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Kongress in Chiapas:

Auf dem Weg zu neuen Antikapitalismen?

Gruppe B.A.S.T.A. vom 19.12.2007
Luz Kerkeling

 

Chiapas:Internationales Kolloquium über antisystemische Bewegungen fordert Ende dogmatischer Theorie und Praxis.

San Cristóbal, Chiapas. Vom 13. bis zum 17. Dezember 2007 fand im mexikanischen Südosten eine Tagung statt, die nach Meinung vieler TeilnehmerInnen von historischer Relevanz war: „Planet Erde - Antisystemische Bewegungen". Täglich kamen über 400 AktivistInnen aus Mexiko sowie verschiedenen Ländern Amerikas und Europas zusammen, um - ausgehend von sozialen Bewegungen - die aktuellen Chancen zur Überwindung des Kapitalismus zu diskutieren. Eingeladen hatte die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN), die kritisch-historischen Zeitschrift contrahistorias und die unabhängige „Universität der Erde".

Die zentralen Beiträge lieferten renommierte kritische Intellektuelle wie Immanuel Wallerstein, Naomi Klein, Enrique Dussel, John Berger, Sylvia Marcos und viele andere. Das Spektrum der TeilnehmerInnen reichte von BefreiungstheologInnen über UmweltaktivistInnen, MarxistInnen, Feministinnen, AnarchistInnen, Reformlinken, Indígena- und Landlosen-AktivistInnen bis hin zu Zapatistas.

Zwischen den Vorträgen bildeten sich immer wieder Menschentrauben, die intensiv diskutierten, von ihren lokalen Erfahrungen berichteten und Adressen und Publikationen austauschten. Das Treffen hatte einen spürbar kämpferischen und vorwärtsgewandten Charakter und verströmte jeden Tag aufs neue eine Atmosphäre von Aufbruch und Abkehr von dogmatischen Denkschulen.

Veranstaltungsort der Tagung war das Indigene Zentrum für integrale Ausbildung (CIDECI) am Rande von San Cristóbal. Das Zentrum schult im Geiste des zapatistischen Autonomiebegriffs indigene Jugendliche kostenfrei in verschiedenen Berufszweigen wie Automechanik, Tischlerei, Schneiderei, Ernährung, ökologische Landwirtschaft, Medizin, Architektur, Informatik, Sozialwissenschaft u.v.a. unter der Prämisse, dass die Jugendlichen in ihre Basisgemeinden zurückkehren und dort ihre Kenntnisse anwenden und weitergeben. Der Tagungsort symbolisierte somit die Stoßrichtung der eingebrachten Vorschläge: die Gesellschaft könne nur dann wirklich in einem emanzipatorischen Sinne verändert werden, wenn die Bevölkerung Hauptakteurin der Veränderungsprozesse sei.

Einberufen wurde die Konferenz im Gedenken an Andrés Aubry, einem im rebellischen Teil von Chiapas sehr beliebten kritischen Historiker, der seit 1973 hier gelebt und die progressiven indigenen Bewegungen begleitet hatte. Am 20. September 2007 kam Aubry bei einem Autounfall ums Leben. Der gebürtige Franzose war ein erfrischender und scharfer Kritiker der klassischen, aber auch der linken Sozialwissenschaften. Für Aubry beinhaltet der Beruf des Sozialwissenschaftlers nicht nur eine Benennung der gesellschaftlichen Mißstände, sondern eine aktive Teilnahme an der Erarbeitung von Lösungsmodellen.

Immanuel Wallerstein, us-amerikanischer Soziologe und einer der Theoretiker der globalisierungskritischen Bewegung, vertrat die These, dass sich der US-Imperialismus im Niedergang und der Kapitalismus in einer extremen Krise befinde. Dieser Prozess habe unter anderem auch die Wahlsiege linker Kräfte in Südamerika zugelassen. Laut Wallerstein ist das Konzept der Übernahme der Staatsmacht durch linke Parteien seit 1968 allerdings zunehmend unbedeutender für wirklich antisystemische Veränderungen der Gesellschaften. Als bedeutende Bewegungen klassifizierte er die Weltsozialforen und in Mexiko die „Andere Kampagne" der Zapatistas, die über eine außerparlamentarische Mobilisierung eine neue antikapitalistische Verfassung durchsetzen will.

Gustavo Esteva, Gründer der „Universität der Erde" und sozialer Aktivist aus Oaxaca, kritisierte den klassischen Sozialismus aus einer antiautoritären Perspektive. Er bezeichnete ihn als ebenso „verbraucht" wie den Kapitalismus und betonte, dass für echte antisystemische Transformationen „neuartige autonome Räume der direkten Macht der Bevölkerung wie in Oaxaca und Chiapas" geöffnet werden müssten.

Sylvia Marcos, Psychologin und feministische Aktivistin erklärte, dass sie „in den Zapatistmus verliebt" sei, da die Zapatistinnen sich als indigene Frauen ihren Platz auf allen Ebenen der Bewegung erkämpft hätten, ohne sich den Dogmen städtischer Feministinnen zu unterwerfen und dadurch Hoffnungsträgerinnen für alle marginalisierten Frauen von unten seien.

Naomi Klein, Aktivistin und Autorin aus Kanada, erläuterte die Kernaussage ihres neuen Buches „Die Schock-Strategie": Die Bedrohung der gesamten Menschheit durch die rücksichtslose kapitalistische Herbeiführung und Ausnutzung von Katastrophensituationen durch die Eliten, seien sie - wie Kriege und Umweltzerstörung - menschengemacht, oder auf Naturphänomene zurückzuführen.

Subcomandante Marcos, Sprecher und Guerilla-Chef der EZLN, kritisierte schließlich die parlamentarische Linke Mexikos, weil sie dort, wo sie an der Macht sei, eine ebenso neoliberale und repressive Politik wie die rechtskonservative Zentralregierung betreibe. Marcos betonte ferner, dass die Zapatistas ihre Theorie aus der Praxis entwickelten und nicht umgekehrt. In den Augen von Marcos sind viele TheoretikerInnen, darunter auch DenkerInnen der institutionellen Linken, Menschen, die sich Moden und Eliten unterwerfen und „theoretische Masturbation" betreiben. Schlüssel für eine antikapitalistische Gesellschaft seifür die EZLN die Übernahme und Selbstverwaltung aller Produktionsmittel durch die Bevölkerung, denn der Kapitalismus zerstöre sich keinesfalls notwendigerweise selbst, dafür seien antisystemische Bewegungen notwendig. Unter großem Beifall rief Marcos zur Solidarität „mit der kubanischen Bevölkerung" auf und bezeichnete die Insel als das vielleicht „erste freie Territorium Amerikas".

Vereinzelt wurde kritisiert, dass die Vorträge sehr lang waren und es im Anschluss daran keine Möglichkeit für Fragen und Diskussion im Plenum gab. Es war jedoch häufig zu beobachten, wie sich TeilnehmerInnen den entsprechenden Vortragenden näherten und es dann zu einem Austausch kam.

Fast allen RednerInnen war es ein Anliegen, dogmatische Scheuklappen beiseite zu legen, alle marginalisierten Bevölkerungsgruppen als potentielle revolutionäre Kräfte zu betrachten und die verschiedenen linken Strömungen zu stärkerer Vernetzung zu motivieren, wobei die Suche nach tatsächlich neuen Praktiken und einer Orientierung an sozialen Bewegungen von unten angemahnt wurde. Eine Orientierung an linken Staatsmodellen wurde kaum vorgeschlagen, die neoliberal-sozialdemokratische Politik der brasilianischen Regierung wurde im Gegenteil deutlich kritisiert. Auch das chavistische Venezuela war auf der Konferenz kein Referenzpunkt, über den häufiger oder länger gesprochen wurde, was einige BeobachterInnen verwunderte.

Als positive Beispiele für Pragmatismus bei gleichzeitiger radikaler Konsequenz wurden neben der EZLN und der „Anderen Kampagne" mehrfach die brasilianische Landlosenbewegung MST, der globale Bauernverband „Via Campesina", die Piqueteros in Argentinien und die indigenen Bewegungen Boliviens und Ecuadors genannt, die - auch wenn sie teilweise temporär reformerisch agierten - im Endeffekt als antisystemische Bewegungen gelten könnten.

Subcomandante Marcos kündigte am vorletzten Tag der Konferenz an, dass die EZLN für lange Zeit nicht mehr an öffentlichen Tagungen teilnehmen werde. Die Comandancia ziehe sich zurück, da die Basisgemeinden momentan großen Drohungen und Aggressionen ausgesetzt seien. „Unsere compañeras und compañeros werden zur Zeit angegriffen, wie schon lange nicht mehr. Dies ist schon zuvor passiert, das ist richtig. Aber es ist das erste Mal seit jenem Morgengrauen im Januar 1994, dass die soziale Antwort - national wie international - so gering oder gleich null war". Marcos kritisierte auch die Medien, die nur berichteten, wenn es Tote gäbe und unterstrich, dass die Zapatistas weiter an der zivilen und pazifistischen „Anderen Kampagne" mitarbeiten werden: „Gleichzeitig bereiten wir uns vor, Widerstand zu leisten, allein, gegen die Reaktivierung der Aggressionen gegen uns, sei es durch die Armee, die Polizei oder die Paramilitärs [...]. Die Anzeichen eines Krieges am Horizont sind klar".

Am letzten Tag des Kolloquiums wurde Andrés Aubry posthum die Ehrendoktorwürde Doctorado Liberationis Conatus Causa überreicht. Zur Abschlussfeier waren u.a. Jerome Baschet und Jorge Santiago (Weggefährten von Aubry) sowie das Geheime Revolutionäre Indigene Komitee - Generalkommandantur der EZLN für die Zone Altos und die RepräsentantInnen der autonomen zivilen zapatistischen Verwaltung der Region zugegen. Alle sprachen Aubry großen Respekt für seine Arbeit und seinen Aktivismus zugunsten der marginalisierten Menschen aus.

Nun liegt es an den TeilnehmerInnen und ihren Gruppen, Kollektiven und Organisationen, ob die antisystemischen Bewegungen weiter vernetzt und vorangetrieben werden oder nicht. Inspirierende - durchaus auch widersprüchliche - Ausführungen und neue Kontaktmöglichkeiten gab es bei der Konferenz jedenfalls zuhauf.

PS: Ein solch umfassendes Kolloquium in einem kurzen Artikel zusammenzufassen, ist unmöglich, daher hier noch einige Hinweise auf Artikel und Redebeiträge (Spanisch):

1. Programm und Aufruf zum Kolloquium: www.coloquiointernacionalandresaubry.org

2. Artikel, Fotos, Audios, Videos: http://chiapas.indymedia.org

3. Redebeiträge von Marcos und den meisten weiteren RednerInnen: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/

 Quelle:  
  https://www.gruppe-basta.de/ 
 

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