Autonomie für die ländlichen Regionen Mexikos
Chance oder Illusion?
Zapapres-Import vom 15.08.1994 |
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gh/ZAPAPRES, August 1994
Seit Jahrzehnten entscheidet ein zentralistisches Herrschaftssystem über das Schicksal Mexikos. Die Öffnung der Grenzen für Agrarimporte im Jahr 1986, die Verfassungsänderung von 1991, mit der alle kollektiven Landeigentumsformen (v.a. Ejidos) abgeschafft wurden, und das Freihandelsabkommen (NAFTA) mit den USA und Kanada haben zu einer gravierenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse in vielen ländlichen Regionen geführt.
Der zapatistische Neujahrsaufstand hat diese Probleme in das Bewußtsein der mexikanischen und internationale Öffentlichkeit getragen. Aber nicht nur aus Chiapas erschallt der Ruf nach Autonomie und Beendigung des staatlichen Zentralismus.
Die Grundlagen für wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung in den ländlichen Regionen Mexikos sollen im folgenden am Beispiel Chiapas verdeutlicht werden.
Ökonomische und ökologische Grundlagen
In der Verteilung des Landbesitzes und der Form der Nutzung ergeben sich für Chiapas gravierende Widersprüche. 6.000 Viehzüchter-Familien, die im Regierungsjargon "Kleinbesitzter" genannt werden, verfügen über knapp 50% des Staatsgebietes. Dem gegenüber stehen knapp 600.000 Familien, die auf Dorf- oder Ejidoland kleine Parzellen überwiegend mit Grundnahrungsmitteln bebauen oder gar kein Land besitzen und auf großen Kaffeeplantagen im Süden von Chiapas oder in der Landeshauptstadt Arbeit suchen müssen.
"Nach dem Kaffee ist Vieh das zweitwichtigste agrarische Raubgut. Drei Millionen Kühe warten auf die "Coyoten" und eine kleine Gruppe von Großhändlern, um die Kühlhäuser in Mexiko-Stadt zu füllen. Für die Kühe werden den verarmten Ejido-Bauern 1.400 Pesos (ca. eine Mark) pro kg bezahlt, die "Coyoten" und Großhändler erzielen beim Weiterverkauf das zehnfache..." (in: Chiapas: El sureste en dos vientos, una tormenta y una profecía. EZLN, Selva Lacandona, August 1992)
Außerdem bezieht der mexikanische Staat aus Chiapas riesige Mengen an Erdöl, Holz und Strom: "In Chiapas gibt es 86 Erdölbohrungen von PEMEX... Sie nehmen das Gas und Erdöl und hinterlassen im Gegenzug ihr kapitalistisches Siegel: ökologische Zerstörung, Landraub, Hyperinflation, Alkoholismus, Prostitution und Armut... Die Bestie ist nicht zufrieden und streckt ihre Tentakel in die Selva Lacandona... Pfade werden mit Macheten geschlagen − von den gleichen Campesinos, denen die Bestie ihr Land raubte. Die Bäume werden gefällt und Explosionen erschüttern Gegenden, wo es den Campesinos verboten ist, Bäume zu fällen, um Felder anzulegen. Jeder Baum, den sie fällen, kann sie 10 Mindestlöhne oder Gefängnis kosten. Die Erdölbestie, immer mehr in ausländischem Besitz, darf Bäume fällen − der Arme keinen einzigen. Der Campesino fällt Bäume, um zu leben, die Bestie, um zu plündern... Obwohl Ökologie in Mode ist, geht der Holzeinschlag in den chiapanekischen Wäldern weiter. (in: Chiapas: El sureste en dos vientos, una tormenta y una profecía. EZLN, Selva Lacandona, August 1992)
Die Vermarktung von Agrarprodukten wird zu einem großen Teil von mestizischen Zwischenhändlern kontrolliert. In den Dörfern benötigte Waren wie Kerzen, Alkohol oder Handwerksprodukte werden oft mit dem einzig verfügbaren Tauschgut, Arbeitskraft, bezahlt.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in Chiapas die ökonomischen und ökologischen Bedingungen für eine Autonomie der ländlichen Regionen äußerst schlecht sind.
Soziale und kulturelle Grundlagen
Das kollektive Landeigentum in vielen Landgemeinden ist ein wichtiger Mechanismus, die Ausbreitung von großem Privateigentum zu verhindern. Desweiteren soll durch viele Gemeinde-Feste eine zu starke Konzentration von Reichtum vermieden werden. In indianischen Dörfern gibt es für öffentliche und religiöse Amtsträger die Verpflichtung, bei Antritt ein Fest auszurichten.
Um von staatlichen Geldern unabhängiger zu sein, werden in vielen Gemeinden freiwillige Arbeitsgruppen gebildet, die sich um den Bau oder Unterhalt von Gebäuden und lokaler Infrastruktur kümmern. Erträge und Einkünfte aus der Bewirtschaftung gemeinschaftlicher Felder werden für Gemeindezwecke oder die Bezahlung von ämtern verwendet, um lokale Steuern zu sparen.
Neben den Traditionen und Sprachen basiert der ethnische Zusammenhalt der Gemeinschaften auch auf der gemeinsamen Erfahrung von Kolonisierung und Widerstand.
In Chiapas sind die kollektiven Mechanismen jedoch durch äußere Zwänge und Beeinflussung immer stärker in Frage gestellt. Die Konzentration von privatem Landeigentum macht, gesetzlich gestärkt, auch vor indianischen Dörfern nicht halt. Desweiteren werden viele Amtsträger von der Staatspartei PRI manipuliert und korrumpiert, was zu schweren Konflikten in den Gemeinden führt.
Die Stadt Juchitán im Nachbar-Bundesstaat Oaxaca, in der die Frauen im Handel eine aktive ökonomische Rolle innehaben und kulturelle Normen eine Kapitalakkumulation verhindern, ist ein positives Beispiel für eine funktionierende Autonomie-Alternative in größerem Maßstab.
Rechtliche und politische Grundlagen
Seit 1992 ist das Selbstverständnis Mexikos als multikulturelle Nation in der Verfassung verankert. Artikel 4 besagt: "Das Gesetz schützt und fördert die Entwicklung der Sprachen, Kulturen, Sitten und Bräuche, Ressourcen und spezifische soziale Organisationsformen der Völker und garantiert ihnen den effektiven Zugang zur staatlichen Rechtsprechung."
Um welche Völker es sich dabei handelt, wird jedoch nicht genauer definiert, desweiteren fehlt es an effektiven Durchsetzungsmitteln. Bei der staatlich geförderten Konzentration von Landbesitz und der Auflösung der Ejidos wurden spezifische indianische Organisationsformen in keinster Weise respektiert. Die verfassungsmäßig festgelegte Struktur der Landkreise (Municipios) entspricht nur selten der Organisation der indianischen Gemeinschaften. Ein weiterer Verfassungsartikel verbietet lokale Formen der Rechtsprechung.
Für den Senat und das Parlament Mexikos gibt es keine Quote für indianische VertreterInnen; es werden 14% der Sitze gefordert, was dem indianischen Bevölkerungsanteil entspricht. Jedoch ist in den indianischen Gemeinschaften der Nutzen eigener SenatorInnen und ParlamentarierInnen wegen der leichten Korrumpierbarkeit dieser Posten umstritten.
Die Autonomieforderungen der EZLN
Während der Verhandlungen in San Cristobal im Februar legte die EZLN detaillierte Autonomieforderungen für ganz Mexiko vor.
Die Regierungsseite antwortete mit Vorschlägen für ein "Allgemeines Gesetz der Rechte der indianischen Gemeinschaften", das vor allem kulturelle Rechte beinhaltet, und für ein neues Bundesamt, das diese Rechte schützten soll.
Außerdem bot die Regierung Neuwahlen in Chiapas an, darunter für neugebildete Municipios in der von der EZLN kontrollierten Zone. Die Anerkennung indianischer Rechtsprechungsformen wurde abgelehnt; es wurde aber versprochen, Richter und Polizei in Chiapas mit spezifisch indianischen Problemen vertrauter zu machen.
Auf die ökonomischen Forderungen der EZLN wurden großzügige Hilfsgelder für Chiapas sowie allgemeine Studien über die Wirkung von NAFTA und darüber, ob den Bauern ihre Agrarschuld erlassen werden könne, versprochen.
Zu Recht haben die Dorfgemeinschaften in der von der EZLN kontrollierten Zone im Mai die Angebote der Regierung abgelehnt. Zu offensichtlich war der Versuch der Regierung, die Konfliktlösung auf Chiapas beschränken zu wollen, obwohl ohne ein Ende des zentralistischen Herrschaftssystem und ohne eine Revision des NAFTA-Abkommens autonome Entwicklungen in den ländlichen Regionen Mexikos nur schwer möglich sind.
Die letzten drei Monate hat die EZLN nicht ungenutzt verstreichen lassen. Anfang August versammelte sie in der Selva über 6.000 VertreterInnen autonomer und oppositioneller Bewegungen aus ganz Mexiko, um sich für den Kampf um eine wirkliche Demokratisierung und Dezentralisierung der gesamten mexikanischen Gesellschaft, in dem die Präsidentschaftswahlen ein wichtiger Wendepunkt sind, zu organisieren. Die Durchsetzung von Autonomie ist ein langer und schwieriger Prozeß. Erst durch das Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und durch eine Veränderung der makro-ökonomischen Rahmenbedingungen kann überhaupt die Grundlage für autonome Entwicklungen gelegt werden. Außerdem bedarf es einer Verfassung, die kommunale und föderative Elemente über zentralstaatliche Aspekten stellt und außerdem besondere Rechte wie kollektive Eigentumsformen garantiert und durch eine fortschrittliche Gesetzgebung schützt.
Quelle: Zapapres
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