisiert nicht, greift nicht aggressiv an — anders als ihre Konkurrent*innen, die wortstark alles versprechen und nichts einhalten. Sie redet konzentriert und so leise, dass ihre Mitstreiter*innen gleich mehrere Mikrofon vor ihr aufstellen müssen, damit die Botschaft ankommt. Sie liest ihre Rede von einem Blatt Papier ab.

Jeder Satz, der über den Campus schallt, entstammt einem ausführlich diskutierten Kommuniqué. Denn auch für Martínez gilt, was in jeder zapatistischen Gemeinde selbstverständlich ist: »Das Volk regiert und die Regierung gehorcht.« Jede Entscheidung wird bis zum Konsens diskutiert.

»Wer die Natur zerstört, zerstört auch den Menschen«



Maria de Jesús Martínez lebt in der Kleinstadt Tuxpán im zentralmexikanischen Bundesstaat Jalisco und hat diese zwanzig Jahre lang beim CNI vertreten. Mindestens zwei Tage muss sie mit dem Bus fahren, um ins knapp 1.500 Kilometer entfernte Chiapas, das Herz der zapatistischen Bewegung, zu kommen. Anders als in den Dörfern im Süden Mexikos leben in Tuxpán nur wenige Nahua: 600 Menschen sind es in der Stadt, und etwa 5.000 in den umliegenden Gemeinden.

In Tuxpán ist Martínez als eines von elf Kindern einer Bauernfamilie aufgewachsen. Als junges Mädchen verkaufte sie Kürbissamen, damit die Familie genug zu essen hatte. Der Vater musste die Hälfte seines angebauten Maises an den Großgrundbesitzer abgeben. Heute betreibt Martínez, Mutter dreier Kinder, ein kleines Gesundheitszentrum, in dem sie Patient*innen nach indigener Tradition mit Naturheilpflanzen behandelt.

Wer einen Monat vor ihrer Rede in der Hauptstadt vor diesem Zentrum steht, würde kaum vermuten, das hinter der schlichten Holztür eine Präsidentschaftskandidatin ihr Auskommen verdient. Das »Casa de Salud« versteckt sich hinter einer langen weißen Mauer. Vorbei an der Theke, auf der ein paar Fläschchen mit Tinkturen stehen, empfängt Martínez ihren Besuch in einem kargen Zimmer am Ende eines mit Blumen verwachsenen Ganges: vier Stühle, ein Tisch. An der Wand hängen Plakate, die Behandlungen beschreiben. »Die Kräuter sind eine Jahrhunderte alte Erbschaft, die von Generation zu Generation wandert«, betont Martínez. »Wer die Natur zerstört, zerstört auch den Menschen.«

Dass bisher nur knapp 145.000 der nötigen 866.000 Unterschriften zusammengekommen sind, stört sie nicht. Es gehe nicht um einen Wahlsieg. »Die Kandidatur ist nur ein Werkzeug, um die katastrophale Situation in den indigenen Gemeinden sichtbar zu machen«, erklärt Martínez. Sie spricht von zerstörerischen Bergbauprojekten, dem Terror der Mafia und korrupten Polizisten. Und von der Notwendigkeit, sich zu organisieren, »von unten und von links«. Wer ein Wahlprogramm erwartet, wird enttäuscht. Alles liegt in den Händen der Menschen in den Gemeinden. Zuhören sei ihr schon in der Schule wichtiger gewesen als reden, sagt sie.

Patriarchale Strukturen im Zentrum der Kritik



Viele werfen Martínez und dem CNI vor, ihre Kandidatur spalte die Linke und schwäche deren aussichtsreichen Kandidaten Andres Manuel

López Obrador. Ein Argument, das Martínez nicht gelten lässt: »Für Indigene hat sich nie etwas geändert, egal, ob linke oder rechte Politiker an der Macht waren«, sagt sie.

In Mexiko-Stadt neigt sich Martínez’ Rede vor ihren Anhänger*innen dem Ende zu. »Es schmerzt uns und wir sind wütend darüber, dass die vielen Frauenmorde straflos bleiben«, sagt sie von der Bühne herunter. Wären die Indigenen schon vor zehn Jahren auf die Idee gekommen, einen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, würde nun wohl der Subcomandante Marcos auf der Bühne der Nationaluniversität stehen.

Doch der Mann, der als Zapatisten-Sprecher weltberühmt wurde, sei heute normales Mitglied seiner Gemeinde, erklärt Martínez. Nicht zufällig hat sich der CNI entschieden, eine Frau aufzustellen, die zudem nur mit weiblicher Begleitung unterwegs ist. Denn neben den rassistischen sollen auch die patriarchalen Strukturen Mexikos im Zentrum der Kritik stehen.

Auf dem Campus ist es inzwischen dunkel geworden. Hinter der Wahlkämpferin machen sich mehrere in schwarz gekleidete Frauen bereit. Es sind die Sängerinnen der »Batallones Femininos«, eines feministischen Rap-Projekts, das in Reaktion auf die unzähligen Morde an Frauen in der Stadt Ciudad Juarez gegründet wurde. »Es reicht«, ruft María de Jesús Patricio Martínez in die Nacht, »die Zeit der Frauen ist gekommen und zweifelt nicht daran, wir gehen aufs Ganze.« Dann übernehmen die Rapperinnen die Bühne.

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