Gedanken aus Wien (wo ein großer Teil der Zapatista-Delegation angekommen ist)
News vom 17.09.2021 |
flaco |

Hinweis: Aktuelle Infos und Möglichkeiten der Unterstützung auf www.zapalotta.org
Liebe Compas und Freund*innen in Deutschland und an anderen Orten
Ich schreibe euch, um einige Eindrücke und Gedanken mit euch zu teilen.
Ich schreibe euch aus Wien, am frühen Morgen, aus dem Vorraum eines kleinen Saales in dem 20 zapatistische Delegierte schlafen. Ihre Reise war lang und ich hoffe, dass sie noch eine Weile Ruhe finden. Leise Geräusche dringen zu mir − jemand dreht sich auf der Matratze um, jemand atmet. Draußen erwacht langsam die Stadt − und weiß nicht was gerade passiert. Weiß ich es? Wissen wir es? Erkennen wir die Dimension dessen, was diese Reise der Zapatistas bedeutet? 500 Jahre nach der Eroberung Mexikos und inmitten einer planetaren Krise?
177 indigene Delegierte befinden sich zur Zeit in dieser Stadt. Rund 40 weitere werden in der kommenden Woche folgen. 177 Indigene aus Mexiko, Vertreter*innen ihrer Gemeinden, ihrer Kulturen. Vertreter*innen von Menschen, die vertrieben, versklavt und ermordet wurden um ihre Ländereien und ihre Arbeitskraft zu rauben. Von Menschen die auch heute weiter vertrieben und ermordet werden.
Sie kommen nicht, um anzuklagen, so haben sie bereits vor Monaten geschrieben. Sie kommen, um die zu suchen, die den Schmerz der Erde teilen. Sie kommen, um diejenigen zu finden, die gleich ihnen Wege suchen, dieses mörderische und selbstmörderische System zu überwinden, das das Leben auf dieser Erde in seiner Gesamtheit bedroht.
Bei der Ankunft der ersten Gruppe am Flughafen hielt der Subcommandante Moises eine Rede − vor 99 Delegierten. Frauen in traditionellen Kleidern oder Hosen, einige Männer, Kinder. 99 Indigene in der Mittagssonne- mehr oder weniger schwer bepackt mit Rucksäcken, erschöpft aber diszipliniert. Wir waren etwa gleich viele, die gekommen sind um sie zu begrüßen, aus Wien, aus einigen Regionen Österreichs, aus einigen Ländern Europas.
In seiner Rede beschrieb Moises ein düsteres Bild vom Zustand unserer Erde. Die Zapatistas − in ihrem abgeschiedenen Winkel des Planeten -haben die Lage der Welt sehr wohl im Blick. »Wenn wir uns gegen die Natur wenden, dann wird die Natur uns antworten«, so Moises sinngemäß. Und sie machen eine klare Ursache aus. Sie nennen diese Ursache »Kapitalismus« − ein Kapitalismus der seinen Ursprung − und nach wie vor eines seiner Machtzentren − in Europa und besonders auch in Deutschland hat.
Sie sind nicht hier, weil eine wohltätige Organisation sie eingeladen hat. Sie sind hier, weil sie selbst sich dazu entschlossen haben. Weil sie sich organisiert haben und einen unvorstellbaren Berg an Schwierigkeiten überwunden um von ihren Gemeinden bis hierher zu gelangen. Es waren nicht wir, die Gruppen und Netzwerke in Europa, die dies geschafft haben. Es waren sie. Wir hätten es nicht geschafft und viele von uns haben zwischendurch den Mut verloren, haben der Erschöpfung nachgegeben oder sind an den Unwägbarkeiten verzweifelt. »Doch nicht jetzt, inmitten der Pandemie« − »Wie sollen wir das schaffen?«, so waren Gedanken und Worte, die immer wieder auftauchten. Nun, sie haben es geschafft − wir haben es geschafft. Bis hierher.
Die Bedingungen sind prekär. Die Matratzen liegen auf dem Betonboden, den Saal müssen wir in den kommenden Tage voraussichtlich mehrmals räumen, weil er für Jugendarbeit gebraucht wird. Das Essen reicht für die nächsten Tage und ob inzwischen Geld da ist um weiteres zu kaufen, weiss ich nicht. Die Freund*innen aus Wien sind wenige − eine Handvoll, die diese gewaltige Aufgabe vor wenigen Wochen übernommen haben. Einige Dutzend, die inzwischen involviert sind − viele von außerhalb, und etliche, die in den kommenden Tagen wieder abfahren. Wir sind wenige − das müssen wir anerkennen. Und gleichzeitig ist es wunderbar zu erleben, wie wir hier vor Ort über Grenzen und Sprachen hinweg das tun was notwendig ist. Wir wissen nicht wie es weitergeht, welches unsere und ihre Schritte der nächsten Tage und Wochen sein werden. Aber hier und jetzt hat etwas Neues begonnen. Und vielleicht ist das, was wir hier in diesen Tagen tun, eine Lehre und eine Vorbereitung auf das, was es in den kommenden Jahren zu tun gilt. Es lässt sich nur wenig planen.
Die Stadt erwacht und weiß nichts davon. In der Presse ist nichts zu lesen. Der Verkehr ist lauter geworden, manchmal scheppert die Eisentreppe, wenn ein Lastwagen vorbeifährt, durch die Fenster fällt Tageslicht in unsere Räume im Souterrain. Erste Stimmen sind aus dem Nebenraum zu hören, Lachen und ein Ranchero-Song aus einem Handylautsprecher.
Hier, in Wien, in Europa, sind die Zapatistas. Wir haben begonnen, miteinander zu sprechen. Hier, auf unserem Kontinent. Von Mensch zu Mensch, von compa zu compa.
Europa weiß nichts davon, glaube ich. Aber hier, im Kleinen, im Unten, mit den wenigen die wir sind, wächst etwas. Und ich hoffe, dass dieses zusammenwächst mit anderem was jetzt schon an anderer Stelle wächst- und dass wir zusammen all das tun was wir in der Lage sind um das Leben auf diesem Planeten zu retten.
»Es fehlt noch viel. Das heißt: Alles.« schrieb der Sub Galeano vor einigen Wochen.
Inzwischen verstehe ich das ein wenig mehr.
flaco,
Wien, 16. September 2021
[i] Hinweis: Chiapas98 ist ein ehrenamtliches, nicht-kommerzielles Projekt. Sollten Sie nachweislich die Urheberrechte an einem der von uns verwandten Bilder haben und nicht damit einverstanden sein, dass es hier erscheint, kontaktieren Sie uns bitte, wir entfernen es dann umgehend.
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