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Ungewissheit in Chiapas

graswurzel.net vom 01.01.2010
Nr. 345 - Luz Kerkeling

  Mexiko am Wendepunkt?

Die Situation im südmexikanischen Bundesstaat ist zur Zeit höchst angespannt. Neben zunehmender Repression und paramilitärischer Gewalt gegen soziale Bewegungen lanciert die Regierung von Gouverneur Juan Sabines Desinformations- und Bestechungskampagnen, um ihre umstrittenen »Entwicklungsprojekte« durchzusetzen. Doch auch der Widerstand geht weiter. Vor dem Hintergrund des bedeutungsvollen Jahres 2010 − 100 Jahre Mexikanische Revolution, 200 Jahre Mexikanische Unabhängigkeit − sind daher verschiedenste Szenarien denkbar.

Aufstandsgerüchte

Seit Wochen häufen sich die Gerüchte über mögliche bewaffnete Erhebungen in Mexiko. Die regierungsnahen Massenmedien, allen voran Fernsehen und Radio, schwören ein Aufstandsszenario herbei. Das wirkt für viele AktivistInnen und BeobachterInnen wie ein politisches Manöver, um präventiv einen Konsens für zukünftige Repressionsschläge und willkürliche Gerichtsverfahren gegen AktivistInnen sozialer Bewegungen des Landes zu ermöglichen. Regelmäßig berichten die dominierenden Medien über vermeintliche »Allianzen« zwischen so unterschiedlichen Akteuren wie der marxistisch-leninistischen Guerilla Revolutionäre Volksarmee EPR und der basisorientierten zapatistischen EZLN. Während die EPR noch 2007 mehrere Gaspipelines in die Luft sprengte, lässt die EZLN seit Mitte Januar 1994 ihre Waffen schweigen und widmet sich dem Aufbau autonomer Parallelstrukturen. Es ist daher nicht nur wegen der explizit artikulierten politischen Differenzen, sondern auch aufgrund grundlegend anderer Praktiken abwegig, eine derartige Allianz herbeizureden.

Repression

In den letzten Monaten gerieten verschiedene oppositionelle Gruppierungen ins Visier der Eliten. Auch die Bauernorganisation Emiliano Zapata OCEZ aus der Region Carranza, die in der Vergangenheit erfolgreich zahlreiche Landbesetzungen durchführen konnte, ist Opfer von Repression und Medienkampagnen geworden. In einem per Email verbreiteten »offiziellen Kommuniqué«, das interessanterweise nicht unterzeichnet war, aber von vielen regierungsnahen Medien verbreitet wurde, werden der OCEZ die Planung von Aufständen, Kontakte zu bewaffneten Gruppen wie der EPR sowie Waffen- und Drogenhandel vorgeworfen. Im September und Oktober 2009 wurden insgesamt drei Führungspersönlichkeiten der OCEZ festgenommen, darunter José Manuel Hernández alias »Chema«. Sie wurden gefoltert und mussten Geständnisse unterschreiben, deren Inhalt sie nicht kannten. Ein OCEZ-Mitglied kam bei den Festnahmen ums Leben. Offenbar reicht es nicht mehr aus, die AktivistInnen als potentielle Guerilleros zu brandmarken − jetzt werden sie auch noch als gefährliche Mitglieder des Organisierten Verbrechens präsentiert, um die Repression rechtfertigen zu können. Die rein zivil agierende Kampffront für den Sozialismus FNLS, zu der die OCEZ gehört, fürchtet daher, dass die Festgenommenen wie viele soziale AktivistInnen spurlos »verschwinden« könnten und macht Gouverneur Juan Sabines von der sozialdemokratischen PRD direkt für mögliche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Nach einer wochenlangen friedlichen Besetzung der UNDP-Büros in Chiapas wurden die OCEZ-Gefangenen auf Kaution freigelassen − ihre Prozesse stehen ihnen allerdings noch bevor.

Am 26. September wurde ein Brandanschlag auf die Räumlichkeiten der Frauenorganisation Kinal Antsetik in San Cristóbal verübt. Die unabhängige Gruppierung fördert Bildungsprojekte und Kooperativen in Chiapas. Es gelang den indigenen Frauen, die auf dem Gelände leben, den Brand zu löschen. Kinal sorgt sich nun um die körperliche Unversehrtheit ihrer Angehörigen und besonders der Mitarbeiterin Yolanda Castro, da einige mexikanische Behörden sich bemühen, sie als Angehörige bewaffneter Gruppen darzustellen. Kinal geht davon aus, dass der Staat ihre Arbeit als Menschenrechtsverteidigerin kriminalisieren will, da sie immer wieder Angehörige von Gefangenen und verschwundenen Personen juristisch begleitet.

Paramilitärische Aktivitäten

Die paramilitärischen Gruppierungen in Chiapas haben in den letzten Monaten eine Besorgnis erregende Aktivität entwickelt. In der Gemeinde Mitzitón, nahe bei San Cristóbal, in der die Mehrheit der Bevölkerung in dem pro-zapatistischen Netzwerk der »Anderen Kampagne« organisiert ist und gegen den Autobahnbau von San Cristóbal nach Palenque über ihre Territorium protestiert, wurde am 21. Juli Aurelio Díaz umgebracht. Díaz wurde von Angehörigen der »Armee Gottes«, einer Gruppe mit paramilitärischen Zügen, die der protestantischen »Kirche der Adlerflügel« nahe steht, vorsätzlich mit einem Pickup überfahren.

Am 18. September attackierten etwa 60 Personen mit Steinen, Stöcken und Schusswaffen den Anwalt Ricardo Lagunes, als dieser sich nach einer Besprechung in der Gemeinde Jotolá auf den Heimweg machen wollte. Der Anwalt, der für das international renommierte Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas arbeitet, wurde zusammengeschlagen und entging nur knapp einem Lynchmord, da ihm Gemeindemitglieder zu Hilfe eilten. Bei der Befreiungsaktion eröffneten Paramilitärs das Feuer und verletzten Carmen Aguilar aus San Sebastian Bachajón schwer. Die Angreifer sind Mitglieder der regierungsnahen »Organisation zur Verteidigung der indigenen und bäuerlichen Rechte« (OPDDIC), die über einen bewaffneten Arm verfügt, der von Menschenrechtsorganisationen bereits mehrfach für Übergriffe auf zapatistische Gemeinden verantwortlich gemacht wurde. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé kritisierte die Vorgehensweise der Polizei, die kurz vor dem Angriff noch mit OPDDIC-Mitgliedern gesprochen habe und danach verschwunden sei. Die OPDDIC wird beschuldigt, auf gewaltsame und illegale Weise Land an ihre Mitglieder zu verteilen, das 1994 von der EZLN besetzt wurde. Erst Anfang September hatten Paramilitärs mehrere Zapatistas im EZLN-kontrollierten Landkreis San Manuel schwer verletzt.

Die paramilitärischen Aktivitäten reißen nicht ab. Mitte November meldete der zapatistische Selbstverwaltungsrat von Roberto Barrios aus Nordchiapas, dass es immer wieder zu nächtlichen Aufmärschen und Schießübungen von Paramilitärs komme und dass diese die ZapatistInnen massiv bedrohten. Wenige Tage zuvor hatten die Räte von La Garrucha und Morelia aus der östlichen Regenwaldregion bekannt gegeben, dass lokale Machthaber dabei sind, einen freien kollektiven Kleinbauernmarkt in Ocosingo zu privatisieren und damit den Menschen der Region die Möglichkeit nehmen, ein wenig Geld hinzu zu verdienen. Am 19. November berichtete der Rat von Oventic aus dem zentralen Hochland, dass drei Zapatisten unter dem Vorwand, sie würden die Gemeindearbeiten nicht erfüllen, 16 Stunden von Angehörigen der lokalen PRD entführt und gefoltert wurden.

Am 27. November wurde Mariano Abarca in Chisomuselo vor seinem Haus von einem Motorrad aus erschossen. Abarca engagiert sich seit Jahren im Kampf gegen den Tagebau des kanadischen Unternehmens Blackfire Exploration Ltd. in Chiapas und hatte an zahlreichen Demonstrationen und Blockaden gegen die Minenaktivitäten teilgenommen.

Straflosigkeit und mafiöse Strukturen

Ein strukturelles Problem im Kontext der Gewalt ist die Straflosigkeit im Land. Die Seilschaften zwischen Lokalfürsten, Paramilitärs, Regierungsfunktionären, staatlichen Sicherheitskräften, Unternehmern und professionellen Kriminellen bilden die physische Struktur des Organisierten Verbrechens und der Oligarchie, die ihre Privilegien verteidigen will. Gewalttäter, die im Interesse dieser Eliten handeln, haben in der Regel wenig zu befürchten. Um diese Zustände zu ändern, wäre neben zahlreichen ökonomischen und politischen Maßnahmen eine radikale Umstrukturierung des Justizsystems notwendig. Die ist aber keineswegs in Sicht.

Medienkampagnen

Die gezielte Verbreitung von Desinformation ist integraler Bestandteil der Herrschaftssicherung. Inzwischen wird sogar vor Anschuldigungen gegen die katholische Kirche nicht mehr Halt gemacht. In einem Dokument vom Juli 2009 warnt die chiapanekische Staatsanwaltschaft vor einem systemfeindlichen Netzwerk von FNLS, dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas und katholischen Pfarrern, das für 2010 bewaffnete Aktivitäten vorbereite. Geistliche der Diözese von San Cristóbal protestierten daraufhin »aufs schärfste« gegen »die Verfolgung der katholischen Kirche«, die »von der Staatsregierung gegen Bischof Felipe Arizmendi« betrieben werde, insbesondere gegen den Pfarrer Jesús Landín, auch Padre Chuy genannt, von der Pfarrgemeinde San Bartolomé in Venustiano Carranza. Die Regierung habe »eine permanente Verfolgung gegen Landín ausgelöst und beschuldigt ihn, die Bevölkerung aufzuhetzen und Gewalt und Waffengebrauch zu fördern«. Die Priester versicherten, dass es sich dabei um »Verleumdungen« handele. Sie bekräftigten ihre soziale Verpflichtung der Bevölkerung gegenüber und kündigten an, weiterhin zu »versuchen sie dabei zu unterstützen, ihre Rechte auf Freiheit und den Respekt vor unserer Mutter Erde durchzusetzen«. Um die zahlreichen KritikerInnen dieser Regierungskampagne zu beruhigen, reagierte Gouverneur Sabines schließlich mit einem Treffen mit Bischof Arizmendi, und kündigte an, in Zukunft regelmäßiger mit der Kirche zu kommunizieren, um »Missverständnisse« zu vermeiden.

Die Regierung von Sabines greift immer wieder zur Methode von bezahlten Artikeln, nicht selten drucken die chiapanekischen Zeitungen die Pressemitteilungen wortwörtlich ab, sogar die linksliberale Tageszeitung »La Jornada« aus Mexiko-Stadt bringt immer wieder komplette Kommuniqués der Regierung, die daran zu erkennen sind, dass kein Reporter sie unterzeichnet. Dabei wiederholt sich das Schema, dass zunächst oppositionelle Kräfte diffamiert und mit kriminellen Machenschaften in Verbindung gebracht werden. Gibt es daraufhin keine oder nur eine kaum wahrnehmbare Reaktion seitens der betroffenen AkteurInnen, werden weiterhin manipulative Nachrichten verbreitet und die Repression nimmt zu. Ist der soziale Druck von unten allerdings stark genug, zeigt sich die Administration von Sabines scheinbar »reumütig« und rudert zumindest verbal zurück. Neben der jüngsten Verleumdungskampagne gegen Teile der Kirche sind besonders die Auseinandersetzungen um die Wasserfälle von Agua Azul ein prägnantes Beispiel: Der äußerst beliebte Ausflugsort wird seit 2007 von der OPDDIC kontrolliert. Nur wenige Familien des ejidos (Gemeindelandbezirk) von San Sebastian Bachajón profitieren von den hohen Einnahmen aus dem Tourismus. Daher beschloss die Mehrheitsfraktion des ejidos, die in der »Anderen Kampagne« organisiert ist, ein kleines Kassenhäuschen aufzustellen, um auch ein wenig am Tourismus zu verdienen. Zudem wehren sich die Angehörigen der »Anderen Kampagne« gegen den Bau der Autobahn San Cristóbal − Palenque und gegen den Neubau von Hotels. Daraufhin wurden sechs AktivistInnen festgenommen und gefoltert und in gleich lautenden Artikeln in gut einem Dutzend Tageszeitungen als Bande vorgeführt, die für zahlreiche gewaltsame Raubüberfälle auf touristische Busse verantwortlich sei. Besonders zynisch an diesem Fall ist erstens, dass es eben die linksgerichteten Angehörigen der »Anderen Kampagne« waren, die Monate zuvor die tatsächlichen Kriminellen festgesetzt und der Polizei übergeben hatten, die sie daraufhin direkt wieder frei ließ. Zweitens wurde einer der Festgenommenen, der Zapatist ist, nach massiven, auch internationalen Protesten medienwirksam freigelassen, wobei der Gouverneur in diesem Kontext noch von seiner Achtung vor der indigenen Selbstverwaltung schwafelte. Die übrigen Gefangenen mussten noch Wochen im Gefängnis verharren und noch immer warten zwei Personen auf ihre Freilassung.

Die Medienkampagnen gipfelten am 25. November 2009 in der Meldung, dass die zapatistischen Selbstverwaltungsgremien, die zivilen »Räte der Guten Regierung«, das chiapanekische Parlament um »verfassungsmäßige Anerkennung« gebeten haben sollen. Alle fünf Räte wiesen die Berichte umgehend zurück: »Die Lügen der schlechten Regierung sind Teil eines Aufstandsbekämpfungsplans, um die öffentliche Meinung zu manipulieren und den Widerstand unserer Gemeinden im Kampf für ihre Autonomie zu diskreditieren«.

Hintergrund: Auseinandersetzungen um »Entwicklungsprojekte«

Den progressiven Worten des Gouverneurs, der ein guter politischer Freund des rechts-konservativen Präsidenten Felipe Calderón ist, stehen auf der anderen Seite Repression und rücksichtslose neoliberale Projekte gegenüber. Hintergrund der Auseinandersetzungen sind Landstreitigkeiten und »Entwicklungsprojekte« in der Region. Die Regierung Sabines strebt eine territoriale Neuordnung für Chiapas an. Gemeindeländereien sollen durch die Zusammenlegung versprengter Dörfer zu »ländlichen Städten« entvölkert und der Privatwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Die Territorien sind schon längst ins Visier der Viehzucht-, Palmöl-, Minen-, Agrarsprit-, Tourismus- und Bauunternehmen geraten. Sowohl die Regierung von Chiapas als auch die mexikanische Bundesregierung treiben diese Projekte in Zusammenarbeit mit multinationalen Konzernen voran, ohne die jeweils betroffenen Gemeinden angemessen zu konsultieren. »Die Projekte der Regierung nutzen uns nichts«, so der erfahrene Kleinbauer José Pérez aus Palenque, »sie nutzen nur den Reichen und den Touristen, uns Armen bringen sie nur Schwierigkeiten«. Sämtliche »Entwicklungsmaßnahmen« sind Teil des infrastrukturellen Großvorhabens »Proyecto Mesoamérica«. Dieses Nachfolgeprojekt des massiv kritisierten »Plans Puebla-Panamá« dient der intensiven Erschließung Südmexikos und Zentralamerikas für den Weltmarkt. Das Maßnahmenbündel hat eine neue Qualität erreicht − noch nie gab es so viel Geld dafür und nur selten gab es eine derart reibungslose Zusammenarbeit zwischen der chiapanekischen und der föderalen Regierung. AktivistInnen und BeobachterInnen hingegen sind äußerst besorgt. Sie fürchten, dass dieses neoliberale Paket unterschiedliche indigene und kleinbäuerliche, von Subsistenzwirtschaft geprägte Lebensweisen in Chiapas in ihrer Existenz bedroht.

Anhaltender Widerstand

Doch trotz aller Megaprojekte und Repressionen leisten die BewohnerInnen vieler chiapanekischer Gemeinden weiterhin Widerstand. Obwohl der mexikanische Staat tagtäglich nationales und internationales Recht bricht − darunter die ILO-Konvention 169 über indigene Selbstverwaltung -, geben sie nicht auf. Ein Großteil des Widerstands ist praktisch »unsichtbar«, doch Chiapas sähe heute völlig anders aus, wenn es nicht zahlreiche Organisationen und Gruppen gäbe, die auf unspektakuläre Weise im Alltag weitere soziale Zumutungen und ökologische Zerstörungen verhindern und ihre Ländereien verteidigen würden. Für viele Indígenas ist die Gemeinde selbst die Organisationsstruktur. Selbstverständlich sind die indigenen Dörfer voller Widersprüche − vor allem was die immer noch stark benachteiligte Stellung der Frauen betrifft -, aber die zahlreichen Bestechungsversuche, Medienkampagnen und Gewaltakte von Regierung, Kaziken und Konzernen verdeutlichen, dass sie im Fall von Chiapas eines der letzten Bollwerke gegen den rücksichtslosen Durchmarsch von Staat und Kapital bilden. Die Gemeinden und Organisationen der »Anderen Kampagne«, einer mehrjährig angelegten, außerparlamentarischen Mobilisierung, die von der EZLN 2005 vorgeschlagen wurde und eine neue antikapitalistische Verfassung für Mexiko erarbeiten und durchsetzen will, treiben ihre Vernetzung voran und sind in Chiapas zu einem deutlich wahrnehmbaren Akteur geworden, vor allem im Bereich der Antirepressionsarbeit und des Widerstands gegen die völlig überteuerten Stromgebühren. Auch andere linksgerichtete Strömungen wie die Dörfer der FNLS oder die befreiungstheologisch inspirierten Basisgemeinden stellen ein relevantes Widerstandspotential dar. In allen Protestströmungen spielen die Frauen eine zunehmend wichtige Rolle. »Es ist bemerkenswert«, so Thomas Zapf vom Internationalen Friedensdienst SIPAZ aus San Cristóbal, »dass sich auch immer mehr regierungsnahe Gemeinden bewusst werden, dass die Entwicklungsprojekte nicht ihren Interessen dienen«. Gerade bei alltagsbezogenen Protesten, z.B. gegen hohe Strompreise, kommt es verstärkt zu undogmatischen lokalen Bündnissen zwischen Angehörigen verschiedener politischer Überzeugungen, die sich in Zukunft noch verbreiten und verstärken könnten.

Mexiko am Wendepunkt?

Die hochkomplexe und äußerst heterogene mexikanische Gesellschaft steht an einem schwierigen, wahrscheinlich historischen Punkt. Die aktuelle Regierung schafft nicht mehr, das aus dem Jahrzehnte dominierenden PRIismus bekannte vage Scheingleichgewicht zwischen halbwegs »ruhig gestellter« Bevölkerung und der Wahrung der Privilegien der Eliten zu halten. Die extreme Armut wächst, die Landflucht setzt sich fort, es kommen immer weniger Geldüberweisungen von mexikanischen MigrantInnen aus den USA zurück ins Land, die soziale Verrohung, die Gewalt gegen Frauen und die autoritäre Disziplinierung der Gesellschaft nehmen durch die anhaltende Militarisierung und die Kämpfe zwischen verfeindeten Drogenkartellen zu. Dazu kommen provokative Enteignungsprozesse öffentlichen Eigentums wie die vor kurzem vom Präsidenten dekretierte Zwangsauflösung des staatlichen Energieversorgers »Luz y Fuerza«, bei dem über 40.000 Menschen mit einem Schlag ihre Arbeit verloren und gegen die sich die Mexikanische Gewerkschaft der ElektrizitätsarbeiterInnen SME mit breiter Unterstützung verschiedener linker Kräfte vehement wehrt. Das historische Datum von 2010 wollen alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte besetzen. Noch kann sich die Calderón-Administration halten, vor allem durch die massive Unterstützung seitens der Massenmedien und des Militärs − und der USA. Verschiedenste Szenarien gesellschaftlichen Aufbegehrens sind möglich, bewaffnete, aber vor allem auch Aktionen massiven zivilen Ungehorsams.

Und die EZLN? Die Führung der Organisation schweigt seit März 2009. Was die Zapatistas 2010 vorhaben, ist nicht bekannt. Sie waren immer wieder für Überraschungen gut.

Luz Kerkeling · Mit freundlicher Genehmigung des Autors

 Quelle:  
  https://www.graswurzel.net/gwr/category/ausgaben/345-januar-2010/ 
 

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