Oaxaca: Juan Manuel in Freiheit, aber bedroht

Vorwärts vom 22.03.2010
Philipp Gerber

 

Erschienen im Vorwärts, sozialistische Wochenzeitung, Schweiz (März 2010).


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Drohungen gegen Juan Manuel Martínez und Alba Cruz:
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Oaxaca: Juan Manuel in Freiheit, aber bedroht

Etwas ruhiger und gelöster sei Juan Manuel jetzt, meinte Alba Cruz, die Anwältin des bekanntesten politischen Häftlings, der seit dem 18. Februar wieder in Freiheit ist, was den internationalen Kampagnen zu seiner Unterstützung und der hartnäckigen juristischen Verteidigung zu verdanken ist. Eine Reportage.

Wir besuchten Juan Manuel Martínez und seine Familie eine Woche nach seiner Freilassung in seinem bescheidenen Häuschen in St. Lucia del Camino, einem Vorort der Hauptstadt. Juan Manuel schildert uns, wie es ihm in der neuen Freiheit nach 16 Monaten Haft ergeht: »Erst habe ich mich kaum alleine aus dem Haus getraut« Liliana, seine Frau und Mutter der drei Kinder, ergänzt in scherzhaftem, aber auch mitfühlendem Ton: »Kaum hörte er ein Auto, rannte er schnell wieder ins Haus zurück« Das gehe aber langsam besser, so Juan Manuel. Nur schläft er bei einem Verwandten ausserhalb von St. Lucia, weil er zuhause keinen Schlaf findet, denn er kriegt vor Beklemmung keine Luft.

Absurde These entkräftet

Der Alltag in St. Lucia ist schwierig, nicht nur für Juan Manuel und seine Familie, sondern für alle AktivistInnen der APPO, welche im 2006 den Aufstand gegen die korrupten Machtstrukturen der PRI wagten, die sich in Oaxaca seit über 80 Jahren an der Macht hält. »Wir sind hier von PRI-Leuten umzingelt», fasst Juan Manuel zusammen. So wohnt eine Ecke weiter ein Kommandant einer Sondereinheit der Polizei, der von Nachbarn dabei beobachtet wurde, wie er Waffen in ein Auto lud, dies in der Nacht auf den 22. August 2006, als der Angriff des so genannten »Konvoi des Todes» geschah: Polizisten und Paramilitärs beschossen das besetzte und verbarrikadierte Radio La Ley, der Architekt Lorenzo Sampablo wurde dabei ermordet. Ende Oktober 2006 explodierte dann die Situation, als Brad Will, US-amerikanischer Indymedia-Aktivist, in St. Lucia den bewaffneten Angriff von PRI-Leuten und lokalen Polizisten filmte — bis ihn eine Kugel der Angreifer tötete. Worauf die Bundespolizei zwei Tage später die Hauptstadt Oaxaca besetzte und dem Experiment der »Kommune von Oaxaca» nach einem halben Jahr ein repressives Ende bereitete.

Der Rest im Fall Brad Will / Juan Manuel ist hinlänglich dokumentiert (siehe vorwärts Nr. 29/30 vom 24. Juli 2009 und 41/42 vom 30. Oktober
2009): Einige der wahren Täter wurden nach ein paar Tagen Haft aus Mangel an Beweisen entlassen, die Untersuchungen verliefen im Sand, bis der US-Kongress die gute Milliarde US-Dollar an Militärhilfe im so genannten »Krieg gegen die Drogenmafia» an die Bedingung knüpfte, dass der Mord an ihrem US-Bürger Brad Will genau untersucht werde. Da wurde plötzlich der Schuldige gefunden: Juan Manuel Martínez, Aktivist der APPO, soll gemäss einem konstruierten Komplott für den Tod von Brad Will verantwortlich gewesen sein. Diese abstruse These konnte nach über einem Jahr in allen Instanzen und gegen den erklärten Willen der Untersuchungsbehörden entkräftet werden.

Die Rache der Bundespolizei

Der Gemeindepräsident von St. Lucia, Alejandro Diaz, ist in dunkle Geschäfte verwickelt, so war er letztes Jahr wegen seiner Verwicklung in Drogenhandel eine Woche in Untersuchungshaft. Sein Mann fürs Grobe ist der Gemeindeschreiber, dieser terrorisiert die Bevölkerung und lässt auch mal in die Beine schiessen, ohne dass sich jemand getraut, dies zu denunzieren. «Hier ist die PRI keine Partei, die auf WählerInnen baut, sondern eine Macht der harten Hand», so Juan Manuel.

Nur 2006 sei es möglich gewesen, dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen, plötzlich habe das Volk die Angst verloren, die Bevölkerung habe, nur mit Steinen und Knüppeln bewaffnet, um sich schiessende, paramilitärisch organisierte PRI-Leute verhaftet, ihnen die Waffen abgenommen, sie ausgezogen und mit den Beweismitteln bundesstaatlichen Instanzen übergeben. Dass dies die Bevölkerung wagte, dass sie sich nicht einschüchtern liess, das ist es, was die Regierung so in Rage brachte. Seit der Niederschlagung des Aufstandes mit Hilfe von Tausenden von Bundespolizisten ist deshalb Rache angesagt.

Eine Zelle mit Spezialbehandlung

Anlässlich der Präsenz der ausländischen BesucherInnen begann Juan Manuel die wichtigsten Ereignisse vor und während der Haft zu erzählen, in einem Wechselbad der Gefühle, neben Momenten der Verzweiflung und Tränen waren auch der unerschütterliche Glaube Juan Manuels an Gottes Fügung und an die Menschlichkeit präsent.

Schon vor seiner Haft wurde Juan Manuel mehrmals bedroht und am 7. Juli 2007 gar entführt. Dies zusammen mit zwei anderen Aktivisten, am Wahltag der Gemeindewahlen. Die bei der Entführung verwendeten Fahrzeuge stammten aus dem Fahrpark der lokalen Behörden, die Entführer hätten Stiefel und Uniform der »Hilfspolizei zum Schutz von Banken und Industrie» getragen. Die Entführten wurden gefoltert, mit dem Tod bedroht. Juan Manuel wurde ein Z in den Rücken geritzt, ihnen wurde gesagt, sie seien von den »Zetas», einer berüchtigten Drogenmafia. Nach rund sechs Stunden liessen sie sie wieder frei. Aus Angst vor noch schlimmeren Übergriffen denunzierten die Aktivisten die Entführung nicht.

Monate später arbeitete Juan Manuel als Angestellter der Gemeinde im Bereich der Förderung des Schulsports. Denn das Wahlgesetz in Oaxaca sieht vor, dass die unterlegenen Parteien auch in die Gemeindeverwaltung eingebunden werden müssen. Anfang Oktober 2008 wurde er auf der Strasse von zwei Polizei-Agenten überfallen, die ihm die Ausweise raubten. »Welchen dicken Fisch störst du«, fragten sie ihn. Sie liessen ihn wieder frei, aber drohten, sie würden ihn ja dann noch brauchen... Vierzehn Tage später nahmen Agenten Juan Manuel fest. Als er unter ihnen die zwei erkannte, welche ihn überfallen hatten, schlugen sie ihn. Er dachte, dieses Mal würden sie ihn ermorden. Schliesslich luden sie ihn in der Polizeiwache aus.

Er kam zuerst in eine »Zelle mit Spezialbehandlung», die keinen Meter breit ist und deren Boden mit Exkrementen bedeckt ist. Zwei Tage lang wurde er ohne Essen und Wasser darin festgehalten. Der Untersuchungsrichter wollte ihn zur Aussage zwingen. Juan Manuel erinnerte sich jedoch an einen Kurs über Menschenrechte und daran, dass er ein Recht auf einen von ihm gewählten Anwalt hat. Er bestand darauf, dass er seine Schwester Libia, die Anwältin ist, zur Verteidigung wolle. Am dritten Tag wurde er in eine etwas grössere Zelle versetzt, da die bundesstaatliche Menschenrechtskommission ihn besuchen kam.

Geholfen dann ermordet

In der regulären Haftzelle fühlte sich Juan Manuel sicherer als draussen in Freiheit. Insbesondere seine Zellengenossen aus der Region Loxicha (ein Dutzend indigene politische Gefangene, in Haft seit 1996/97, angeklagt der Beteiligung in der Guerilla EPR) schützten ihn. Dennoch war Juan Manuel auch im Gefängnis mehrfach Opfer von Übergriffen: Am 25. November 08 sollte er zusätzlich der organisierten Kriminalität und des illegalen Tragens von Waffen angeklagt werden. Dazu sollte als Belastungszeuge der »Präsident» der Gefangenen dienen. »Präsident» der Gefangenen deshalb, weil die Häftlinge sich in den Gefängnissen mit einer selbst gewählten Vertretung bestehend aus Insassen organisieren. Dieser Mitgefangene liess sich jedoch nicht kaufen: Er wolle keinem unschuldigen Mann das antun, er kenne ihn ja nicht mal, und er komme sowieso bald frei. Da wolle er sich keine Probleme aufhalsen, sagte er gegenüber Juan Manuel. Kurz darauf gab es zwei Gefängnismeutereien, die Polizei beendete die zweite blutig, ein Gefangener starb, 39 Häftlinge wurden versetzt. Darunter der »Präsident» der Gefangenen, der in das Hochsicherheitsgefängnis Almoloya kam, ihm wurde der in der Meuterei umgekommene Mitgefangene angehängt. Bei der Razzia lagen alle Häftlinge mit dem Gesicht zum Boden. Der Chef der Wärter wurde beauftragt, Juan Manuel herauszusuchen, damit er versetzt werden kann. Er zerrte Juan Manuels Kopf hoch, doch Juan Manuel sah, dass er ihm leid tat, und dann meinte der Wärter: »Nein, der ist es nicht». Juan Manuel wurde nicht versetzt. Zwei Tage später wurde dieser Chef der Wärter entführt, gefoltert und ermordet. Das Schicksal des Präsidenten der Gefangenen und des Chefs der Wärter hat Juan Manuel sehr erschüttert: »So erging es zwei Personen, welche sich nicht dafür hergaben, mir zu schaden«

Drohungen gegen Kinder

Als auch weitere Drohungen durch illegale Besuche von Polizisten im Gefängnis sowie gegen Frau und Kinder und Lockangebote von Gesandten des Gouverneurs den Willen des Gefangenen nicht brechen können, musste Juan Manuel letztlich freigelassen werden. Kaum wieder zuhause, gingen die Bedrohungen weiter. Niemand könne ihm wirklich Sicherheit gewährleisten, mit keinem Mittel der Welt, meint Juan Manuel traurig. Mexiko erscheint ihm heute klein, er könne hin wo er wolle, wenn sie wollten, würden sie ihn weiter belästigen. Auch ganz praktische Fragen sind offen: Wie sollen seine Kinder wieder zur Schule gehen, die seit Jahresbeginn Drohungen erhalten und deshalb das Haus kaum mehr verlassen? Wo soll er Arbeit suchen?

Juan Manuel und die Familie denken ernsthaft darüber nach, Oaxaca eine Weile zu verlassen. Denn der Bundesstaat befindet sich im Vorwahlfieber und somit in einer besonders gewalttätigen Zeit: Am 4. Juli werden Gemeindeämter, Parlament und Gouverneur neu gewählt. Von freien Wahlen kann in diesem Klima nicht die Rede sein. Dennoch hat die PRI grosse Angst, dass die vereinte Allianz aus linken und rechten Parteien ihr die Machttöpfe streitig machen könnte. Ein klares Zeichen für diese Nervosität ist, dass Jorge Franco, Oaxacas Innenminister im 2006 und der gewünschte Nachfolger des Gouerneurs Ulises Ruiz, überraschend von seiner Kandidatur zurückgetreten ist, angeblich wegen seiner Verantwortung für 2006. Ein kleiner Erfolg für die Bewegung, dass Ulises Ruiz und seine mörderische Entourage sich wohl nicht mehr in der ersten Linie der Macht halten können. Aber real ändert sich an der repressiven und offen mit der organisierten Kriminalität kollaborierenden Machte lite in Mexiko wohl so schnell nichts. Das zeigt das Beispiel des Aktivisten Juan Manuel aus St. Lucia, nur wenige Minuten ausserhalb des pittoresken historischen Zentrums von Oaxaca, dieser »Welthauptstadt des Tourismus», wie die Propagandatrommel der Regierung tönt.

Philipp Gerber ist zur Zeit in Mexico und arbeitet für medico international schweiz
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Quelle: http://www.vorwaerts.ch/


 

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