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Chiapas-BeobachterIn-Bericht aus der Schweiz

Alarmbereitschaft in San Jerónimo Tulijá

Peace Watch Switzerland vom 02.06.2008
E. H.

  Am 19. Mai sprach ich wieder bei Fray Ba, dem Menschenrechtszentrum in San Cristóbal vor, um meinen nächsten und letzten Einsatzort zu besprechen.

Da von den vier Personen, die in Cruzton unsere Nachfolge angetreten hatten, zwei nur eine Woche bleiben konnten, vereinbarten wir, dass S., eine Mexikanerin, und ich eine Woche dorthin gehen sollten. Als wir dann Dienstagabend, unsere Einkäufe für Cruzton erledigt hatten und bereit waren, am Mittwoch zu reisen, erreichte uns in der Pension ein Anruf von Fray Ba. Es hätte einen Übergriff auf eine Gemeinde woanders gegeben und ob wir bereit wären, dorthin zu gehen. Vertreter von Fray Ba seien zur Zeit vor Ort, um die Ereignisse zu dokumentieren. Wir sagten zu. Es sollten mehrere Personen mit uns dorthin reisen, Vertretungen von Menschenrechtsorganisationen, von Sipaz, einer Koalition von Friedensorganisationen, Medienleuten von Media Projekt Chiapas, von Capise, einer Organisation die Bewegungen der Armee beobachtet und dokumentiert. Treffpunkt war morgens um 4.00. Es fanden sich 17 Personen ein. Aufgeteilt auf vier Autos fuhren wir los. Unterwegs versagte die Batterie eines uralt-VW-Käfers. Die ganze Reise dauerte rund 7 Std. und führte uns nach San Jerónimo Tulijá, Municipio de Chilón, in der Selva (tropischer Regenwald).

In San Jerónimo angekommen befragten die Medienleute die Verantwortlichen der Gemeinde. Am Montag, 19. Mai, morgens um 11 Uhr waren Armeehelikopter über den Ort geflogen. Nachmittags um 15 Uhr drangen Polizeikräfte, der PFP (Policia Federal Preventiva, Kripo), der PEP (Policia Estatal Preventiva), der AFI (Agencia Federal de Investigación, der mex. Variante des FBI), und Soldaten der Bundesarmee in den Ort ein. In der Gemeinde waren vor allem Frauen und Kinder anwesend; die meisten Männer waren bei der Feldarbeit. Die Frauen wurden bedroht, einer jungen Frau mit einem Baby im Arm wurde gedroht, sie zu ermorden. Nachdem sie in Häuser eingedrungen und Angst und Schrecken verbreitet hatten, zogen die Eindringlinge ab.

Von den Medienleuten nach Vorkommnissen, die einen solchen Übergriff erklären könnten befragt, meinten die Dorfbewohner, dass es keinerlei Anzeichen oder Ereignisse gegeben hätte. Von den ca. 3’000 Personen zählenden Bevölkerung des Ortes gehören rund 300 Personen zur zapatistischen Bewegung. In der jüngsten Vergangenheit hatte es keine Spannungen zwischen diesen und den Anhängern der Regierungspartei gegeben. Der Angriff kam völlig überraschend.

Nach den Interviews und den Filmaufnahmen reiste die Gruppe noch gleichentags nach San Cristobal zurück. S. und ich sollten als Beobachterinnen da bleiben.

In den folgenden Tagen blieben die Frauen und Kinder den ganzen Tag über zusammen. Auf der Feuerstelle vor dem Haus unserer Gastfamilie wurde gekocht und gegessen. Gekocht und Essen ausgegeben wurde auch an etwa 20 Männer, die von befreundeten Gemeinden zur Unterstützung der Wachdienste an den Zufahrten zum Ort herbeigereist waren. Diese Wachposten waren Tag und Nacht besetzt. Jeweils abends versammelte sich die ganze Gemeinde in der Kirche, um wichtige Fragen gemeinsam zu erörtern und Entscheidungen zu treffen. An diesen Versammlungen nahmen wir nicht teil. Sie wurden in Tseltal geführt und betrafen interne Angelegenheiten.

Wir erfuhren dann endlich, wer alles zu unserer Gastfamilie gehörte. Wir hatten von ihnen das einzige grosse, hölzerne Bett zugewiesen bekommen. Der Schlafraum war mit Vorhängen abgetrennt, mit einem Vorhang für den ältesten Sohn, seine Frau und das Kind. Hinter einem andern Vorhang schliefen die weiteren vier Kinder der Familie. Die Eltern schliefen hinter einem Vorhang im Wohnraum.

Das Leben in der Gemeinde

Die Bevölkerung lebt von den landwirtschaftlichen Produkten, die sie erzeugt. Verkauft werden können einzig Chilis und Bohnen, womit z.B. unsere Gastfamilie, zu der 10 Personen gehören, ein jährliches Einkommen von Fr. 1’000 erwirtschaftet. Wie arm die Leute sind, wurde mir da bewusst, wie ich bemerkte, wie eine junge Frau, die im Fluss Maiskörner gewaschen hatte, die zu Boden gefallenen Maiskörner zusammensuchte. Auch bei "uns" beim abendlichen Bohnen enthülsen wurden jeweils die heruntergefallenen Bohnen zusammengesucht. Trotzdem wurden uns immer wieder uns unbekannte Gemüse und Früchte angeboten. Aber auch von dem Essen, das wir für uns kochten, wurde gerne gekostet. Die Leute fragten uns, was wir bei uns essen würden, waren dann sehr erstaunt, dass es einen Ort geben kann, an dem keine Tortillas gegessen werden und keine schwarze Bohnen. Das will aber nicht heissen, dass die Leute unwissend sind. Sie wissen sehr wohl über Klimaveränderungen Bescheid, über das Schmelzen der Polkappen usw., sie wissen von den Problemen in den grossen Städten, von Menschen, die in Abfallbergen nach Nahrung suchen usw.

Gewundert haben sie sich auch, dass ich nur ein Kind habe. Kinder sind schon sehr früh in die Arbeit auf dem Feld und im Haus eingebunden. Ich habe mal eine junge Frau, die mit 32 bereits sechs Kinder hatte, gefragt, ob sie noch mehr Kinder möchte. Sie meinte nein, Kinder würden viel Geld kosten, z.B. Seife für das Waschen der Kleider. Alles was nicht selbst erwirtschaftet werden kann, muss zugekauft werden, Salz, Zucker, Seife.

Schule

Die Kinder der Gemeinde besuchen die eigene autonome zapatistische Schule, an der auch in Tsetsal, ihrer indigenen Sprache unterrichtet wird. Diese Sprache wird an der staatlichen Schule nicht unterrichtet. Die Sprache ist ein wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität und soll nicht zugunsten der spanischen Sprache verloren gehen.

Gesundheit

Die Gemeinde verfügt über ein kleines autonomes Spital mit einem 24 Std.-Betrieb. Notfälle können auch an die staatlichen Kliniken in grössere Städte überwiesen werden. Gesundheitspromotorinnen besuchen die Gemeinde regelmässig und vermitteln Basiswissen. Eine grosse Errungenschaft der Zapatisten scheint mir das strikte Verbot des Alkohols. Ich habe nie Anzeichen von Alkoholmissbrauch gesehen, ganz im Gegensatz zu andern Orten. Häufig auftretende Krankheiten sind Dengue-Fieber und Malaria. Ein grosses Problem scheinen mir die Zahnschäden schon bereits bei kleinen Kindern. Ich habe mich mit einem englischen Lehrer, der als Freiwilliger in zapatistischen Gemeinden Schulprojekte betreut darüber unterhalten. Er meinte, dass man sich des Problems bewusst sei und nach Möglichkeiten suche, Zahnhygiene in den Schulen und durch die Gesundheitspromotorinnen zu vermitteln.

Alarmbereitschaft

Am 27. Mai überflogen zwei Armeehelikopter den Ort. Die Erwachsenen zeigten sich höchst beunruhigt und die Kinder fragten ängstlich, ob die Soldaten wieder kämen. Aber auch sonst, wenn ein unbekanntes Auto sich näherte, war sofort eine Spannung zu spüren. Einmal "verirrten" sich Touristen mit einem einheimischen Führer in den Ort. Sie wollten im nahen Fluss baden gehen. Sie hätten dafür eine Bewilligung beim Caracol von Garrucha einholen müssen, zu dessen Autonomiebereich die Gemeinde gehört. Eine solche Bewilligung hatten sie aber nicht. Viele Frauen und Kinder sammelten sich um das Auto, was auf die Touristen beängstigend wirken musste. Sie schienen erleichtert zu sein, als sie mich sahen. Dass sie eine Bewilligung gebraucht hätten wussten sie nicht, und sagten auch sofort, dass sie zurück fahren würden und keine Schwierigkeiten wollten. Touristen sind nicht unbedingt gerne gesehen. Die Gegend ist voller Naturschönheiten, mit Flüssen mit wunderbar sauberem Wasser, in dem problemlos gebadet werden kann. Schon öfter sind touristische Projekte realisiert worden, welche die Vertreibung der lokalen Bevölkerung zur Folge hatten. Und die Regierung treibt solche Projekte voran. So wird die Skepsis Touristen gegenüber verständlich.

Am Freitag, 30. Mai, musste ich über das Telefon des Schreiners im Ort Fray Ba anrufen, weil ich seit Mittwoch alleine da war, da meine Kollegin nur eine Woche hatte bleiben können. Fray Ba hatte mir zwei weitere Personen angekündigt, die gleichentags eintreffen sollten. Sie kamen nicht, am Donnerstag ebenfalls nicht. Ich befürchtete Krankheit, Unfall oder Blockierung wegen der heftigen, seit zwei Tagen andauernden Regenfälle. Das Fray Ba informierte mich, dass die beiden verunfallt seien, nicht gravierend, aber doch so, dass sie nicht kommen könnten. Ich sollte am Samstag abreisen, da ich nicht alleine dort bleiben könne. Wie ich von meinem Anruf zurück kam sagte mir unser Gastgeber, dass es Gerüchte gäbe, dass die Armee mit 5’000 Soldaten einmarschieren wollte. Es blieb aber ruhig. Aber die Männer meiner Familie blieben zu Hause. Sie wollten die Frauen und Kinder nicht alleine lassen.

Am Samstag, 31.5. frühmorgens habe ich mich von meiner Gastfamilie verabschiedet. In der Nacht hatte es sintflutartig geregnet. In den wenigen Regenpausen hörte ich das Rauschen der nahen Flüsse und fürchtete möglicherweise blockiert zu sein.

Ich werde mich gerne an die Tage in San Jerónimo erinnern, die freundlichen Menschen, die meine Fragen beantwortet haben, die mir bereitwillig Einblick in ihr Leben gewährt haben, die Kinder, die mich zum Schwimmen begleitet haben. Aber ich denke auch an die Anspannung im Dorf, die Bedrohung, mit der die Menschen leben müssen -- und das wichtige Zeichen der Solidarität mit unserer internationalen Präsenz.

San Cristobal, 2. Juni 2008

Weitere Berichte zu Cruztón, Huitepec und 28 de junio auf
http://www.peacewatch.ch


Philipp Gerber
Peace Watch Switzerland
Projektkoordination Mexiko / Guatemala
Quellenstrasse 31 8005 Zürich / SUIZA

 Quelle:  
  http://www.peacewatch.ch 
 

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