Somos viento [Wir sind der Wind]

Globalisierte Bewegungswelten in Lateinamerika

Buchtipp vom 10.01.2009
Georg Schön

 

Unrast Verlag, 2008, 192 Seiten,
16,00 Euro, Paperback, ISBN-13: 978-3-89771-033-7

Ausgehend von der deutschen Bewegungsforschung zeichnet der Autor ein interdisziplinäres Bild zeitgenössischer Perspektiven auf soziale Bewegungen in Lateinamerika. Multiple methodische Zugänge bearbeiten die Brennpunkte aktueller sozialer Prozesse: Ökologische und kulturelle Verteilungskämpfe, indigene soziale Bewegungen, Sozialforen, Netzwerk- und Artikulationsprozesse sozialer AkteurInnen, Auswirkungen von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf globalisierte Bewegungslandschaften, Aufbau von (Gegen-) Öffentlichkeiten und alternativen Räumen von Macht. Die in diesem Buch aufgearbeiteten und miteinander verwobenen Bewegungen, Netzwerke und Allianzen offenbaren die Konturen der Graswurzelglobalisierung in Lateinamerika. Zitate von AktivistInnen aus Mexiko, Zentral- und Südamerika führen in lateinamerikanische Bewegungswelten ein. Anhand des zivilen Zapatismus in Mexiko werden diese Prozesse in ihrer Tiefe beleuchtet.

Während das globale Kapital und die nationalstaatlich organisierte internationale Politik die Prämissen der Weltordnung ausverhandeln und die Spielregeln für eine globale politische Kultur bestimmen, entsteht in deren Schatten die Grassroots Globalization. Ihre tragenden Säulen sind soziale Bewegungen, Basisinitiativen, lokal und regional agierende NGOs und transnationale Advocacy Netzwerke. Sie leisten gegen die negativen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung Widerstand, federn soziale Ungleichheiten ab, beeinflussen dominante politische Kulturen, initiieren lokale Demokratisierungsprozesse, verorten sich in transnationalen Politikarenen und arbeiten vernetzt an alternativen sozialen Integrations-, Globalisierungs- wie Gesellschaftsmodellen. Nicht zuletzt aufgrund ihres sozialen Veränderungspotenzials erkennt Appadurai (2001) in der Systematisierung von politischen, ökonomischen und pädagogischen Errungenschaften der Graswurzelglobalisierung wertvolle Betätigungsfelder für SozialwissenschaftlerInnen. »To take up this sort of study involves, for the social sciences, a serious commitment to the study of globalization from below, its institutions, its horizons, and its vocabularies« (Appadurai 2001: 20).

Das Buch beleuchtet den Werdegang und das Skale Jumping von AktivistInnen und political entrepreneurs in Lateinamerika. Sozialforen, Netzwerke und nationale Bewegungen werden multi-dimensional betrachtet und Kommunikations- wie Artikulationsprozesse von sozialen AkteurInnen im digitalen Zeitalter unter die Lupe genommen. Das Spannungsverhältnis zwischen lokaler Verwurzelung und Globalisierungsprozessen zieht sich durch das gesamte Buch — also wie Globalisierung Bedeutungen, Strategien und Chancen formt und welchen Einfluss strukturelle Rahmenbedingungen, Geopolitik und der politische Mainstream auf die Möglichkeitsstrukturen der sozialen AkteurInnen haben. Mit dem Schwerpunkt auf Formierungsund Framingprozessen von pluralen popularen Bewegungen, die aufgrund der Verhandlung von Differenz im Inneren der Bewegung und der notwendigen Projektion von Einheit nach außen auf die Probe gestellt werden, sollen die Perspektiven der BewegungsteilnehmerInnen in den Mittelpunkt der Analyse gerückt und — ganz im Sinne der Kultur- und Sozialanthropologie — der Mensch in der Bewegungsforschung verortet werden. Alle in diesem Buch zu Wort kommenden BewegungsteilnehmerInnen tragen durch ihr Engagement und Commitment zur Veränderung der lokalen, nationalen und transnationalen Normenstrukturen und Politikarenen bei. Mit ihren Aktivitäten formen sie die Umwelt, erschaffen Werte, manifestieren Bedeutungen und beeinflussen Kulturmuster. Sie sind die treibenden Kräfte für eine sozial und ökologisch nachhaltige Globalisierung.

Der besondere Fokus des Buches liegt auf Netzwerkprozessen von sozialen AkteurInnen in Lateinamerika. Netzwerke sind auf allen Ebenen — der lokalen, nationalen und transnationalen — Voraussetzung zur Mobilisierung. Lokale Netzwerke von Menschen und Communities bilden das Bewegungsmilieu, in dem sich Bedeutungslandschaften entfalten und sich der kollektive Identitätsbildungsprozess einer Bewegung vollzieht. Auf translokaler wie nationaler Ebene lassen Netzwerke, Koalitionen und Allianzen zwischen Basisinitiativen, indigenen Communities, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, kirchlichen Institutionen und NGOs einen übergeordneten Identifikationsprozess entlang gemeinsam geteilter Problemlagen, Erfahrungen und Aktionsformen zu. Nationale Bewegungen müssen als ein pluralistischer Anerkennungs- und Artikulationsprozess von unterschiedlichen konstituierenden Netzwerken analysiert werden, die zusammen an einem größeren politischen Gebilde teilhaben. Transnationale Sozialforen sind lose Bewegungsnetzwerke, deren Funktion in symbolischen, diskursiven und identitätsstiftenden Politikelementen und weniger in der kollektiven Handlungsfähigkeit liegt. Sie spielen für die Entwicklung einer transnationalen Protestkultur, die Verflechtung zu einer transnationalen Bewegungslandschaft und damit zur regionalen bzw. globalen Integration subalterner Widerstände eine wichtige Rolle. Durch die multiplen Begegnungen von unterschiedlichen sozialen AkteurInnen mit ähnlichen Arbeitsagenden können transnationale Sozialforen gleichzeitig Entstehungsgrundlage für stärker strukturierte und handlungsorientierte Aktivist- Innennetzwerke sein, die sich entlang geteilter Problematiken, Werte oder Protestmethodiken bilden. Die Erfolge dieser transnationalen Advocacy-Netzwerke wirken wiederum stärkend auf die imaginierte Gemeinschaftsidentität der transnationalen Bewegung zurück.

Die Phrase Ik’Otik bedeutet in der Mayasprache Tzeltal »Wir sind der Wind« und steht paradigmatisch für die Essenz dieses Buches, das globalisierte Bewegungswelten in Lateinamerika einzufangen versucht. So wie der Wind mit der Erde verbunden ist, benötigt die Bewegung Ruhe und die Energie konkrete Formen, um sich in der Welt zu entfalten und nicht abzuheben. Deswegen ist Ik’Otik an physischen Orten verankert — »Hier sind wir«. Trotz transnationaler Kommunikations- und Organisationsprozesse bleiben die lokale Verwurzelung und der physische Ort Fundament für Widerstand und gesellschaftspolitische Alternativprojekte — »Aqui estamos. Somos viento«. Diese Grenzen überschreitenden Interaktionsdynamiken und Transferprozesse darzustellen, wurde zum sozialwissenschaftlichen Experiment dieses Buches.

Georg Schön. Kultur- und Sozialanthropologe. Wien. Arbeitete für diverse Unternehmungen in Österreich und Mexiko in den Bereichen Friedensbildung, Nachhaltige Entwicklung und Multimedia. Zwischen 2005 und 2006 freiwilliger Mitarbeiter beim mexikanischen Forschungszentrum CIEPAC in San Christóbal de las Casas im Bundesstaat Chiapas. Kontakt: somosviento AT gmx PUNKT at

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