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Buchbesprechung: FOXtrott in Mexiko

News vom 18.01.2003
Ulrich Brand (Kassel)

  Die Studie stellt die erste umfassende deutschsprachige Bestandsaufnahme der Veränderungen in Mexiko nach Amtsübernahme von Vicente Fox Quesada im Dezember 2000 dar. Denn mit dessen Präsidentschaft stellt zum ersten Mal seit über 70 Jahren nicht die "Partei der Institutionellen Revolution" (PRI) den mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Chef der Exekutive. Der Marburger Soziologe Dieter Boris und der Nürnberger Politikwissenschaftler und Publizist Albert Sterr skizzieren den raschen und widersprüchlichen Transformationsprozess ausgehend von der Beobachtung, dass linke Bewegungen seit den 80er Jahren die Demokratisierung des politischen Systems erzwangen und im Jahr 2000 ein neoliberal-konservativer Präsident gewählt wurde. Die politischen Veränderungen werden in soziale und ökonomische Verhältnisse eingebettet. Der von 1930 bis 1965 weitgehend unangefochtene "inklusive Korporativismus" in Mexiko, in dem Herrschaft aus einer recht gut funktionierenden Mischung von Kooptation, Zugeständnissen und Zwang gesichert wurde, sah sich 1968 vor allem von StudentInnen infrage gestellt. Die repressive Antwort des Staates führte zu einem ersten Legitimitätsverlust, der in den 70er Jahren jedoch durch die hohen Erdöleinnahmen und Umverteilungspolitiken kompensiert werden konnte (21ff.). Nach dem verheerenden Erdbeben in Mexiko-Stadt 1985 und der Unfähigkeit seitens staatlicher Akteure, ein effektives Krisenmanagement zu betreiben, bildeten sich verstärkt soziale Gruppen, die eine Demokratisierung des Systems forderten. Seit 1988 gab es mit der später so genannten "Partei der Demokratischen Revolution" (PRD) auch eine ernstzunehmende parteipolitische Opposition. Parallel wurde die mexikanische Ökonomie dem Weltmarkt geöffnet, dereguliert und privatisiert. Die 90er Jahre waren unter den Präsidenten Salinas (1988-1994) und Zedillo (1994-2000) gekennzeichnet durch eine kontrollierte politische Öffnung des Systems und die Durchsetzung des Neoliberalismus mittels korporativer Strukturen, insbesondere die Einbindung geschwächter und höriger Gewerkschaften (57). Die Regierungszeit Zedillos bildet einen ersten Schwerpunkt der Untersuchung. Die Präsidentschaft begann mit der Peso-Krise Ende 1994, direkt nach Amtsantritt, war gekennzeichnet durch den kurz vorher begonnenen Aufstand er Zapatistas in Chiapas und andere erstarkende legale und außerlegale soziale Bewegungen, Kämpfe um die Demokratisierung des politischen Systems sowie eine zunehmende ökonomische Modernisierung und internationale Verflechtung, insbesondere mit den USA.

Dem historischen Wahlsieg der "nationalen Aktionspartei" (PAN) am 2. Juli 2000 über die PRI ging eine Wahlniederlage der Quasi- Staatspartei 1997 bei den Parlamentswahlen und den Bürgermeisterwahlen in Mexiko-Stadt (sowie einigen Gouverneurswahlen) voraus. Die Autoren identifizieren seit dem Amtsantritt von Fox keine großen inhaltlichen Alternativen, insbesondere nicht in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Den vollmundigen Versprechen folgten Enttäuschungen (113). Und selbst das symbolisch wichtige Gesetz für indigene Rechte und Kultur, eine zentrale Forderung der Zapatistas, scheiterte an den eigenen Reihen. Neu ist der virtuose Umgang von Fox mit den Medien, seine zwei Millionen Mitglieder (!) zählende Wahlkampfplattform Amigos de Fox, die wichtiger als die Partei für den Wahlsieg war, sowie die Tatsache, dass in seinem Kabinett die Hälfte der Minister Unternehmer sind Boris und Sterr nehmen in den verschiedenen historischen Abschnitten auch diverse soziale Bewegungen in den Blick, skizzieren sie und schätzen ihre Bedeutung ein. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie den Zapatistas, bei denen sie verschiedene Phasen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten ausmachen. Im Gegensatz zu vielen deutschsprachigen Beiträgen sehen sie die indigene Aufstandsbewegung eher kritisch. "Mit Ausnahme der Autonomiefrage ist der Zapatismus als Bewegung weder inhaltlich noch von seinen Organisationskapazitäten her interventionsfähig." (161) Sie konnten lediglich "Stimmungen erzeugen", ihre Kampagnen konnten "sich jedoch nicht in dauerhafte Formen kollektiven Politikmachens transformieren." (ebd.) Es sei dahingestellt, ob die Autoren mit recht traditionellen Kriterien vielleicht das Neue des Aufstandes abschatten. Richtig ist jedoch ihre Einschätzung, dass mit dem Regierungswechsel die auch von den Zapatistas ins Zentrum gestellte Frage der Demokratie in den Hintergrund gerät. Ob die These von Boris und Sterr stimmt, dass gegenüber der demokratischen die soziale Frage an Bedeutung gewinnt, kann hier nur mit einem sachten Fragezeichen versehen werden. Neben den sozialen Bewegungen stehen informative Kapitel zur Agrarkrise, Migration, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA u.a.

Im letzten Teil wird eine interessante Einordnung des "Foxtrotts in Mexiko" vorgenommen. Inwieweit bildet sich unter neoliberalen Bedingungen seit den 90er Jahren in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern ein neopopulistisches Herrschaftsmodell heraus? (In Abgrenzung zum klassischen Populismus der 1940er bis 70er Jahre.) Paradigmatisch waren dafür die Kräftekonstellationen in Peru unter Alberto Fujimori (1990-2000) und Argentinien unter Carlos Menem (1998-1999) in den 90er Jahren.

Es handelt sich hier um eine Quasi-Allianz zwischen neoliberalen Kräften und Marginalisierten. "Die aktiven Träger des Neopopulismus sind die großen exportorientierten Kapitale ..., also diejenigen, die von Liberalisierung der Ökonomie und der zunehmenden Einbindung in den Weltmarkt am meisten profitieren. Zu ihnen gesellen sich ... große Teile der Marginalisierten, also derjenigen, für die schärfste Konkurrenz, Kampf ums Überleben und Rückzug auf Individuum/Familie seit jeher zum lebenspraktischen und ideologischen ABC gehört." (233) Der Neopopulismus kann auch auf das Militär bauen, ist radikal neoliberal und außenpolitisch ein Vasall der USA. Die Privilegierten des klassischen Populismus, städtische Arbeiterschaft, Staatsangestellte, Teile der Mittelschichten, binnenmarktorientierte Unternehmer, werden zu Verlierern des Neopopulismus. Zentrale Inhalte des "klassischen Populismus", zu dem Boris und Sterr heute noch Hugo Chávez in Venezuela zählen, werden damit auf den Kopf gestellt. Vicente Fox fehlt, so die Einschätzung für Mexiko, bislang die Massenbasis für ein neopopulistisches Projekt. Es wird zu einem "Dauerkonflikt zwischen konservativem Gesellschaftsentwurf, Neopopulismus und klassischem Populismus" kommen (240). Spielraum wird es weniger in der Wirtschafts- und Sozialpolitik geben, sondern eher in der Chiapas-Frage, bei der Staatsreform und in der Außenpolitik. Insgesamt überwiegt aber die Kontinuität der neuen Regierung im Verhältnis zu den Vorgängerregimen. Die Studie besticht durch ihre anregenden Einschätzungen und kenntnisreichen, immer am Argumentationsgang orientierten Details. An zwei Punkten bleiben Fragen: Warum wird Präsident Fox überhaupt an seinen Wahlversprechen gemessen? Dass diese nicht eingehalten werden, ist nichts Neues. Damit bleiben die Mechanismen der Legitimation unterbelichtet; die ja für die jahrzehntelange PRI-Herrschaft entscheidend waren. Der Einbettung politischer Entwicklungen im engeren Sinne in sozio-ökonomische Entwicklungen korrespondiert zudem keine Analyse spezifischer Kräftekonstellationen (außer bei den Ausführungen zum Neopopulismus); insbesondere die diversen Fraktionen der Bourgeosie finden keine Erwähnung. Dennoch: Nicht nur für Lateinamerika- und Mexiko-KennerInnen, sondern auch für jene, die sich exemplarisch für die Widersprüche der neoliberalen Transformation in einem peripheren Land interessieren, sei der Band empfohlen.

Boris, Dieter, und Albert Sterr: Foxtrott in Mexiko. Demokratisierung oder Neopopulismus? Neuer ISP-Verlag, Köln 2002 (br., 269 S., 18 Euro, bei Bestellung über buecher.de ohne Versandkosten innerhalb eines tages lieferbar)

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