Die Geschwindigkeit der Träume (I)

Teil Eins - Stiefel

News vom 04.10.2004
Subcomandante Marcos
übersetzt von: Dana

 

Die Dämmerung kennt keine Eile in den Bergen des mexikanischen Südostens. Als ob sie alle Zeit der Welt hätte, erfreut sie sich an jeder einzelnen Ecke, wie ein geduldiger und hingebungsvoller Liebhaber. Der Nebel ist grenzenlos mit seinem langen Wolkenkleid und schafft es selbst das willensstärkste Licht zu dämpfen. Er belagert es, umzingelt es mit seiner schneeweißen Mauer, umgibt es in einem diffusen Ring. Aus der Mitte des Himmels zieht sich Mond zurück. Eine Rauchsäule verschmilzt mit dem Nebel, langsam, genauso träge wie die Wolke, die die verstreuten Hütten in ihre weiten Röcken birgt. Alle schlafen. Alle außer dem Schatten. Alle träumen. Ganz besonders der Schatten. Und sobald er seine Hand ausstreckt fängt er eine Frage.

Was ist die Geschwindigkeit von Träume?

Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es. Aber nein, ich weiß es nicht.

Die Wahrheit ist, dass man hier alles im Kollektiv weiß.

Wir wissen zum Beispiel, dass wir uns im Krieg befinden. Und ich meine nicht den wirklichen zapatistischen Krieg, der die Blutrünstigkeit einiger Medien und "linker" Intellektueller noch nicht gänzlich befriedigt hat. Die so besessen sind, die ersteren von

der Zahl an Toten, Verletzten und Verschwundenen, und die letzteren davon, Tode in Fehler zu übersetzen "weil sie nicht das getan haben, was ich ihnen sagte ".

Es ist nicht nur das. Ich spreche auch von dem was wir als den "Vierten Weltkrieg" bezeichnen, der vom Neoliberalismus gegen die Menschheit ausgetragen wird. Der Krieg, der an allen Fronten und überall ausgetragen wird, einschließlich den Bergen des mexikanischen Südostens. Genau wie in Palästina und Irak, in Tschetschenien und auf dem Balkan, in Sudan und Afghanistan, mit mehr oder weniger regulären Armeen. Der Krieg, der von dem Fundamentalismus beider Parteien in allen Ecken des Planeten getragen wird. Der Krieg, der in seiner nicht-militärischen Form Opfer in Lateinamerika, Sozialeuropa, in Asien, Afrika, Australien und im Nahen Osten fordert, mit Finanzbomben, die ganze Nationalstaaten und internationale Institutionen in kleine Trümmer zerfallen lassen.

Der Krieg, der uns zufolge (und, darauf bestehe ich, tendenziell), versucht Länder zu zerstören / entvölkern, lokale, regionale und nationale Landkarten umzuformen / neu zu ordnen, und durch Blut und Feuer eine neue Weltkartographie zu erschaffen. Der Krieg, der seine Unterschrift auf seiner Spur zurücklässt: Tod.

Vielleicht sollte die Frage "Was ist die Geschwindigkeit von Träumen" begleitet werden von der Frage "Was ist die Geschwindigkeit von Alpträumen?"

Nur einige Wochen vor den terroristischen Attacken vom 11. März in Spanien lobte ein mexikanischer Journalist-Analytiker (einer von denen, die für Zuckerstückchen in lächerliche Lobgesänge ausbrechen) die "Staatsvision" von Jose Maria Aznar.

Der Analytiker sagte, dass Aznar, durch seine Unterstützung für die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Irakkrieg, vielversprechendes Terrain für die spanische Wirtschaft gewonnen hätte, und die einzigen Kosten, die er dafür zu tragen hätte, wäre die Ablehnung eines "geringen" Anteils der spanischen Bevölkerung, "den Radikalen, die nirgends fehlen, nicht einmal in einer so heiteren Gesellschaft wie der Spanischen," so der "Analytiker". Er bemerkte weiter, Spanien würde nur noch eine Weile warten müssen bis der Geschäft mit dem Wiederaufbau des Iraks losgeht, und dann, ja, dann wird es ganze Wagenladungen von Geld kassieren. Kurzum, ein Traum.

Es dauerte nicht lange bis die Realität den wahren Preis für Aznars "Staatsvision" einforderte. An diesem Morgen des 11. März, wurde die Tatsache, dass der Irak nicht in Irak ist wahr. Ich meine, der Irak ist nicht nur im Irak, sondern auf der ganzen Welt Kurzum, die Atocha Station als Synonym für Alptraum.

Aber davor war der Alptraum der Traum gewesen, aber es war ein neoliberaler Traum. Der Krieg gegen den Irak war schon eine ganze Weile vor den terroristischen Attacken des 11. Septembers 2001 in den

Vereinigten Staaten in Gang gesetzt worden.

Um zurück zum Anfang zu gelangen, gibt es nichts Besseres als ein Foto.

Flacher, rötlicher Boden. Es sieht hart aus. Vielleicht Lehm oder irgendetwas ähnliches. Ein Stiefel. Alleine, ohne Gegenstück. Verlassen. Ohne ein Fuß, der ihn trägt. Irgendein Stück verstreuten Schutts. Der Stiefel sieht sogar aus wie ein weiteres Trümmerteil. Das ist alles was die Aufnahme zeigt, und daher ist sie auch der Boden des Bildes, das erklärt worum es im Irak geht. Das Datum? September 2004.

Man kann nicht erkennen, ob der Stiefel von einem Toten stammt, ob er auf der Flucht zurückgelassen wurde, oder nur einfach weggeworfen wurde. Man weiß auch nicht, ob er einem US- oder britischen Soldaten gehörte, einem irakischen Zivilisten, oder einem Zivilisten aus einem anderen Land.

Dennoch, trotz des Mangels an Information, vermittelt die Aufnahme ein Bild davon, was Bushs "Nachkriegs-Irak" auszeichnet: Gewalt, Tod,

Zerstörung, Verwüstung, Verwirrung, Chaos.

Alles ein neoliberales Programm.

Nachdem die falschen Argumente, dass der Krieg gegen den Irak ein Krieg "gegen den Terrorismus" sei, zusammengestürzt sind, zeigen sich jetzt die wahren Gründe, mehr als ein Jahr nachdem Husseins Statue mit Hilfe der US-Panzer gestürzt wurde, und ein euphorischer Bush eine eigene Statue errichtete und den Krieg für beendet erklärte. (Anscheinend hat der irakische Widerstand Bushs Botschaft nicht gehört: die Zahl der getöteten und verletzten US- und britischen Soldaten ist seit "Ende des Krieges" nur gestiegen, und nun kommen die Verluste von Zivilisten verschiedener Nationalitäten hinzu.)

Die neokonservative Ideologie in den Vereinigten Staaten hat ein Traum: die Errichtung eines neoliberalen "Disneyland." Anstelle eines

"Modelldorfes", eine Reflektion der Handbücher zur Aufstandsbekämpfung aus den 60er Jahren, soll eine Modellnation" errichtet werden. Das Land des antiken Babylon wurde dafür ausgesucht.

Der Traum ein "Beispiel" dessen zu errichten, wie die Welt sein sollte (immer nach Ansicht der Neoliberalen), wurde angetrieben von "(.) dem höchsten Glauben der ideologischen Architekten des Krieges (gegen den Irak): das Gier gut ist. Nicht nur für sie und ihre Freunde, sondern gut für die Menschheit, und ganz sicher gut für die irakische Bevölkerung. Gier erzeugt Profite, die Wachstum erzeugen, das wiederum Jobs, Produkte und Dienstleistungen und alles andere erzeugt, was jemand brauchen oder sich nur wünschen könnte.

"Die Rolle einer guten Regierung besteht darin, die optimalen Bedingungen zu schaffen, damit Konzerne ihrer bodenlosen Gier nachgehen können, um so ihrerseits die Bedürfnisse der Gesellschaft zu stillen.

"Das Problem ist, dass Regierungen, sogar neokonservative Regierungen, nur selten Gelegenheit haben den Wahrheitsgehalt ihrer heiligen Theorie zu beweisen: trotz ihrer enormen ideologischen Bemühungen, werden sogar George Bushs Republikaner, ihrer eigenen Ansicht nach, ständig von sich einmischenden Demokraten, halsstarrigen Gewerkschaften und schwarzseherischen Umweltschützern sabotiert. Der Irak wird das alles ändern. Die Theorie wird endlich irgendwo auf der Welt in die Praxis umgesetzt werden können, in ihrer perfektesten und reinsten Form.

"Ein Land von 25 Millionen Einwohner würde nicht so wiedererbaut werden, wie es vor dem Krieg bestanden hat. An seiner Stelle würde eine schillernde Schaubühne für laissez-faire Politiker entstehen, eine Autopia wie die Welt sie nie gesehen hat." ("Baghdad Year Zero. The Pillage of Iraq After a Neo-conservative Utopia", Naomi Klein in Harper’s Magazine, September 2004. Spanische Übersetzung: Julio Fernandez Baralbar).

Stattdessen ist der Irak tatsächlich ein Beispiel, aber ein Beispiel dessen was die ganze Welt erwartet, wenn die Neoliberalen den großen Krieg gewinnen, den Vierten Weltkrieg: Arbeitslosigkeit von fast 70%, paralysierte Industrie und Handel, eine exorbitante Steigerung der Auslandsschulden, Explosionssichere Mauern überall, die exponentielle

Zunahme von Fundamentalismus, Bürgerkriege und der Export des Terrorismus auf dem ganzen Planeten.

Ich werde Sie nicht mit etwas überschütten, was täglich in den Nachrichten erscheint: militärische Offensiven der Koalition (in einem Krieg der "bereits geendet hat", die Mobilisierung des irakischen Widerstandes, Angriffe auf militärische und zivile Ziele, Entführungen, Hinrichtungen, erneute Offensiven der Koalition, erneute Mobilisierungen des irakischen Widerstandes, etcetera. Ich bin sicher Sie können Unmengen solcher Informationen aus der internationalen Presse bekommen. Die beste Quelle auf Spanisch ist zweifellos die mexikanische Tageszeitung La Jornada, die einige der ernsthaftesten und bestinformierten Analytiker zum Thema Irak aufbieten kann.

In Wahrheit haben wir dieses Video an anderen Orten gesehen . und werden es weiterhin sehen: Tschetschenien, der Balkan, Palästina und Sudan sind nur einzelne Beispiele dieses Krieges, der Nationen zerstört, um zu versuchen sie in Paradiese "umzustrukturieren" und sie letzten Endes in Höllen verwandelt.

Ein verlassener Stiefel auf dem Grund des "befreiten" Iraks, fasst die neue Weltordnung zusammen: die Vernichtung von Nationen, die Ausradierung jeder Spur von Menschlichkeit, Rekonstruktion als die chaotische Neuordnung der Trümmer einer Zivilisation.

Es gibt jedoch andere Stiefel, auch wenn es nur wenige sind.

Kaputte Stiefel. Abgetragene Stiefel. Ja, die Stiefel von Insurgenta Erika sind abgetragen. Die Sohle löst sich von der rechten Fußspitze ab, was dem Stiefel den Anschein eines unzufriedenen Mundes verleiht.

Die Zehen sind noch nicht zu sehen, und deshalb scheint Erika noch nicht begriffen zu haben, dass ihre Stiefel abgetragen sind, besonders der rechte.

Seit den ersten Tagen in den Bergen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht nach unten zu sehen. Fußbekleidung gehört oft zu den Träumen / Alpträumen eines Guerrillero (andere Träume? Zucker, trockene Füße, und andere, eher feuchte), da er ihnen einen großen Teil seiner

Aufmerksamkeit widmet. Vielleicht stammt daher die Besessenheit dauernd auf die Füsse anderer Leute zu starren.

Insurgenta Erika ist gekommen um mir mitzuteilen, dass sie mit der Bearbeitung der Geschichte der "Magischen Orange" fertig sind (die neueste Produktion von Radio Insurgente, in der es darum geht das nun, am besten hören Sie es sich selbst an). Ich antwortete ihr, dass ihr Stiefel abgetragen sei. Sie senkt ihren Blick und sagt mir "Deiner auch". Sie salutiert und geht weg.

Erika wird sich umziehen, weil zwei Mannschaften von Insurgentas gleich Fußball spielen werden. Eine Mannschaft nennt sich "8. März", die andere "Die Prinzessinnen der Selva". Ich verstehe nicht viel von Fußball, aber soweit ich das sehe spielen die "Prinzessinnen" einen Stil, der ziemlich weitab von den guten Manieren des Corte Real steht, und die vom "8. März" spielen wie der Aufstand vom 1. Januar. In anderen Worten, ziemlich viele von ihnen enden in der aufständischen Krankenstation. Eigentlich halten die medizinischen Assistenten bei jedem Spiel die Tragbare auf eine Seite des Feldes bereit. "Damit wir nicht immer umkehren müssen", sagen sie.

Das Spiel endete unentschieden. Oder die Insurgentas zogen beim Fußball gleich. Sie gingen in die Verlängerung, und erreichten den Schlusspfiff ohne den Gleichstand zu brechen. Insurgenta Erika kam und sagte mir Folgendes. Erika ist die Liebesberaterin unter den Insurgentas, aber dieses Mal kam sie nicht um mir zu sagen, dass eine

Compañera "Herzweh" vor Liebeskummer hätte, sondern dass das Spiel jetzt zu Ende sei, und sie nun losziehen würde um in den Dörfern einen Vortrag zu halten, spezifischer, für die Frauen in den Dörfern.

Sie ging als Zivilistin, bzw. in Zivilkleidung. Na ja, zumindest sagte sie das. Ich sah nämlich, dass sie Stiefel aus den zapatistischen Werkstätten trug, und die hatten auf einer Seite "EZLN" eingeschweißt.

"Hmm, wenn Du diese Stiefel tragen willst, solltest Du lieber die ganze Uniform anziehen," sagte ich ihr, und versuchte sarkastisch zu sein. Erika ging weg. Sie kehrte kurz darauf in ihre Uniform zurück. "Wo gehst Du hin?" fragte ich sie. "Ins Dorf," antwortete sie. "Aber wieso gehst Du in Uniform?" fragte/schalt ich sie. "Weil Du es mir gesagt hast," sagte sie ich hätte gesagt. Ich begriff, dass es nutzlos wäre zu versuchen, die Qualität subtiler Ironie zu erklären und ordnete nur an: "Nein, zieh Zivilkleidung an, und nimm diese Stiefel ab." Sie ging weg. Kurz darauf kehrte sie wieder, in Zivilkleidung. und barfuss. Ich seufzte, was konnte ich sonst tun?

Glauben Sie Erika nicht. Mein Stiefel ist nicht abgetragen. Die Naht reißt auseinander, was nicht das gleiche ist. Außerdem ist eine Öse abgerissen, deshalb sehen die Schnürsenkel so verwickelt aus wie das politische System unter dem Neoliberalismus: es ist ein Durcheinander, und man kann Rechts nicht von Links unterscheiden. Ich war gerade dabei das Rolando zu erklären, und was glauben Sie wer da erschien.

Erste Generation Toñita, oder Toñita I (sie, die sich weigerte mir einen Kuss zu geben, weil ich "zu stachlig" war, sie, mit der kleinen

zerbrochenen Tasse, sie, mit der Puppe aus einem Maiskolben) ist nun 15 Jahre alt. Oder "sie hat aufgehört 14 zu sein, aber sie ist jetzt 15 und geht auf die 16 zu", erzählt mir ihr Papa, einer der ältesten zapatistischen Verantwortlichen.

Ich stimme zu, ohne zu gestehen, dass ich die höhere Mathematik, die die Kalender der zapatistischen Gemeinden im Widerstand beherrscht nie verstanden habe (Nach dem vergeblichen Versuch sie mir zu erklären gab Monarca auf und sagte nur: "Ich denke, es ist nur einfach unsere Art, die sehr anders ist").

Der Papa von Toñita I (oder Erste Generation Toñita) war gekommen, damit ich sie sehen konnte, weil ich sie seit mehr als 10 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Zehn Jahre waren nicht umsonst vergangen, da Toñita I sich nicht nur nicht weigerte mich zu küssen, sondern mich auch ohne ein Wort umarmte und ein Kuss auf die gefütterte Backe meiner Skimaske aufdrückte, und dann in alle Farben errötete (Toñita I, nicht die Skimaske). Ich sagte gar nichts, aber ich dachte "Hmm, ich mach mich nicht gut dieses Jahr . und ich habe die Skimaske nicht mal abgenommen um mich zu waschen."

Dann zog Toñita I ein Paar Stiefel aus ihrem Rucksack und zog sie an.

Ich wollte sie fragen, wieso sie ihre Stiefel anzog nachdem sie sechs

Stunden lang aus ihrem Dorf bis hierher barfuss marschiert war, aber Toñita sprach zuerst, und fragte mich ob sie "dorthin" gehen könnte — und zeigte dabei auf eine Gruppe Insurgentas. Toñita I weiß was ein Kuss zuwege bringt, auch wenn nur auf eine Skimaske, also wartete sie eine Antwort gar nicht erst ab und zog los.

Während Toñita I hinüberlief um zu fragen ob sie beim Fußballspiel mitmachen durfte, berichtete mir ihr Papa über ihr Dorf (das ich immer insgeheim "Stürmische Höhen" genannt habe, aber nur wenn ich außer Hörweite war). Ich hatte auf Toñitas I linken Arm die Narbe gesehen, die von einem Kratzer stammte, und fragte ihn danach.

Toñitas I Papa erzählte mir, dass ein junger Mann aus dem Dorf mit ihr zu den Latrinen wollte (Anmerkung: ich sollte dem unwahrscheinlichen Leser dieser Zeilen wohl erklären, dass die Latrine in einigen Dörfer nicht nur die üblichen stinkenden Hygienezwecke erfüllt, sondern oft auch Treffpunkt für Liebespaare ist. Nicht wenige Ehen in den Gemeinden sind aus dem romantischen Schauplatz der Latrine hervorgegangen. Ende der Anmerkung). Es war so, dass Toñita I nicht auf die Latrine wollte. "Es hat ihr nicht gefallen" teilte mir ihr Papa mit. Und dann versuchte der Junge sie zu zwingen, und dann, "da es ihr nicht gefallen hat" — wiederholte ihr Papa — brach ein Kampf aus. Toñita I konnte davonkommen, aber dann wurde, wie man das so schön sagt, die Sache publik und erreichte die Dorfversammlung. Toñitas I Papa erzählte mir, dass sie sie ins Gefängnis stecken wollten. Ich unterbrach ihn: "Aber warum denn, wenn sie angegriffen wurde und sogar einen Kratzer am Arm hatte?" "Ah, Sup, Du hättest mal sehen sollen, wie der jungen Mann zugerichtet war" — sagte mir der Papa — "Sie hat ihn komplett umgenietet. Toñita ist, wie man das so schön sagt, sehr grimmig."

Toñita I hat zusätzlich zu einem attraktiven Gesicht, eine kräftige Figur, oder — wie kann ich das am besten erklären? — Nun, um am besten verständlich zu werden, werde ich nur einfach sagen, dass Rolando sie in der zapatistischen Fußballmannschaft als Mittelfeldspieler haben wollte.

"Aber die Mannschaft der Insurgentas ist schon komplett," sagte ich zu Rolando. Er meinte nur: "Die Mannschaft der Insurgentas vielleicht schon, aber ich wollte sie für die Männermannschaft." Genau in dem Augenblick zogen die Leute von der medizinischen Einheit mit zwei ziemlich mitgenommenen Insurgentas vorbei. Toñita I weinte, weil die Mannschaft ihretwegen zwei Strafstöße kassiert hatte. Ich verstand was Rolando meinte und drehte mich zu ihrem Papa um und fragte ihn: "Hat Toñita I nicht mal erwähnt, ob sie eine Insurgenta werden möchte?"

Toñita I zog ihre Stiefel aus und packte sie in den Rucksack. Sie zog mit ihrem Papa davon, barfuß.

Nicht lange danach erschien in Begleitung ihrer Mutter . Zweite Generation Toñita, oder Toñita II.

Die Mama von Toñita II oder Zweite Generation Toñita heißt Elena. Sie ist ein aufständischer medizinischer Leutnant, und rettete im Januar 1994 das Leben vieler Insurgentas und Militanten, die in den Gefechten von Ocosingo verwundet wurden. In einem mehr als bescheidenen Feldhospital, operierte Elena Schussverletzungen und schnitt Schrapnellsplitter aus den Körpern von Zapatisten heraus. "Eine Compa ist gestorben," sagte sie, als sie Bericht erstattete. Sie erwähnte nicht die mehr als 30 Soldaten, die sie gerettet hatte, und nun in der Umgebung leben und kämpfen.

Toñita II ist drei Jahre alt. "Oder sie hat die Zwei beendet und geht

auf die Vier zu?" fragte ich, um Elenas Erklärung zuvorzukommen. Sie lachte. Elena lachte, meine ich. Toñita II kreischte nämlich mit einer Lautstärke, die einen ernsteren Grund verdient hätte. Und so, setzte ich mein kokettestes Gesicht auf (Nr. 7 aus meinem exklusiven "Katalog verführerischer Blicke"), und bat sie um einen Kuss. Toñita II sagte nicht einem "zu stachelig" (nicht einmal eine verbesserte Version), sie brach nur in ein so vehementes Geheul aus, dass eine ganze Gruppe Insurgentas sich um sie versammelte, um ihr Karamellbonbons anzubieten, eine kleine Tasche mit einem Kaninchengesicht (obwohl es für mich mehr nach Opossum aussah — die Tasche natürlich) — und sie sangen ihr sogar das eine Lied über das kleine Zicklein vor, das bei zapatistischen Jungen und Mädchen so ungemein beliebt ist.

"Sie mögen Dich nicht," sagte mir Major Irma um die Sache schlimmer zu machen. Ich antwortete: "Pah, sie ist verrückt nach mir", und tat so als ob mein Herz nicht gebrochen war.

Beim verlassen des Ladens drückte mir Rolando ein "capoteras" Nadel und eine Rolle Nylonfaden in die Hand.

Jetzt, in der Hütte des EZLN Generalkommandos, wundere ich mich...

Ich kenne weder die Geschwindigkeit der Träume, noch weiß ich ob ich meine Stiefel ausbessern soll, oder mein Herz.

(Fortsetzung folgt .)

Aus den Bergen des mexikanischen Südosten.
Subcomandante Insurgente Marcos

Mexiko, September 2004, 20 und 10.
 

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