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EZLN-Kommuniqué 12. Mai 2021

Delphine!

EZLN vom 12.05.2021
übersetzt von Nadine

  EZLN-Kommuniqué 12. Mai 2021

Delphine!

Mai 2021.

Das waren dramatische Momente. In die Enge getrieben, zwischen den losen Tauen und der Reling, bedrohte der kleine Käfer die Besatzung mit seiner Lanze, während er aus dem Augenwinkel die tobende See beobachtete, wo ein Krake der Spezies »kraken escarabujos« - spezialisiert auf das Fressen von Käfern - lauerte. Dann nahm der unerschrockene blinde Passagier allen Mut zusammen, hob seine vielen Arme zum Himmel und seine Stimme brüllte, den Lärm der Wellen, die gegen den Rumpf der La Montaña schlugen, in den Schatten stellend:

Ich bin der Stahlkäfer, der Größte, der Beste! Beachtung! Hör auf meine Worte¡ (1)

Die Besatzung hielt inne. Nicht, weil ein schizophrenes Insekt sie mit einem Zahnstocher und einer Plastikkappe herausgeforderte. Auch nicht, weil er mit ihnen auf Deutsch sprach. Es lag daran, dass das Hören ihrer Muttersprache, nachdem sie jahrelang nur tropisches Küsten-Spanisch gehört hatten, sie wie durch einen seltenen Zauber in ihre Heimat versetzte.

Gabriela würde später sagen, dass das Deutsch des kleinen Käfers näher am Deutsch eines iranischen Migranten war als an dem des von Goethes Faust. Der Kapitän verteidigte den blinden Passagier und behauptete, sein Deutsch sei vollkommen verständlich. Und da, wo der Kapitän befiehlt, regiert nicht Gabriela. Ete und Karl stimmten zu, und Edwin, obwohl er nur das Wort »Cumbia« verstand, war einverstanden. Was ich Ihnen also erzähle, ist die aus dem Deutschen übersetzte Version des Käfers:

-*-

»Das Zögern meiner Angreifer gab mir Zeit, meine Verteidigungsstrategie zu überdenken, meine Rüstung neu zusammenzustellen (denn es ist eine Sache, in einem ungleichen Kampf zu sterben, und eine ganz andere, es schlecht gekleidet zu tun) und meine Gegenoffensive zu starten: eine Geschichte...

Es war vor ein paar Monden, in den Bergen des mexikanischen Südostens. Diejenigen, die dort leben und kämpfen, hatten sich einer neuen Herausforderung angenommen. Zu dieser Zeit lebten sie in Sorge und Mutlosigkeit, weil ihnen ein Gefährt für ihre Reise fehlte. So war es, bis ich, der Große, der Unaussprechliche, der Etcetera, Don Durito de La Lacandona A.C. de C.V. de (i)R. (i)L. in ihre Berge kam (das Akronym steht, wie jede*r wissen sollte, für »Andante Caballero de Cabalgadura Versátil de Irresponsabilidad Ilimitada«) (2). Sobald sich die Nachricht von meiner Ankunft verbreitete, eilten Scharen von Mädchen, Kleinkindern jeden Alters und sogar alten Frauen flink und schnell herbei, um mir zuzujubeln. Aber ich blieb standhaft und erlag nicht dem Eigendünkel. Ich wandte mich in Richtung Gemach desjenigen, der die missglückte Expedition leitete. Einen Moment lang war ich verwirrt: Die impertinente Nase desjenigen, der die unmöglichen Rechnungen zur Kosten-Deckung der Strafexpedition gegen Europa wieder und wieder aufstellte, erinnerte mich an jenen Hauptmann, der später als SupMarcos bekannt werden sollte, den ich jahrelang belehrt und mit meiner Weisheit erzogen hatte. Aber nein, obwohl er ähnlich aussieht, muss der, der sich SupGaleano nennt, noch viel von mir, dem größten der fahrenden Ritter, lernen.

Wie auch immer, sie hatten kein Boot. Als ich diesen Wesen mein Schiff zur Verfügung stellte, antwortete mir besagter Sup mit Sarkasmus: »Aber es gibt nur Platz für einen, und der muss sehr klein sein, denn das ist... eine Dose Sardinen!«, womit er sich auf meine Fregatte bezog, deren Name »Pon tus barbas a remojar« (3) sie auf der Backbordseite, in Höhe des Bugs, benannte. Ich ignorierte solche Impertinenz und ging durch die Menge, die sich nach einem Blick von mir sehnte, zumindest nach einem Wort — und rchtete mich gen die Insel »Sie hat keinen Namen«, die jener, der dies hier erzählt, 1999 entdeckt hatte. Auf den Höhen hrer, nun ja, bewaldeten Kappe, wartete ich geduldig auf die Morgendämmerung.

Dann verfluchte ich die Hölle, ich beschwor Göttinnen aus allen Breitengraden, ich rief die Mächtigste von ihnen an: die scharlachrote Hexe. Sie, die von den anderen Göttern verachtet wird, da jene zu prahlerischem Machismo und Angeberei neigen. Sie, die von den anderen Göttinnen verstoßen wurde, welche sich der falschen Schönheit von Rasur und Kosmetik ergeben. Sie, die scharlachrote Hexe, die ältere Hexe: Oh, die scharlachrote Hexe! Oh, die ältere Hexe!

Da ich wusste, dass die Chancen gering waren, dass diese seltsamen Wesen, selbsternannte Zapatistas, ein anständiges Schiff bekommen würden, wusste ich genau, nur die mächtigsten magischen Kräfte helfen ihr aus der Patsche helfen und halten ihr Wort. Ergo rief ich die ältere Hexe an, die im purpurnen Gewandt und die die Möglichkeit, dass etwas passiert, verändern kann. Sie stellte Rechnungen auf und machte Geschichten und kam zu dem Schluss: die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Boot bekämen, wäre in der Tat fast null. So sagte sie:

»Aber ich kann nichts tun, wenn es kein Ersuchen gibt. Und nicht nur irgendeine Bitte. Es muss von einem Titanen gemacht werden, einem großen und großmütigen Wesen, das in seiner Gutmütigkeit diejenigen beschützen wird, die ein magisches Ereignis brauchen.«

Und wer könnte das besser als ich, brüllte ich lautstark. Die Dame im karmesinroten Umhang hob die Hand und verlangte mein Schweigen. »Das ist nicht alles«, flüsterte sie. »Es ist notwendig, dass jener Titan sein Leben, sein Schicksal und sein Ansehen bei dieser Odyssee, die diese Wesen beabsichtigen, riskiert. Das heißt, dass er sie mit seinem Atem und seiner Güte begleitet und gemeinsam mit ihnen, wenn auch nicht an ihrer Seite, Herausforderungen und Nöte bewältigt. Das heißt, er wird sein und er wird nicht sein.«

Ich stimmte zu, denn mein einziges Schicksal sind meine Heldentaten, ich riskiere mein Leben allein durch meine Existenz und, nun ja, mein Ansehen liegt in den Untergeschossen der Welt.

Die Hexenschwester tat, was man in solchen Fällen tut: Sie schaltete ihren Computer ein, verband sich mit einem Server in Deutschland, tippte, ich weiß nicht welche Zauberformel, modifizierte ein Wahrscheinlichkeitsdiagramm und erhöhte den Prozentsatz von fast Null auf 99,9%, tippte noch einmal und ein Summen ihres Druckers gab das Papier preis, das dabei herauskam. Nicht ohne vorher die Modernisierung zu würdigen, die in der Gilde der scharlachroten Hexen und dergleichen stattgefunden hatte, nahm ich den Zettel entgegen. Ein einziger Satz füllte ihn:

»Wenn der Titan aus Stahl ist, finde Seinesgleichen, denn davon hängt das Fehlende ab.«

Was hat das zu bedeuten? Wo könnte ich etwas oder jemanden finden, der nicht so sehr ähnlich ist, jedoch sagen wir, der meiner Größe auch nur annähernd entspricht? Es gibt nicht viele Titanen. Tatsächlich bin ich laut Wikipedia von unten und links der Einzige, den es gibt. Also »aus Stahl«. Der Mann aus Stahl? Ich bezweifle es; ich glaube nicht, dass die scharlachrote Hexe einen Mann empfohlen hat. Also eine Frau oder ein weibliches Wesen aus Stahl.

Ich bin einen weiten Weg gegangen. Ich bin von Patagonien bis ins ferne Sibirien gereist. Ich kreuzte Wege mit den würdevollen Mapuche, ich schrie mit dem blutigen Kolumbien, ich durchquerte das schmerzhafte, aber hartnäckige Palästina, ich durchquerte Meere, die mit dem schwarzen Leid der Migrant*innen gefärbt sind, und ich verfolgte meine Schritte zurück und glaubte fälschlicherweise, dass ich in meiner Mission versagt hatte.

Aber als ich in der Geografie, die sie »Mexiko« nennen, an Land ging, erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Auf türkisfarbenen Gewässern erlitt ein Schiff die Reparaturen und Ausbersserungen, die seine Besatzung ihm verpasste. »Stahlratte« (4), stand auf einer Seite geschrieben. Da ich die scharlachrote Hexe im Deutschland von unten gefunden habe, und dieses Wort in ihrer Sprache »Ratte aus Stahl« bedeutet, beschloss ich, mein Glück zu versuchen. Ich wartete mit weiser Geduld, auf dass die Nacht und die Schatten, die Einsamkeit des Schiffes bedecken. Gekonnt kletterte ich den Bug hinauf und kam, an der Steuerbordseite entlang, dorthin, wo sich die Kommandozentrale des Schiffes befindet. Darin fluchte ein Mann in deutscher Sprache, mit Schimpfwörtern und Blasphemien, die selbst die Unterwelt beschämen würden. Es sagte etwas über den Kummer, den es erzeugt, Meer und Abenteuer aufzugeben. Da wusste ich, dass das Schiff seine letzten Tage zählte und der Kapitän und die Besatzung Albträume von einem Leben an Land hatten. Überall auf der Welt verschworen sich scharlachrote Hexen zu meinen Gunsten und meinem Glück. Aber alles hing von mir ab - dem rostfreien Stahlkäfer, dem größten Glücksritter, dem Etcetera - »den Fehlenden« zu finden. Ich wartete dann darauf, dass der Kapitän sein Jammern und Fluchen einstellte. Als er sich beruhigt hatte und nur noch ein Schluchzen aus seiner Kehle drang, kletterte ich zum Ruder und sagte ihm entgegentretend: »Ich Don Durito, wer du?« Der Kapitän zögerte nicht, zu antworten: »Ich Kapitän, du blinder Passagier«, während er eine Zeitung oder Zeitschrift schwenkte und drohte, meine schöne und schlanke Figur auf diese Weise zu zerdrücken. In diesem Moment stellte ich mich mit lauter Stimme vor. Der Kapitän zögerte und bewahrte Schweigen und Zeitung oder Zeitschrift.

Danach genügten uns beiden ein paar Sätze, um zu verstehen, dass wir Menschen von Welt sind, Abenteurer aus Berufung und Entscheidung, Wesen, die bereit sind, sich jeder Herausforderung zu stellen, egal wie Ehrfurcht gebietend und schrecklich sie sein mag.

Bereits im Vertrauen, erzählte ich ihm die Geschichte einer laufenden Odyssee, etwas, das später die Annalen der kommenden Geschichten füllen sollte, die gefährlichste und undankbarste aller Aufgaben: der Kampf für das Leben.

Ich ging ins Detail, ich erzählte ihm von einem Boot, das mitten in den Bergen gebaut wurde, ohne Wasser, außer dem des Regens, um ihm eine Berufung und einen Grund zu existieren zu geben. Ich erzählte ihm von jenen, die sich entschlossen hatten, ein solches Wagnis einzugehen, von Legenden über einen Berg, der sich weigert, seine Füße an Land zu halten, von Mythen und Legenden der Maya, durch die Stimme ihrer originarios (5).

Der Kapitän zündete sich eine Zigarette an, bot mir eine andere an, aber ich musste ablehnen, als ich meine Pfeife herausholte. Wir teilten das Feuer und den Tabakrauch.

Der Kapitän schwieg und sagte nach ein paar Zügen so etwas wie: »Bei meiner Seele, was für eine große Ehre es wäre, sich einer so edlen und wahnwitzigen Sache anzuschließen«. Und er fügte hinzu: »Ich habe jetzt keine Besatzung, denn wir sind bereits im Ruhestand, aber ich bin sicher, dass Frauen und Männer allein durch den Reiz dieser Geschichte kommen werden. Geh zu den Deinigen und sage ihnen, sie sollen sich auf das verlassen, was wir sind: Menschen und Schiff.«

Als meine Geschichte zu Ende war, wandte ich mich an diejenigen, die drohten, mich über Bord zu werfen: »Und so habt ihr Normalsterblichen euch auf dieses Abenteuer eingelassen. Lasset mich also in Ruhe und gehet zurück zu eurer Arbeit und euren Gerätschaften, denn ich muss dafür sorgen, dass der Krake unser Haus und unseren Weg in Ruhe lässt. Dafür habe ich Fischfreunde herbeigerufen, die ihn fernhalten werden«.

-*-

Und zack, in diesem Moment rief jemand an Deck »Delphine!« und alle gingen an Deck, bewaffnet mit Kameras, Handys oder einfach nur ihren staunenden Augen.

In der Verwirrung schlüpfte Durito, der größte der Titanen, der einzige Held auf der Höhe der Kunst, der Komplize von Zauberern und Hexen, hinweg und stieg wieder auf, nun ja, den Mastkorb und von dort stimmte er Gesänge an, die, ich schwöre es, von den Delphinen erwidert wurden, die zwischen Wellen und Beerentang für das Leben tanzten.

-*-

Später, beim Abendessen, bestätigte der Kapitän die Geschichte mit dem Käferchen. Und von diesem Moment an hörte der kleine Käfer auf, »das Käferchen« zu sein und heißt von nun an »Durito Stahlkäfer«.

»Ein Streifen mehr für den Tiger« (6), muss der verstorbene SupMarcos gesagt haben, drei Meter unter Deck, arr, ich wollte sagen, unter der Erde.

Jetzt korrigiert Gabriela kameradschaftlich Stahlkäfers deutsche Aussprache; auf Etes Schulter klettert Durito auf die Spitze des Großmastes; er begleitet Carl, wenn er das Ruder übernimmt, und amüsiert ihn mit schrecklichen und wunderbaren Geschichten; über Edwins Kopf hinweg dirigiert er ihn beim Entfalten und Senken der Segel; und in den frühen Morgenstunden teilt er mit Kapitän Ludwig seinen Tabak und seine Worte.

Und wenn die See rau ist und der Wind sein lüsternes Werben steigert, unterhält das größte Exemplar der fahrenden Ritterschaft, Stahlkäfer, das Geschwader 421 mit unglaublichen Legenden. Wie die, welche die absurde Geschichte eines Berges erzählt, dessen Schiff für das Leben gemacht wurde.

Ich beglaubige es.

SupGaleano.
Planet Erde.


Anmerkung: Das Video der von Stahlkäfer herbeigerufenen Delfine wurde von Lupita aufgenommen, weil das für eine solche Mission zuständige Unterstützungsteam der Comisión Sexta gerade beschäftigt war ... gomitando (7). Ja, es ist zum Fremdschämen. Jetzt ist es die Aufgabe des Geschwaders 421, das Unterstützungsteam zu unterstützen. Und wir müssen immer noch den Atlantik überqueren (seufz).


Anmerkungen der Übersetzerin:
(1) so vom Original übernommen
(2) zu dt. »fahrender Ritter des wandelbaren Reittiers von unbegrenzter Verantwortungslosigkeit«
(3) wortwörtlich: »Weicht eure Bärte ein«; nimmt Bezug auf ein Sprichwort das sinngemäß lautet: Es geht auch dich an, wenn des Nachbarn Haus brennt.
(4) so vom Original übernommen
(5) Verbleibt im Original, da eine Selbstbezeichnung; wortwörtlich übersetzt: »originäre/ ursprüngliche Gemeinschaften/ Völker/ Gemeinden«
(6) Sprichwort sinngemäß: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s gänzlich ungeniert.
(7) Wortspiel aus »gómito« (dt. Brechreiz) und »vomitar« (dt. erbrechen)



Musik: »La Bruja« [»Die Hexe«], Son Jarocho gespielt von Sones de México Ensamble, mit Billy Branch. Bilder: Teil der Überquerung von La Montaña, Ankunft und Ausschiffung in Cienfuegos, Kuba; und Treffen des Geschwaders 421, um sich die Seite von Enlace Zapatista anzusehen [Marijose liest aus dem Kommuniqué »Sobre el mar« (»Auf dem Meer«) vom 6. Mai 2021].

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 Anhang  
  Kommuniqué vom 12. Mai 2021


[i] Hinweis: Chiapas98 ist ein ehrenamtliches, nicht-kommerzielles Projekt. Sollten Sie nachweislich die Urheberrechte an einem der von uns verwandten Bilder haben und nicht damit einverstanden sein, dass es hier erscheint, kontaktieren Sie uns bitte, wir entfernen es dann umgehend.

 Quelle:  
  http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2021/05/12/delfines/ 
 

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