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Eine ungewöhnliche Reise

News vom 06.03.2001
Raina Zimmering
übersetzt von Raina Zimmering

  Hallo,

Wenn Ihr Interesse an meinem persönlichen Reisebericht über die Karawane habt, dann könnt Ihr ihn Euren vielen Artikeln hinzufügen. Das gleiche gilt für das Interview mit Tatiana Coll und Cesar Navarro während der Karawane.

Raina


Eine ungewöhnliche Reise

Bericht über die Begleitung des Marsches für die indigene Würde der EZLN von Chiapas nach Mexiko-Stadt

Im siebenten Jahr des Aufstandes zogen 23 Kommandanten des Zapatistischen Heeres der Nationalen Befreiung (EZLN) und Subkommandante Marcos aus dem Lakandonischen Urwald in Chiapas durch 12 mexikanische Bundesstaaten nach Mexiko- Stadt, um dort mit dem Parlament über den Vertrag von San Andres über die Indigenen Rechte und Kultur zu verhandeln und diesen verfassungsmäßig zu verankern. Die Kommandanten wurden von Tausenden Vertretern der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft auf der "Karawane der indigenen Würde" begleitet. Die große Sympathie und Unterstützung, die die Zapatisten unter der mexikanischen Bevölkerung und der internationalen Zivilgesellschaft erfuhren, ließ alle Versuche zerbrechen, den Auftritt der EZLN vor dem Parlament zu verhindern. Am 28.03. war es dann so weit, und der Kongress hörte das erste Mal in der mexikanischen Geschichte die indigene Stimme seines Landes. Vier Vertreter der EZLN und drei des CNI (Nationaler Indigenakongress) sprachen über ihre Situation, ihren Kampf für ein würdiges Leben und den Vertrag von San Andres. In der Hoffnung, dem Frieden und Dialog ein Stück näher zu sein, kehrten die Zapatistas danach in ihre Heimat zurück und erklärten in San Cristobal nach 37 Tagen das Ende der Karawane.

Dr. Raina Zimmering, Politikwissenschaftlerin und Historikerin aus Berlin, die seit vielen Jahren zu Lateinamerika forscht, nahm an der Karawane direkt teil und berichtet nun über ihre ganz persönlichen Eindrücke.

Diese Reise durch einen großen Teil Mexikos war eine der ungewöhnlichsten Reisen, die ich je erlebt hatte, ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Das, was sich so realisierte, wie es von Anfang an gedacht war, war die Erfüllung einer politischen Funktion: als Teil einer zivilgesellschaftlichen Weltöffentlichkeit zur Konfliktbewältigung zwischen der EZLN und der mexikanischen Regierung beizutragen. Und wenn 28.03. vier Kommandanten vor dem Kongress sprachen und der Beginn des Dialogs mit der Regierung erreicht wurde, was eventuell den militärischen Rückzug der EZLN zur Folge haben wird, dann hat sich diese Funktion auch tatsächlich ausgezahlt und hat zu einem guten Ergebnis geführt.

Wie aber diese Funktion genau aussehen würde, d.h. was Begleitung eines Marsches bedeuten würde, war mir vorher weitgehend unklar. Mir imponierte die Reiseroute über Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Puebla, Tlaxcala, Hidalgo, Queretaro, Guanajuato, Michoacan, Estado de Mexico, Morelos und Guerrero. Von meinen bisherigen Forschungsreisen nach Mexiko kannte ich nur einen Teil dieser Bundesstaaten und freute mich nun, weiteres kennen zu lernen. Doch kam es ganz anders. Wenn ich während der Karawane etwas kennenlernte, waren es nicht die Orte, sondern die Menschen, mit denen ich im Bus fuhr, die Menschen am Straßenrand, die uns zuwinkten, die Menschen auf den Plätzen, die den Kommandanten zuhörten und applaudierten und schließlich die Menschen, die uns Essen gaben und einen Schlafplatz in ihren ärmlichen Behausungen anboten. Also Menschen statt Orte!

Während der Karawane saßen wir oft 16 bis 20 Stunden in dem altertümlichen klappernden Autobus mit schmalen Sitzen und harten Armlehnen, die eine Veränderung der steifen Sitzposition völlig unmöglich machten. Die Nagelprobe auf die lange Reise in diesem Fahrzeug machten wir gleich am Anfang, als wir über 30 Stunden brauchten, um von der Hauptstadt nach San Cristobal zu kommen, und dort dann die Eröffnung der Karawane um viele Stunden verpassten. Mitten in der Nacht kamen wir an und fanden auf dem Zocalo von San Cristobal nur noch Tausende schlafende Zapatisten vor, die sich mit ihren Pasamontanas auf dem Kopf, in Decken eingewickelt, auf das Pflaster gelegt hatten. Dies war ein sehr seltsamer Anblick und hatte mit den euphorischen Berichten, die ich später über die Verabschiedungs- bzw. Auftaktveranstaltung des Marsches gelesen hatte, wenig gemeinsam. Die Insassen meines Busses, in der Mehrzahl spanische Katalanen, ergatterten ein Dreibettzimmer in einer der ausgebuchten Posadas auf, in das sich 17 Leute von uns zwängten, die anderen schliefen auf dem Hof. Am Morgen, den 25.02. standen wir um 4.00 Uhr morgens auf, um rechtzeitig am Aufbruchplatz zu sein, wo der Bus auf uns warten sollte.

Als wir noch schlaftrunken an dem vereinbarten Ort an einer Ausfahrtstrasse in San Cristobal ankamen, waren wir nicht die ersten. Schemenhaft tauchten im Morgennebel am Straßenrand Tausende Indigenas in Pasamontanas auf, sicher dieselben, die in der Nacht auf dem Zocalo geschlafen hatten und von weit her gekommen waren, um ihre Kommandanten und deren Begleiter für die weite Reise in die Hauptstadt zu verabschieden. Die Pasamontanas ließen nur die schwarzen Augen der Indianer frei und hatten den Effekt, dass man diesen Menschen wie fasziniert ständig in die Augen sehen musste. Das, was Subcomandante Marcos so oft betont hatte, das Absurdum, dass sie sich ihre Gesichter verhüllen, um gesehen zu werden, wurde hier erlebbar. Noch nie in meinem Leben hatte ich so intensiv so vielen Menschen in die Augen geschaut. Und es war, als würden sich unsere Seelen wieder und wieder in diesen vielen Blicken treffen, als senkten sich ihre dunklen glänzenden in meine hellen Augen und sahen mir bis ins Herz.

Es dauerte Stunden, und es war schon heller Tag, als sich die Karawane, angeführt durch den Bus der Kommandanten und gefolgt von den Fahrzeugen der mexikanischen und internationalen Begleiter in Bewegung setzte. Das war nun der wirkliche Anfang.

Da wir in zivilgesellschaftlicher Art agierten, gab es auch, abgesehen von der Registrierung vorher, keine zentrale Koordination der Karawane, sondern es wurde auf Selbstorganisation gesetzt. Nachdem wir fast zwei Nächte nicht geschlafen und zwei Tage nichts zu uns genommen hatten, beschlossen die Insassen des Busses in einer Versammlung, dass wir essen und schlafen müssen und dies selbst organisieren wollen. Wir wählten zwei Sprecher und gründeten eine Kommission zur Lebensmittelbeschaffung, die Geld eintrieb und Essen besorgte. Es kamen neue Bedürfnisse hinzu, so dass wir in weiteren Versammlungen weitere Kommissionen zusammenstellten, die sich mit Sicherheit, Information, Reinigung und Unterkunft beschäftigen. Nun funktionierten wir fast wie ein Staat -ein Busstaat nach der Art von Thomas Morrus. Bald reichte nicht mehr eine Versammlung am Tag, es wurden drei oder vier und bald wirkten die Stationen der EZLN fast störend in unserem "perfekten Organisationsgefüge". Eigentlich genügten wir uns selbst. Teilweise war dieser kollektive Egozentrismus auch ein Schutz vor einer zu großen Frustration, wenn wir wieder einmal eine Manifestation verpasst hatten, da der Bus im Stau steckengeblieben war, eine Panne hatte oder uns andere Vorkommnisse aufhielten. So verschwanden eines Tages 7 Autobusse, die wegen ihrer Verseuchung mit Skorpionen in die Reinigung fahren wollten, nie wieder auftauchten und ihre Insassen einfach stehen ließen. Wir mussten einige dieser "Migranten" schließlich in unseren "Busstaat" integrieren. Die Integrationsleistung gelang nie ganz, da ihnen unser politisches Prozedere und unsere Singe-, Spiel- und Tanzkultur fremd vorkamen. Der Kernstaat wiederum hatte erhebliche Probleme, die Sprecher der anderen, die Spanisch mit französischem und nicht katalanischem Akzent sprachen, zu akzeptieren. Frustrierend war auch, dass wir zwar an der Karawane direkt teilnahmen, aber nicht wussten, was sich um die Karawane herum wirklich abspielte. In den Bussen isoliert, in diesen Blechkästen gefangen, erfuhren wir fast nichts. Wenn wir in einem Ort Halt machten, waren alle Tageszeitungen jedes Mal ausverkauft.

Doch immer wieder wurden wir aus unserem eigenartigen Sonderleben herausgerissen, erwachten aus dem durch das gleichmäßige Gerüttel des alten Busses hervorgerufenen Halbschlaf und wurden mit der aufregenden Realität dieses einmaligen historischen Erlebnisses des Marsches konfrontiert. Die Massen von Menschen, die uns am Straßenrand zuwinkten, und die begeisterten Menschen während der Manifestationen hinterließen einen solch starken Eindruck, den sicher keiner von uns je in seinem Leben vergessen wird.

Von den vielen Stationen unserer Reise ist mir der Auftritt der EZLN in Tuxtla Gutierrez, der Verwaltungshauptstadt von Chiapas, besonders im Gedächtnis geblieben, vielleicht deshalb, weil es die erste dieser Veranstaltungen war, die wir richtig miterlebten, vielleicht, weil sie sehr eindrucksvoll war. Nachdem wir halb betäubt aus unserem Bus fast herausfielen, der als der 42. von ungefähr 60 Bussen, ziemlich weit hinten in der Reihe der parkenden Fahrzeuge stand, an diesen vorbeihasteten, um die Manifestation auf dem Zocalo nicht zu verpassen, drang die lärmende und bunte Wirklichkeit wie durch einen Schleier in mein Bewusstsein. Immer mehr Menschen, die die Kommandanten hören und sehen wollten, gesellten sich zu uns, bis wir uns inmitten einer fröhlichen Menschenmenge auf dem Zocalo wiederfanden. Es bemächtigte sich meiner ein für Mexiko sehr ungewohntes, aber durchaus angenehmes Gefühl innerhalb von Menschenansammlungen, weder zeigte diese hier die kommerzielle Geschäftigkeit eines Marktgewimmels, noch das obligate Pflichtbewusstsein öffentlich angeordneter Manifestationen. Man merkte, dass die Menschen aus freiem Willen gekommen waren, um etwas zu gewinnen, was aber nichts mit Geld oder Ruhm zu tun hatte. Man selbst fühlte sich dazugehörig, unter Gleichen. Dieses Gefühl sollte mich während der ganzen Karawane nicht mehr verlassen.

Unter dem grünen Blätterdach der alten Bäume auf dem Zocalo, umringt von den repräsentativen Gebäuden der Kolonialzeit, fielen die vielen Plakate, Spruchbänder und bemalten Tücher ins Auge, auf denen Indigenas, Marcos, Zapata und Che Guevara, meist sehr farbenfroh, abgebildet waren. Die Figuren verwiesen auf das, worauf sich die EZLN und die Menschen hier auf den Platz bezogen, auf soziale Gerechtigkeit, die auch den Armen und Andersartigen ein würdiges Leben ermöglichen sollte. Durch diese bunte, lebendige Dekoration war das Rathaus, vor dem die Bühne aufgebaut war, fast verdeckt. Nur der obere Teil mit dem mittleren Uhrenturm, auf dem die mexikanische Fahne wehte, schaute hervor. Die EZLN- Kommandanten standen auf einer nicht sehr hohen hölzernen Tribüne, alle in einer Reihe, ohne Rang, frontal zum Publikum. Manche trugen ihre bunten Trachten und Hüte, andere Uniformen. Pasamontanas trugen alle und ließen sie einerseits als homogene Gruppe erscheinen, andrerseits wurde gerade durch die Verdeckung des Gesichts die konstitutionell- körperliche und gestische Individualität eines jeden besonders deutlich. Am Ende der Reihe stach ein Mann durch seine Körpergröße und den aufsteigenden Pfeifenrauch hervor, das musste Marcos sein. Nachdem lokale Indigenavertreter und eine Reihe von EZLN-Kommandanten gesprochen hatten, kam der Subkommandante, von Marcos-Rufen begleitet, ans Mikrofon. Seine Stimme war nicht laut und fast weich, doch sprach er mit Nachdruck. Marcos fehlten die großen schneidenden Gesten und die proklamatorische Rhetorik, die Politikern bei öffentlichen Auftritten üblicherweise eigen sind. Die sparsame Körpersprache drückte Demut und Beharrlichkeit zugleich aus. Es entstand der Eindruck, er unterhielt sich mit jedem Einzelnen in einem Gespräch unter vier Augen und fragte nach der Meinung des anderen. Man fühlte sich gar nicht so sehr als Zuhörer, sondern eher zu einem Rat aufgefordert.

Marcos sprach von den Indigenas als den Hütern der Erinnerung und dass es ohne Erinnerung keine Zukunft gäbe, dass Mexiko seine Geschichte nicht vergessen darf und deshalb die Indigenas braucht. Wichtiges Anliegen des Kampfes der Zapatisten ist es, der Differenz zum Durchbruch und zur Akzeptanz zu verhelfen, denn die Indigenas sind anders, handeln nach anderen Logiken, die nicht in die neoliberalen Gesetze passen. Und trotzdem sind sie Teil dieses Landes und das Land auf sie angewiesen. Deshalb muss man das Andere als Anderes, aber gleichzeitig Eigenes erkennen und anerkennen. Es war eine Rede gegen den Ausschluss und für die Autonomie der Indigenas, wie es im Gesetz von San Andres für indigene Rechte und Kultur garantiert werden soll. Diese Rede hörte sich in ihrer poetischen Sprache wie ein Gedicht an und unterschied sich stark von einer politischen Deklaration. Ich wurde wieder an den Moment erinnert, als ich das erste Mal eine Schrift von Marcos in der Hand hielt und, müde vom Tag, keine Lust zum Lesen hatte, nach den ersten Worten jedoch hell wach wurde und tief berührt fast die ganze Nacht die Geschichten las, die vom alten Antonio erzählten, der schon gestorben war und immer dann auftauchte, wenn die Guerilleros in eine besonders komplizierte Lage gerieten, und dann eine alte Mayalegende erzählte. Auch fesselten mich die witzigen Betrachtungen des Käfers Durito, der Don Quichot ist und Marcos zu seinem Schildknappen erklärte, und ihn ständig über komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge wie den Neoliberalismus aufklärte, und die Berichte über das weise Indianermädchen Tonita, das die ganze Tragik des Kinder-, Indigena-, Armen- und Zapatistadasein durchleben muss. Durch den Spiegel dieser Geschichten verstand ich die Misere der Indigenas und das, was der Zapatismus in seinem Kampf gegen das Ausgeschlossensein sein will und das Eigenartigste war, dass ich mich selbst als einen der Teil davon begriff.

Da ich nahe der Bühne stand, konnte ich deutlich die Augen des Subkommandanten erkennen. Sie sahen den Leuten offen und warm ins Gesicht. In ihnen konnte man die Trauer ideeller Niederlagen und Enttäuschungen, die Erfahrungen schrecklichen Elends und Entbehrungen während vieler Jahre im Urwald in den indigenen Gemeinden und in Isolation und Verfolgung erkennen, aber ich entdeckte auch etwas Großes, das mit dem Halbgedanken eines neuen Weges zu tun hat. Faszinierend ist, dass dieser Blick fragt, fragend umherschaut und ständig auf der Suche ist. Was mir auffiel, war, dass seine Augen jetzt von mehr Fältchen umrahmt waren, als vor anderthalb Jahren, als ich Marcos während eines Besuches der Zivilen Internationalen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte (CCIODH) in La Realidad begegnete. Nach seinem Vortrag über den Konflikt in Chiapas sprachen wir über Deutschland, die DDR und über ein Thema, das uns beiden sehr wichtig ist − die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für die eigene Identität. Rauschender Beifall schreckte mich aus meiner Gedankenversunkenheit auf. Inzwischen war es Nacht geworden. Die Veranstaltung war zu Ende und eine heiße Sympathiewelle, getragen von Rufen wie "Ihr seid nicht allein!", "Zapata lebt, der Kampf geht weiter!" oder "Wir alle sind Marcos!" rollte vom vollen Platz durch das Dunkel auf die Kommandanten zu, die sich winkend verabschiedeten und von der Bühne stiegen.

Für uns, die von außen Betrachtenden, war es beeindruckend, zu erfahren, welche Zuwendung und Sympathie die Zapatistas unter den ganz normalen Leuten hier erfuhr, die von den Zapatistas als Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Automatisch stellte sich die Frage, wie es bei uns zu Hause aussieht, wenn es um die Unterstützung von Benachteiligten oder Aktionen zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten geht. Diesen in Tuxtla Gutierres erlebten Enthusiasmus erfuhren wir bei allen Haltepunkten wieder und waren auch immer wieder neu beeindruckt.

Einer der Höhepunkte der Reise war der Nationale Indigenakongress (NCI), der in dem kleinen Indianerdorf Nurio im Bundesstaat Michoacan stattfand. Sicher war das eines der wichtigsten Daten in der Geschichte dieses kleinen Ortes mit einer viel zu großen alten Kirche aus dem 16. Jahrhundert und einem wertvollen, über und über mit Stuckmalerei ausgeschmückten barocken Kirchlein. Die Bewohner brachten die Tausenden Besucher bei sich zu Hause und in der Kirche unter, versorgten sie mit Essen. Unsere Gruppe hatte ein bisschen Pech, da uns eine Familie einen Hausrohbau ohne Fenster, Wasser und Toiletten zur Verfügung stellte. Wir lagen mit unseren Schlafsäcken direkt auf dem nackten Boden und versuchten nachts nicht an die Kälte und die harte Unterlage zu denken. Trotzdem wachten wir morgens halb erfroren auf und waren mit die ersten Gäste auf dem Kongress, der im Freien stattfand, wo man sich in der mit aller Wucht hervorbrechenden Sonne schnell aufwärmen konnte. Neben dem Dorf war ein riesiges an einem leichten Hang gelegenes Territorium für den Kongress vorbereitet. Vor unseren Augen tauchte im Hintergrund eines breiten flachen Hochtales auf lehmigen Feldboden die Tribüne auf, die mit ihren aus rohen Stämmen gezimmerten und fahnenbehangenen Aufbauten einem Schiff ähnelte. An diesem Morgen bot sich uns ein wunderbares Spiel der Farben. Unter dem strahlend blauen Himmel breitete sich die goldgelbe und umbrafarbene, furchendurchzogene Erde eines abgeernteten Feldes aus, auf der die Indigenas in ihren farbenprächtigen Trachten wie bunte Tupfer hervorstachen. Die Bilder mit wichtigen Porträts aus der mexikanischen Geschichte unterhalb der Tribüne und die zahlreichen Plakate und bemalten Stoffe, die rechts und links davon aufgehängt waren und den Tagungsort weiträumig eingrenzten, bildeten einen weiteren Kontrast zur braunen Erde. Im Hintergrund bildeten die in milchiges Blau getauchten Berge, die für die Indigenas Götter sind, den Übergang zum Himmel. Hier wurde mir klar, warum die indigenas immer sagen, "wir, die wir von der Farbe der Erde sind". Es wurde auch offenbar, dass auf dieser Erde und unter diesem Himmel der Geist des Vertrages über die indigenen Rechte und Kultur entstanden war. Dieser Vertrag war nun das Hauptthema auf dem Kongress. Sowohl im Plenum als auch in den vier verschiedenen Arbeitsgruppen wurde nur darüber gesprochen. Es ging um eine Bestandsaufnahme der Verhältnisse in den 44 hier vertretenen indigenen Gemeinden aus dem ganzen Land, um die Diskussion des Vertragstextes, die Möglichkeiten seiner Propagierung und schließlich um den Weg, eine verfassungsmäßige Verankerung zu erreichen. Zwei Tage lang diskutierten die Vertreter der verschiedenen indigenen Gemeinden hart, damit jede Arbeitsgruppe am Ende auch wirklich ein greifbares Ergebnis mit handhabbaren Vorschlägen nachweisen konnte. Die Kommandanten der EZLN beteiligten sich an der Diskussion wie alle anderen Teilnehmer. Ein wichtiges Ergebnis war, dass der Nationale Indigenakongress (CNI) als Institution an den Verhandlungen im Parlament in Mexiko-Stadt teilnehmen und dass er auch die Karawane bis zur Hauptstadt begleiten sollte. Von da ab trat die EZLN immer zusammen mit dem CNI auf.

Auf der großen Abschlusskundgebung wurden die Ergebnisse des Kongresses mit Tänzen und Gesängen aus verschiedenen Regionen gefeiert. Am Ende fand eine aufwendige Zeremonie zur Hissung der mexikanischen Fahne statt und es wurden, wie auf jeder anderen Manifestation, die Nationalhymne und die Hymne der Zapatisten gesungen. Darin drückten die aufständischen Indigenas aus, dass sie beanspruchen, gleichberechtigter Teil der mexikanischen Nation zu sein. Die Beifallsbekundungen der ca. 10 000 Kongressteilnehmer wollten trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, die die empfindliche Kälte der Berge mit sich brachte, gar nicht enden.

Die Ankunft der EZLN auf dem Zocalo der Hauptstadt erlebte ich nicht mehr von der Karawane, sondern von dort aus, da ich in Guernavaca ausgestiegen war und mich seitdem in Mexiko-Stadt befand. Der Zocalo füllte sich schon am frühen Morgen um 10.00 Uhr mit Menschen. Geduldig warteten alle. Die Tribüne war bereits aufgebaut. Sie stand direkt vor dem breit ausladenden Gebäude des kolonialen Regierungspalastes und von weitem hatte man den Eindruck, als würde das Spruchband "Willkommen EZLN" direkt an der Fassade des Palastes befestigt sein. Um 14.00 Uhr etwa kamen die Kommandanten auf einem offenen Lastkraftwagen angefahren und erstiegen die Bühne. Wie muß diesen Frauen und Männern zumute gewesen sein, als sie den Zocalo betraten, als sich ihren Blicken der Regierungspalast, die Kathedrale, die Hotels und Verwaltungsgebäude zeigten, dieser Anblick, den sie seit dem Beginn ihres Kampf um den Dialog immer vor ihrem inneren Auge hatten? Und jetzt betraten sie diesen Ort, zwar noch vermummt, aber frei und von einer riesigen jubelnden Menschenmenge begrüßt. Dieses Ereignis war sicher eines der denkwürdigsten in der mexikanischen Geschichte und führte die Hoffnung auf gerechte Veränderung und Anerkennung der Indigenas als einen Teil der mexikanischen Nation in die Hauptstadt. Zu diesem Zeitpunkt war noch völlig unklar, ob es der EZLN gelingen würde, vor das Parlament zu treten und über den Vertrag von San Andres zu verhandeln. Das Parlament hatte Sommerpause und in der regierenden Partei der Nationalen Aktion (PAN) gab es erheblichen Widerstand gegen das Auftreten der EZLN. Präsident Fox hatte auch noch nicht die drei von den Zapatisten geforderten Signale, die Schließung von sieben Militärlagern, die Freilassung von 100 zapatistischen Gefangenen und die Diskussion des Vertrages von San Andres, als Bedingung für die Aufnahme des Dialogs erfüllt. Dass Vertreter der EZLN und des CNI dann doch vor dem Kongress sprachen, dass Fox alle sieben Militärlager schloss und weitere Zapatistas aus den Gefängnissen entließ, und dass die EZLN schließlich nach Hause zurückkehren konnte, war der Beharrlichkeit, Geduld und Konsequenz der EZLN, die in sich den Widerspruch trägt, Guerilla und Friedensbewegung zugleich zu sein, aber zu einem ganz großen Teil der mexikanischen Bevölkerung, die seit 1994 auf der Seite der Zapatisten stand und in ihrer Unterstützung nie ermüdet ist, zu verdanken. Nicht zuletzt hat auch die internationale Zivilgesellschaft, nicht allein durch die Begleitung während der Karawane, sondern durch eine jahrelange Menschenrechtsarbeit sehr vieler Menschen in der ganzen Welt ein wenig zu diesem ersten Schritt auf dem Weg zum Frieden in Mexiko beigetragen.



Rainer Schultz und Raina Zimmering
Interview mit Tatiana Coll und Cesar Navarro

Das folgende Interview wurde während der "Karawane für die Indigene Würde" des Zapatistischen Heeres der Nationalen Befreiung (EZLN) vom Lakandonischen Urwald in Chiapas über 12 Bundesländer in die mexikanische Hauptstadt unter der Begleitung der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft am 08.03.2001 mit den zwei führenden Gründungsmitgliedern der Zapatistischen Front der Nationalen Befreiung (FZLN) Tatiana Coll und Cesar Navarro geführt.

Interviewer sind Dr. Raina Zimmering, Politikwissenschaftlerin und Historikerin aus Berlin, die sich seit langer Zeit mit Lateinamerika beschäftigt, und Rainer Schultz, Student der Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Beide nahmen direkt an der Karawane als Vertreter einer internationalen Nichtregierungsorganisation teil, um zur friedlichen Konfliktbeilegung und zur Friedenssicherung in Mexiko beizutragen.

Raina Zimmering: Ihr seid Aktivisten der Frente (Zapatistische Front der Nationalen Befreiung) und meine Frage ist, seit wann besteht die Frente und welche Ziele hat sie?

Tatiana Coll: Sie wurde 1996 als Ergebnis der ersten zapatistischen Umfrage − Consulta − von 1995 ins Leben gerufen. Es war das erste Mal, dass eine bewaffnete politische Kraft eine nationale Umfrage in der Art einer Bürgerorganisation durchführte, um den zivilen Zapatismus ins Leben zu rufen. Die Ziele der Frente sind, den Zivilen Zapatismus in Bezug auf die grundsätzlichen Forderungen der zapatistischen Bewegung zu entwickeln. Das bedeutet eine direkte Verbindung zwischen Zivilgesellschaft und Zapatismus als politischem und strategischem Phänomen. Wir von der Frente akzeptieren, dass wir unter der Leitung der EZLN (Zapatistisches Heer der Nationalen Befreiung) mit ihnen zusammenarbeiten.

Raina Zimmering: Das bedeutet, dass die Frente der zivile Arm der EZLN ist?

Cesar Navarro: Nein, im Gegensatz zu den politischen Erfahrungen in anderen Ländern, wo es auch bewaffnete Bewegungen gibt, die über einen politischen und nichtbewaffneten Arm verfügen, ist dies bei der EZLN nicht der Fall. Wir sind Teil einer einzigen Strömung, wir gehören zu der großen Bewegung der Indigenas in Chiapas, die die EZLN gegründet hat. Aber die politische Aktivitäten der EZLN drücken sich nicht nur in dem Kampf mit Waffen aus, sondern sie zeigen sich in der Idee, eine große politische Bewegung der gesamten mexikanischen Gesellschaft zu sein, die sich für die sozialen Forderungen der Indigenas einsetzt. Der zapatistische Kampf beabsichtigt, die mexikanischen Gesellschaft demokratisch zu verändern und Gerechtigkeit und Würde für die ganze Bevölkerung durchzusetzen. Schließlich sind wir eine "Schwesterorganisation", aber nicht konzipiert als zivile, pazifistische Organisation, nicht wie der Arm der bewaffneten Bewegung, sondern vereint in einem einzigen Programm und einer Organisation. Die Idee des Zapatismus ist, eine politische Gruppe der Zivilgesellschaft zu bilden, die mit der EZLN in ihren Forderungen, Programm und den Kampfzielen übereinstimmt. Das heißt wir stehen weder darunter noch darüber, sondern wir gehören zusammen, die einen bewaffnet, die anderen nicht, aber nicht als Anhängsel handelnd, sondern in einem gemeinsamen Sinn.

Tatiana Coll: Ich möchte noch etwas Wichtiges hinzufügen. Die EZLN hatte verschiedene Initiativen in der Zivilgesellschaft unternommen, einen zivilen Zapatismus zu entwickeln, wie er sich in der Karawane ausdrückte. Der zivile Zapatismus ist viel mehr als nur eine Organisation. Die EZLN hat zunächst die Demokratische Nationale Konvention als eine Organisationsmöglichkeit mit politischen Zielen gegründet. Danach rief sie dazu auf, die Nationale Befreiungsfront zu formieren; das geschah am 5. Februar 1995, im Zusammenhang mit der großen Offensive der Regierung gegen die EZLN und die Demokratische Nationalen Konvention. Und es haben andere Initiativen danach stattgefunden, nicht nur diese. Es gab auch die zapatistischen Koordinatoren als Arbeitsinstanz in der zivilen Gesellschaft. Und es haben viele weitere Initiativen stattgefunden. Die EZLN hat nicht gesagt, diese oder jene Form müsse sie annehmen. Von unterschiedlichen Personen der Zivilgesellschaft gibt es verschiedene Vorschläge, denn der Zapatismus geht davon aus, dass die Menschen nicht so quadratisch im alten Sinne sind und sich alle politischen Akteure in einer Partei mit einem Statut und einer Struktur organisieren müssen. Deswegen befürwortet der Zapatismus viele Organisationsformen, die Umfrage ist eine davon.

Raina Zimmering: Bedeutet das, dass eine große Bewegung der Zivilgesellschaft entstanden ist, die sich um die EZLN herum gebildet hat?

Cesar Navarro: In den Momenten, in denen die EZLN die Friedensinitiative begann, hat gleichzeitig eine große Umfrage im ganzen Land stattgefunden, ob die Zapatistas sich in eine politische Kraft umwandeln sollen. Das ist ein einmaliges Ereignis im Land. Der größte Teil der Mexikaner, die an dieser Befragung teilnahmen, waren der Meinung, dass die EZLN, um den Frieden zu konkretisieren und die dringensten Probleme, die zum Aufstand von 1994 geführt haben, zu lösen, nicht nur als eine bewaffnete Bewegung in Chiapas agieren soll, sondern sich auch in eine politische Kraft umwandeln und all die Mexikaner binden soll, die mit den Forderungen der Zapatistas übereinstimmen. Deswegen hat sich als ein Teil dieser Idee die Frente zur Koordination der Gesellschaft gegründet. Aber als sie von der EZLN gegründet wurde, war klar, dass sie keine politische Partei werden soll im Gegensatz zu den traditionellen politischen Organisationen. Ein wichtiger Teil der Kritik der Zapatistas an dem demokratischen Leben Mexikos ist die traditionelle Organisationsform der mexikanischen Gesellschaft und der politischen Parteien überhaupt. Die EZLN übte daran grundlegende Kritik. Es handelt sich darum, dass die politischen Parteien Wählerparteien sind. Die Politische Parteien beschränken die Partizipation der Bürger auf die Auswahl der Kandidaten, die die Parteien vorschlagen. Im Zentrum der Kritik dieser Form von Demokratie steht die Idee, nicht nur durch Wahlen etwas zu verändern, nicht nur politische Macht über die Wähler zu gewinnen, sondern die Bürger sollen auch außerhalb von Wahlen in der Lage sein, zu bestimmen, wer regiert und Forderungen nach Veränderungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung von Mexiko durchzusetzen. Das bedeutet eine politische Kraft, die keinen Wählerstatus besitzt, die sich grundlegend von den bisherigen politischen Konzeptionen unterscheidet und der mexikanischen Gesellschaft größtmögliche politische Partizipation ermöglicht.

Tatiana Coll: Das bedeutet, dass sich die EZLN in den klassischen Termini der Historiographie als eine strategische Kraft des Wandels konstituierte. Deswegen bildeten sie sich als Leitung der Konfrontation. Deshalb ist es nicht zufällig, dass Tausende und Tausende von Leuten während diesem Marsch auf die Strasse gingen und die EZLN lauthals unterstützen. Sie sind auf der Strasse und verstehen, worum es in diesem Kampf geht, um den Aufbruch, den die Zapatistas begonnen haben. In diesem Kontext konstituiert sich die EZLN als eine strategischen Kraft mit einem Vorschlag zur Veränderung. Rainer Schultz: Der nordamerikanische Intellektuelle Noam Chomsky sagte, dass wenn den Zapatistas es gelänge, ihre Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen auszudehnen, dies ein wichtiger Wandel in der neoliberalen Politik der Gegenwart bedeuten würde. Wie steht es denn um diese Zusammenarbeit mit anderen Organisationen − im nationalen und internationalen Kontext? Am vergangenen Wochenende ist die Karawane in Mexiko-Stadt angekommen −sie hatte über 300 Einladungen − mit wem ist sie denn dort zusammengekommen?

Cesar Navarro: Nun, ich denke, dass der Zapatismus einen großen Einfluss auf das politische Leben Mexikos hat und mit verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, mit Intellektuellen, politischen Aktivisten und Gruppen aus diversen Ländern übereinstimmt. Vielleicht hat dies auch mit dem Zeitpunkt zu tun, in dem der Zapatismus auftaucht, aber auch mit dem Diskurs, in dem er sich verortet. 1994 war in Mexiko, genauso wie in anderen Ländern auch, eine Ebbe in den Veränderungs- Bewegungen eingetreten. Wir lebten alle in einer Krise, die durch den Zusammenbruch des sozialistischen Experiments ausgelöst wurde; es fand eine Bewegung nach Rechts statt, eine Stärkung der neoliberalen Ideen, in denen letztendlich gesagt wird, dass wir uns in einer Gesellschaft befinden, in der es keine Alternative gäbe. Plötzlich, inmitten dieser politischen Ebbe in diesem Land und auch an anderen Orten, als es eigentlich schon keine Experimente, nichts Anti-Systemhaftes und erst recht keinen bewaffneten Widerstand mehr gab, kommt es zu dieser indigenen Rebellion in Mexiko. Aber dies alleine erklärt nicht den Aufstand. Dieses Projekts, das gegen die neoliberale Hegemonie als Weltideologie und gegen ein System, das andere alternative Formen der Organisation zerstört hat, angeht, stößt bei vielen Intellektuellen und politischen Gruppen, auch in anderen Ländern, auf großes Interesse, der einen neuen und anderen Diskurs hervorrief. Denn hier werden die Hoffnungen vieler anderer Sektoren aus der Gesellschaft repräsentiert, die sich diesem Aspekt der Niederlage gestellt haben und für die der Zapatismus wie ein Licht oder wie ein Verbindungskanal verschiedener Strömungen wirkt. Deshalb ist es nicht zufällig, dass Leute wie Chomsky, wie Saramago und viele andere Intellektuelle und künstlerische Persönlichkeiten mit einer radikalen Einstellung sehr verschiedener Formierung mit der zapatistischen Bewegung übereinstimmen. Ich glaube, dass das etwas mit dem Moment der neuen politischen Konstitution, mit der profunden Kritik, die der Zapatismus an den traditionellen politischen Formen und gleichzeitig mit seiner Kritik am kapitalistischen System der globalisierten Welt und der neoliberalen Ideologie übt, zu tun hat.

In diesem Sinne ist der Zapatismus Teil dieser weltweiten Übereinstimmung. Auf der anderen Seite haben die Zapatisten erklärt, dass sie keine Art von Avantgarde sein wollen und können. Im Gegenteil, der Zapatismus ist nur ein Teil der Gesellschaft der Ausgeschlossenen, die der moderne Kapitalismus hervorbringt. Ich denke da an die Bewegung der Jugendlichen in Europa, die Bauernbewegungen in anderen Teilen Lateinamerikas und auf anderen Kontinenten, Bewegungen, die nach anderen Formen im neoliberalen Kampf suchen.

Tatiana Coll: Ich möchte sagen, es handelt sich um eine Art Katalysator. Chomsky hat dieses Wort benutzt, und gesagt, dass die zapatistische Bewegung ein Punkt einer antineoliberalen Allianz ist. Unabhängig davon, dass der Zapatismus die Rolle des großen Katalysators spielt, drückt er die Hoffnungen, die Fustrationen und Wünsche aus, auf die neoliberale Ideologie eine Antwort zu finden, die mit allem abrechnet, wie das in dem Begriff vom "Ende des Paradigmas", dem "Ende der Geschichte", dem "Ende der Utopie", dem "Ende der sozialen Akteure" oder dem "Ende der Widersprüche" zum Ausdruck kommt. Ja, am klarsten wird dies am Ausdruck vom "Ende der Geschichte". Und der Zapatismus bricht mit einer Identität, vor dem Hintergrund der Indigenas in den Urwäldern in den am meisten ausgeschlossenen Regionen, mit der traditionellen Linken. Er bricht in einem harten neuen Ton, der sich unterscheidet von der alten traditionellen Linken, indem er auf einen Sektor zurückgreift, der die indigenen Stimmen sammelt. Insgesamt denke ich, dass der Zapatismus sich zu einem Katalysator entwickelt hat und die EZLN deshalb 1995 zu dem ersten intergalaktischen Treffen gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit aufgerufen hat. Und das ist zum ersten Mal das, was sich in Seattle, in Prag und an allen Orten, wo sich die Stimme dieser neuen Organisationen zu Wort meldeten, zeigte. All diese Leute versammelten sich hier in La Realidad (Hauptstadt des von der EZLN verwalteten Gebietes), nicht wahr. Und hier begegneten sich die Positionen, aus denen sich die neuen sozialen Akteure herausbildeten.

Rainer Schultz.: Könnt ihr ein bisschen konkreter sagen, welche sozialen Akteure sich auf dem Kongress trafen?

Cesar Navarro: Ja, ich glaube, dass in der mexikanischen Gesellschaft durch die sozialen und ökonomischen Veränderungen und die stärker antipopulären Maßnahmen eines wilderen Kapitalismus eine Serie von sozialen Kampfsektoren auf natürliche Weise entstanden sind. Ein wichtiges Element im Falle Mexikos ist eine große Bewegung von Tausenden und Tausenden und Tausenden von Bürgern sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft, die auf Grund ihrer Verschuldung durch Kredite von Banken, Finanz- oder Regierungsunternehmen ruiniert wurden, und die in Kürze den Zusammenbruch ihrer Existenz erwarten. In Mexiko entstand in diesen Jahren der Krise, des finanziellen Desasters und des Raubs der Finanzunternehmen eine große Schuldnerbewegung von kleinen bis mittleren Unternehmern bis hin zu den Kleinbauern. Diese neuen sozialen Akteure schließen sich dem Zapatismus an, da sie mit der zapatistischen Kritik an der Enteignung der kleinen und mittleren Besitztümer durch das oligarchische Finanzsystem und die neoliberale Politik übereinstimmen. Außerdem setzte die Auslandsverschuldung, die wir als Nation haben, Millionen Menschen auf die Strasse. Zu den neuen sozialen Akteuren gehören auch die Frauenorganisationen, für die der Zapatismus eine Heimstatt darstellt. Die Bewegungen von Tausenden von marginalisierten Jugendlichen, die in Gesellschaften wie der unseren vom Arbeitsmarkt, von Anstellungen und Studium ausgeschlossen sind, ist der zapatistische Marsch ein eigenes Anliegen gewesen da sich für sie keine anderen Perspektiven als Drogen, Verbrechen oder Immigration als Arbeitskraft ergeben. Aber sie haben Widerstandsbewegungen mit dem Ziel der Suche nach einer Zukunft gegen den Ausschluss aus der Gesellschaft gebildet. Da gibt es noch einen anderen sehr wichtigen sozialen Sektor, der eine soziale Bewegung mit einem sehr anderen kulturellen Ziel organisiert hat, der sich auf dem Gebiet des Rechtes auf Wohnung und des Rechtes auf kulturelle Vielfalt etabliert hat. Eine weitere sehr wichtiger Gruppe der neuen sozialen Akteure ist die neue Studentenbewegung, die in diesem Land an Kraft gewinnt und die Ergebnis des Kampfes gegen die Privatisierung und die Vernichtung des öffentlichen Bildungssystem in diesem Land ist. Dies ist ein ganz fundamentales Element. Ein weiteres Phänomen ist, dass zum ersten Mal eine politische Kraft, wie der Zapatismus, in einer würdigen Weise alle Bewegungen unterstützt, die für sexuelle Befreiung eintreten, wie sie die Lesben, Homosexuellen und alle anderen Arten von sexueller Unterdrückten repräsentieren. Diese finden im Zapatismus Unterstützung und Verständnis für ihren Kampf in Mexiko. Wie andere soziale Akteure sind sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in ihren grundlegenden Menschenrechten beschnitten.

Raina Zimmering: Wenn man von den neuen sozialen Akteuren ausgeht, die der Zapatismus in seinen Kampf einbezieht, bedeutet das, dass der Zapatismus den Klassenkampf im klassischen Sinne nicht mehr für wichtig hält?

Cesar Navarro: Oftmals ist die Sprache eines Diskurses Teil von bestimmten politischen Konzepten, so wie auch der Begriff des Klassenkampfes, der in einer bestimmten Zeit entstanden ist. Man muss in Rechnung stellen, dass im Zapatismus eine Anzahl von Prinzipien oder Kategorien der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft nicht vorhanden sind. Als die Zapatistas ihren Kampf für Boden, für Häuser, für Wohnung, für Gesundheit und Arbeit begannen, drückte sich darin der Kampf eines Sektors der Gesellschaft aus, der am meisten ausgebeutet ist und der keinen Zugang zu einem menschlichen Leben hat. Diese Forderungen verband die EZLN mit den Forderungen, dass alle Klassen gleiche Rechte, wie z.B. das Recht auf Bildung, haben. Ich würde sagen, dass die Forderungen auf Gleichberechtigung durch den Zapatismus, auf eine etwas andere Weise formuliert werden. Die Worte Frieden, Gerechtigkeit und Würde haben programmatische Bedeutung gewonnen und wurden in einem anderen Moment formuliert, als politische Parteien und revolutionäre Bewegungen das Konzept des Klassenkampfes benutzten. Trotzdem würde ich sagen, dass wir im Zapatismus einige klassische Konzepte und Theorien mit revolutionärem Charakter, die an dem Diskurs der radikalsten traditionellen politischen Theorien beteiligt waren, wiederfinden. Das "mandar obedeciendo" (gehorchendes Befehlen) zum Beispiel ist nicht nur eine eigene Entscheidungsform der indigenen Bevölkerung, in der sie akzeptieren, dass diejenigen die Repräsentanten der Gesellschaft sind, die in Übereinstimmung mit ihnen agieren. Es gibt eine Formulierung in der politischen Sprache, der sich demokratischen Zentralismus nennt. Und dieses Prinzip gilt traditionell für alle politischen Parteien. Allerdings wurde der Zentralismus in vielen Fällen für eine kleine Kamarilla ausgenutzt. Aber im Fall des Zapatismus wurde die Frage wieder neu aufgeworfen, wer kann Repr äsentant sein und wer bestimmt, wer Repräsentant sein darf. Dabei kam man auf das Prinzip des "mandar obedeciendo". Ich würde sagen, dass man hier weder rein klassische politische Prinzipien und Kategorien noch eine grundsätzlich andere politische Linie verfolgt, sondern dass bestimmte Prinzipien des fortgeschrittenen sozialen Denkens und viele der Kategorien, die die Politikwissenschaft, speziell das revolutionäre Denken entwickelt haben, in den eigenen Diskurs der Zapatistas Eingang gefunden haben. Es ging darum, herauszufinden, was dem größten Teil der Gesellschaft in diesem Moment am besten dient. Ich sage das, weil es in den Politikwissenschaften, besonders bei den Linken in diesem Land, oftmals Streit, ja sogar Krieg um die Frage gab, wer kann mit größter Klarheit und wer darf überhaupt klassische Konzepte anwenden. Deshalb denke ich, dass die Frage des Klassenkampfes keine so große Rolle spielt.

Tatiana Coll: Ich will noch eine Sache hinzufügen, die mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig erscheint. Um eine Debatte zu verstehen, gibt es einige theoretischen Strömungen aus Europa, die eine sehr interessante Diskussion darüber führen. Es gibt eine Strömung von lateinamerikanischen Historikern, die analysieren, wer sind die sozialen Akteure in dem Prozess der Veränderungen in Lateinamerika und warum sind das nicht die Kräfte des Proletariats. Das ist eine sehr alte Debatte in Lateinamerika. Mariategui, einer der größten peruanischen Denker, stellte in den 20er Jahren fest, dass die Marxisten in Peru notwendigerweise die Indigenas, die 80 Prozent der peruanischen Bevölkerung einnehmen, in ihre marxistische Analyse mit einbeziehen und fragen mussten, welche Rolle sie im Kampf spielen. Die kubanische Revolution, die von ihren Grundlagen her von Studenten und Bauern ausging, war für die dogmatische marxistisch/leninistische Ideologie eine totale Herausforderung. Eine Bewegung der Studenten und Bauern, was passierte da? Wie ist so etwas möglich? Das heißt, das ist ein Thema, das in der historischen Debatte in Lateinamerika bis heute präsent ist. Und von hier aus haben sich verschiedene Momente der sozialen Veränderungen in Lateinamerika entschieden, die zeigen, dass die politischen Akteure in Lateinamerika anders sind. Und der Kampf der Klassen muss das indigene Moment einbeziehen. Das hei ßt, dass die indigenen Bewegungen ein Moment der tiefen Veränderung in unserer Gesellschaft darstellt. Was sagte der Subkomandante Marcos in seinem Diskurs in Queretaro oder in Puebla, ich erinnere mich nicht genau, er bezog sich auf einen der führenden mexikanischen Ideologen Sanchez Navarro. Er deklarierte, dass dieser Marsch der Zapatistas eine wahre Klassenrevolution in diesem Land provozieren würde. Daraufhin sagte Marcos: He höre, ich frage Sie: warum die Neoliberalen nicht in Abrede stellen, dass der Klassenkampf existiert? Weil sie eine Revolution im Land provozieren wollen. Es ist eine andere Form, den Klassenkampf zu verstehen.

Rainer Schultz: Eine andere Frage. Marcos sagte, wenn die Verträge von San Andres nicht zustande kommen, könnte ein bewaffneter Kampf gegen das reguläre Heer provoziert werden. Würde sich nicht dann der Einfluss der Zapatistas in der Zivilgesellschaft verringern und die EZLN ihren zivilen Charakter verlieren?

Cesar Navarro: Genau in dem Moment, als die EZLN 1994 ihre Waffen erhob, gewann sie die politische Sympathie von Millionen von Menschen in diesem Land. Der Zapatismus wurde deswegen nie abgelehnt, weil er sich bewaffnet hatte, im Gegenteil. Durch die große Sympathie der Gesellschaft entstand ja gerade die M öglichkeit des Dialogs. Und als das Regierungsheer vorhatte, die indigene Bev ölkerung und aufständischen Bauern zu massakrieren, entstand eine große Bewegung der Verteidigung und der Sympathie gegenüber diesem Aufstand und die Aktionen der mexikanischen Gesellschaft verpflichteten die Beteiligten, den militärischen Konflikt und den Genozid eines Teiles der mexikanischen Gesellschaft zu verhindern. Und außerdem erklärte der Zapatismus, dass sie auf den Willen der Gesellschaft hört, und ein Abkommen mit dem anderen Teil abschlie ßen will, um auf dem Weg des Dialogs die Forderungen der Zapatistas zu verwirklichen. Deshalb akzeptierten es die Zapatistas, einen Dialog zu führen als Antwort auf die Gesellschaft. Und die Gesellschaft, die die Zapatistas um Verhandlungen bat, selbst weiß, dass die mexikanische Armee, dass die mexikanische Regierung, dass die politische Macht in diesem Land alle Antworten auf die Forderungen der Zapatistas und alle Bemühungen zur Etablierung des Friedens verzögert. Keiner in der mexikanischen Gesellschaft, der weiterhin Sympathie für den Zapatismus hat und diesen unterstützt, wird deshalb nur eine Form des Agierens der EZLN unterstützen. Das, was im Moment einer militärischen Auseinandersetzung schwierig werden könnte, ist eine andere Sache, nämlich die Kapazität der Zapatistas. Normalerweise ist es schwierig für ein Partisanenheer, sich mit einem professionellen Heer zu konfrontieren, gut, aber sie taten es 1994, als das ganze Heer gegen sie war. Aber, ich glaube, dass heute weniger als jemals, dass Zapatistische Heer der Nationalen Befreiung milit ärisch agiert. Weil ein militärischer Ausgang des Aufstandes der EZLN nicht nur einen Genozid gegen Tausende und Tausende mexikanischer Bürger implizieren, sondern auch einen Bürgerkrieg im Land auslösen würde. Einen Bürgerkrieg, in dem ein großer Teil der Mexikaner an der Seite der EZLN wäre. Das ist mein Eindruck.

Raina Zimmering: Eine Frage zu den ökonomischen Bedingungen des Konfliktes in Chiapas. Ist nicht die neoliberale Politik der Regierung verbunden mit der Erh öhung ausländischer Investitionen in Chiapas auf der einen Seite und die Forderungen Zapatistas nach Autonomie auf der anderen ein unauflösbarer Widerspruch?

Tatiana Coll: Das hiesse, dass die Politik der PRI die ausländischen Investitionen vorher nicht gefördert hätte. Seit dem Ende des Cardenismus bei Miquel Aleman hat man sich für ausländischen Investitionen geöffnet. Man begr ündete das damit, dass das Land keine ausreichende Akkumulationskraft besitzt, die es uns erlaubt, auf nationaler Ebene alle industriellen und finanziellen Kapitalkräfte zu reproduzieren. Und Miquel Aleman hat eine offizielle Wende in der Politik verkündet. In diesem Sinne setzt Fox nur die selbe Politik fort und es gibt keine Wende. Das heißt, das Land ist ein Subjekt und um so mehr jetzt in der Epoche der Globalisierung. In der Epoche der Globalisierung gibt es fast keine Kraft in den unterentwickelten Ländern der Dritten Welt, die nicht davon berührt ist, ja. Das wirft die Frage des Verschwindens der nationalen Grenzen und des nationalen Kapital auf, die Behauptung, dass es nur internationales Kapital gibt, all diese Elemente der neoliberalen Entwicklung. Aber was machen die lokalen Kräfte? Es entwickeln sich die Bedingungen für die lokale Substitution, d.h. sich auf lokaler Ebene zu entwickeln. Um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen hat es in Lateinamerika einen Kampf vom Anfang des Jahrhunderts an gegeben und nur die nationalistischen Regierungen konnten für kurze Zeitabschnitte das Erdöl nationalisieren, Agrarreformen durchführen und die eigenen Naturressourcen nationalisieren, um von innen her eine größere Autonomie zu entwickeln. Heute, in unserer Zeit, bedeutetet die Ausbeutung der eigenen Ressourcen die einzige Möglichkeit, zu überleben. Da in den Begriffen des Neoliberalismus die Politik aus der Sicht des ökonomischen Funktionierens erklärt wird, werden diese Sektoren als nicht produktiv, als überflüssige Bev ölkerung und unnütz für die großen Kapitalentwicklungen betrachtet. Und somit versuchen sich all diese Kräfte auf lokalem Niveau zusammenzufinden und von neuem die Kontrolle über die Naturreserven zu finden in einer Form, die das Überleben unter neoliberalen Bedingungen ermöglicht. Für die Zapatisten und für große Kontingente der Bevölkerung bedeuten das Überleben Würde. Wir nennen das heute die moralische Ökonomie. Deshalb ist das Grundproblem die Wiederaufteilung der Ressourcen. Da wir absolut Subjekte des Funktionieren des internationalen Kapitalismus sind, ist die Aufteilung der Ressourcen immer ungleichmäßiger, je mehr er fortschreitet. Das ist das, was Marcos gestern erkl ärte. Er sagte, diese Politiken bedeuten niemals Entwicklung. Das, was sie bedeuten, ist die Beschleunigung der größten Armut und des größten Ausschlusses was die größte Rebellion bedeutet. Deshalb sagte er gleichzeitig, dass die bewaffneten Bewegungen der Leute weitergehen werden, die keine Möglichkeit zum Überleben mehr haben und sich in Migranten verwandeln. Im Unterschied dazu verst ärken die neoliberalen Kräfte in der Welt die Voraussetzungen für das internationale Funktionieren des Kapitals. Aber ihre Kapitale sind national. Die Gewinne kommen ihren Ländern zugute.

Unabhängig davon, dass sie internationale Geschäfte tätigen und ihre Firmen multinational sind, fällt das letztendlich auf die Lebensbedingungen ihrer nationalen Bevölkerung zurück. Und deshalb reinvestieren die Kapitale auch national in ihre Länder. Unsere Bauernproduktion, wie das gestern Fox zum Beispiel gesagt hat, hat noch die Qualität einer ländlichen Produktion. Wir sollten das durch eine Exportökonomie ausgleichen. Aber in den europäischen Ländern produzieren die Bauern weiter Kartoffeln und Getreide und leben gut. Und leben ein würdiges Leben. Wenn man sich irgend ein europäisches Dörfchen ansieht, haben die Leute gute Konsum- und Lebensbedingungen, sehen gut aus. Und wenn man einen europäischen mit einen mexikanischen Bauern vergleicht, erscheint er wie ein Bourgeoise und nicht wie ein Bauer. Warum, weil unabhängig vom Neoliberalismus, der Globalisierung und der Internationalisierung des Kapitals ein Status der Aufteilung der Sozialpolitik existiert, d.h. dass in den entwickelten Staaten die ganze Bev ölkerung ein würdiges Leben führen kann, gut lebt und konsumiert. In unseren L ändern hingegen bedeutet die Internationalisierung den Ausschluss der gesamten Bevölkerung auf dem Niveau des Überlebens. Das sind die Massen, die versuchen zu überleben. Das heißt, dass es einen Widerspruch der Akkumulation auf globalem Niveau gibt. Wir müssen überleben und deshalb muss man das zentrale Akkumulationsmodell des Kapitalismus verändern und es in ein Akkumulationsform verwandeln, das ein würdiges Leben erlaubt. Der Widerspruch hängt in jedem Fall mit dem gegenwärtigen Akkumulationsmodell des internationalen Kapitalismus zusammen.

Raina Zimmering: Das Konzept von Fox ist, dass jeder der Indigenas sein eigenes kleines Geschäft gründen soll. Kann das ein lokaler Ausweg aus der Misere sein?

Tatiana Coll: Er sagte, dass jeder sein eigenen Changarro (Klitsche), seinen eigenen Bocho (Volkswagen) und seinen Fernseher haben soll. Er glaubt, dass dies der Traum eines jeden ist. Für einen Teil der Bevölkerung bedeutet der Besitz eines Volkswagens viel, denn das ist hier in diesem Land ein großer Luxus. Aber diese Politik will Fox durch Kredite von 1000 Pesos verwirklichen. 1000 Pesos sind 100 Dollar. Glaubst Du, dass eine Familie, der man 100 Dollar leiht, diese in ein Unternehmen verwandeln kann? Das ist falsch. Das einzige, was man mit diesen 100 Dollars machen kann, ist nichts. Sie bedeuten zwei oder drei Essen mehr. Aber niemand in diesem Land kann ein eigenes Geschäft mit 1000 Pesos gründen. Es gibt einen neoliberalen Autoren aus Peru, der Hernando Soto heißt, der erklärte, dass wir uns jetzt international in einer Dienstleistungs ökonomie befinden, die weder eine landwirtschaftliche noch eine industrielle Produktion ist, und dass ein modernes, entwickeltes Land wie ein großes Serviceunternehmen funktioniert. Gut, das sollen nun auch die unterentwickelten Länder tun, um sich zu modernisieren. Die Akkumulation des Reichtums soll es m öglich machen , einen funktionierenden Dienstleistungssektor zu entwickeln. Aber hier nennt man diesen Sektor informelle Ökonomie. Das heißt, dass alle diese Stände, die Tacos und Kaugummis auf der Strasse verkaufen, zur informellen Wirtschaft gezählt werden. Und dieser Herr Hernando Soto sagt, dass sich von hier aus ein unternehmerischer Geist unter den Armen in unserer Welt entwickeln würde. Sie alle seien kleine Unternehmer, da sie auf eigene Rechnung leben würden und ihr eigenes Geschäft hätten. Gut, das ist der reinste Hohn und Verhöhnung. Das soll der Unternehmenssektor in unseren Ländern sein und das wird auf ein Plätzchen bezogen, wo man Früchte verkauft. Und das nennen sie zynisch die nationale Unternehmensentwicklung.

Raina Zimmering: Ich muss noch einmal auf den Hauptwiderspruch in Chiapas zurückkommen. Meines Erachtens dreht sich dieser um die Bodenfrage. Einerseits wird der Boden von den großen transnationalen Unternehmen zur Ausbeutung der reichlich vorhandenen Naturreserven und der Biodiversität und gleichzeitig von den indigenen Gemeinden beansprucht, die von der Erde leben. Haben die Verträge von San Andres über die indigenen Rechte und Kultur, bei denen es auch um die Bodenfrage geht, vor diesem Hintergrund überhaupt eine Chance auf Realisierung?

Tatiana Coll: Gut, das ist ein Widerspruch in Lateinamerika, der in unseren Ländern seit langem nicht gelöst wurde. In Brasilien gibt es eine sehr bedeutende Bewegung, die sich "Bauern ohne Land" nennt. Wie ist es möglich, dass im 21. Jahrhundert Menschen für ihre Erde kämpfen müssen? Die letzten Bauernrevolutionen in Europa spielten sich am Anfang des 19. Jahrhunderts ab. Und dort hat man Statuten, die Eigentum genehmigen, das ein würdiges Leben garantiert. Und wir sind im 21 Jahrhundert und kämpfen für Boden. Das kommt daher, dass wir einen landwirtschaftlichen Produktionssektor haben, der nach dem Schema des 19. Jahrhundert produziert. Das Problem ist, dass Mexiko mit der großen Niederlage der nationalen Revolutionen in ganz Lateinamerika konfrontiert ist. Jedes Mal wenn eine Agrarrevolution in Gang gesetzt wurde, kam es zu einem Militärputsch. Die lokalen Oligarchien bestehen weiter, die die lokale Entwicklung behindern. Und das ist ein großer politischer Widerspruch, den man lösen muss.

Die Verträge von San Andres sind der Beginn eines langen Prozesses. Es gibt indigene Gemeinden, die sehr großes kommunales Eigentum besitzen. Z.B. besitzt die Gemeinde von Perjuan in Durango die größten Wälder dieses Landes. Aber was machen die Indigenas mit dem Wald? Nichts, nichts. Weil sie den ganzen Entwicklungsprozess verpasst haben, können sie nichts weiter tun, als ihn zu verpachten. Sie verstehen es nicht, das Holz zu verkaufen und zu vermarkten. Auch haben sie keine Werkstätten, um Möbel herzustellen, noch haben sie Mühlen, um Holzmehl zu produzieren. Sie haben gar nichts. Das einzige, was sie haben, sind die Wälder dort. Und wenn sie den Wald verkaufen, hängen sie total von einem Holzproduzenten ab. Das ist eine der schlimmsten Situationen. Daher ist der Prozess der Enteignung der indigenen Gemeinden und die Abspaltung vom gesamten Entwicklungsprozess Thema der Verträge von San Andres, denn das Scheitern der Agrarreform unter Cardenas ist Teil der Misere. Aber die Bodenfrage ist nicht ausreichend, sie ist nur der Beginn dieses Prozesses.

Raina Zimmering: Und Du denkst, dass die Verträge von San Andres eine Chance haben, angenommen zu werden?

Tatiana Coll: Ich denke, sie müssen verwirklicht werden. Denn es existiert eine solch große Bewegung, die nicht negiert werden kann. Die PRI und Präsident Zedillo wiesen die Verträge von San Andres zurück und setzten die Armee in den indigenen Gemeinden ein, um eine Vernichtung des Zapatismus zu erreichen. Der Zapatismus wurde jedoch nicht vernichtet, sondern wuchs in diesen 7 Jahren seines Widerstandes, umgeben von der Armee. Heute gibt es mehr Zapatistas, nicht nur in Chiapas, sondern im ganzen Land, die deren Forderungen unterstützen. Denn eine repressive Politik erzeugte automatisch mehr Widerstand. Wenn die Regierung von Fox sich wieder dafür entscheiden sollte, die Repression zu benutzen, um die Bewegung zu zerstören, wird das wieder mehr Widerstand erzeugen. Jedes Mal würde sich die Situation mehr radikalisieren. Es ist ein Irrtum von Fox, wenn er denkt, dass die Leute in diesem Land für ihn gestimmt haben. Ich glaube, dass nicht die große Mehrheit genau für ihn gestimmt hat, sondern sie wählte gegen die PRI. Der Wandel kam nicht, weil Fox der große Protagonist ist, für dessen Programm sich die Leute entschieden. Aber derjenige, der in dem Moment des Niederganges der PRI die Herzen der Menschen gewann, war Fox. Und das ist kein Blankoscheck für Fox. Die Leuten vertrauen nicht blindlings auf Fox. Achtung Fox, erfülle, was Du versprochen hast, weil wir wachsam sind!

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