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Mit Retortenstädten sollen UNO-Milleniumsziele erfüllt werden

Direkte Solidarität Chiapas vom 06.04.2010
Philipp Gerber

  Mit Retortenstädten sollen UNO-Milleniumsziele erfüllt werden
»Willkommen in Nuevo Juan del Grijalva« kündigt ein Spruchband die Siedlung an, die von der Regierung als das Zukunftsmodell zur Überwindung der Armut gefeiert wird. Ein in eine Hügellandschaft hinein gepflanztes Dorf mit rund 400 Backsteinhäuschen, alle wie aus einem Guss, wird von einem Turm auf einer Anhöhe überragt.

Für die kleine Ladenpassage bringt ein Lastwagen von Pepsi-Cola Nachschub. Etwas Fleisch und Gemüse wird feilgeboten. Alles wirkt gespenstisch leer, kein Vergleich zum bunten Treiben auf lateinamerikanischen Märkten. Es gibt zwar auch eine Bäckerei, eine Schreinerei, einen Bankschalter, einen Handyshop und einen Schönheitssalon. Die meisten dieser kleinen Geschäfte werden von Frauen betrieben, welche sich zu diesem Zweck in Kooperativen organisieren mussten. Zwei Beamtinnen des staatlichen »Sekretariats für soziale Entwicklung« (Sedesol) halten den Ladenbesitzern gerade eine Rede über Verkaufsstrategien — und kontrollieren auch die Arbeit in den kleinen Kooperativen.

Nahe der verlassenen Busstation gibt es einen weiteren Kooperativenbetrieb von sechs Frauen: Das Hotel namens »Gelobtes Land« (Tierra prometida). Wer denn hier, weitab von touristischen Attraktionen, in den Zimmern übernachtet, die teurer sind als in der Hauptstadt, wollen wir wissen. »Ab und zu ein Regierungsfunktionär oder VertreterInnen von Sponsorenfirmen«, ist die Antwort an der Rezeption. Wer wird wohl in zwei oder drei Jahren, wenn der Propagandaspuk vorbei ist, im »Gelobten Land« noch absteigen?

Auf einer Anhöhe am Dorfrand thront ein Turm. Er heisst »Azteca Turm«, da er von der gleichnamigen TV − Kette gesponsert wird. »Nuevo Juan del Grijalva hat einen Azteca — Turm und dies mitten im Maya-Land«, wird gespöttelt. In diesem Turm, der in seiner Wuchtigkeit unweigerlich an einen Wachtturm eines Gefängnisses erinnert, befindet sich ein Internet-Zentrum (finanziert durch den privatisierten Telefonanbieter Telmex) und ein modernst eingerichteter Versammlungsraum — »für Besuche des Gouverneurs«, so der Jugendliche aus dem Computerzentrum, der uns stolz die Anlage zeigt. Auf die Frage, ob denn alle Häuser bewohnt seien, wir hätten anderweitiges gehört, meint er, ja, das stimme schon, er sei gerade mit einer Zählung beschäftigt, der Gouverneur sei darüber informiert...

Neue Armut, neuer Schlamm

Die Leute im Dorf sehen sich in ihrem neuen Leben mit vielen Unwägbarkeiten konfrontiert. Erzürnt erzählt Eloisa Rios Ramirez, die im Markt ein bescheidenes Restaurant führt, wie es ihr in der »urbanen« Umgebung geht: »Früher konnten wir von unserem Land leben, bauten für den Eigenkonsum an und verkauften den geernteten Kaffee. Geld brauchten wir nur für Reis, Salz, Zucker, Öl und Seife. Heute müssen wir für alles bezahlen. Sogar das öffentliche WC kostet Eintritt. Wer hier kein Geld hat, muss verhungern« Eloisa Rios verlor durch die Schlammlawine ihre Eltern und ihre 6 Hektaren Land. Sie berichtet, dass sie von der Regierung einen Kredit in der Höhe von 125’000 Pesos (11’000 Sfr.) erhielt. Dafür wurde die Analphabetin vom Beamten gezwungen, die Kücheneinrichtung zu dreifach überhöhten Preisen einzukaufen — zu exakt 125’000 Pesos. Seither ward der Funktionär nicht mehr gesehen. »Jetzt sind die ersten Kreditrückzahlungen fällig, die ich aber mit dem Erlös aus 2-5 verkauften Essen pro Tag nicht aufbringen kann« Hinzu kommt die horrende Stromrechnung von 4000 Pesos (350 Sfr.) für die ersten zwei Monate Betrieb, die eben eingetroffen ist.

Eine spontane Umfrage bei anderen Ladenbesitzern ergab ähnlich hohe Rechnungen der staatlichen Stromgesellschaft, welche unweit drei grosse Wasserkraftwerke betreibt. Der junge Mann in der Metzgerei »Der glückliche Stier« macht dem Namen seines Ladens alle Ehre und streckt uns mit Galgenhumor seine Rechnung über 5’100 Pesos entgegen. Seine Kühlvitrine funktioniert, ist aber leer. Gleich davor hängt das Fleisch ganz traditionell an der frischen Luft ab. Niemand scheint annähernd in der Lage zu sein, die Stromrechnungen für die unnützen oder überproportionalen Geräte bezahlen zu können.

Auf einem Rundgang beobachten wir, dass tatsächlich eine stattliche Anzahl der insgesamt gut 400 Häuser leer stehen. Denn nicht nur direkt Betroffene wie Eloisa bekamen ein Häuschen, sondern die Familien von insgesamt 11 Weilern. Viele Familien, die noch den alten Hof besitzen, nahmen den geschenkten Fortschritt mal an, scheinen es aber vorzuziehen, in ihrer alten Umgebung zu leben. Es ist bekannt, dass Häuser vermietet oder gar verkauft werden, obwohl die Regierung dies den BesitzerInnen vertraglich verboten hatte. Andere leer stehende Häuser wurden gar besetzt.

Die Bauweise der Häuschen gibt ebenfalls Anlass zu Klagen der Überschwemmungsopfer. Bei starken Regenfällen fliesst Wasser durchmischt mit Schlamm direkt in die Häuser hinein, weil sowohl Türe und wie auch das daran angrenzende Fensterglas fehlen. Das führt zur absurden Situation, dass die Überschwemmungsopfer am neuen, »sicheren« Ort nächtelang das Wasser aus ihren Wohnungen schöpfen müssen. Aber ein »Piso firme«, also einen Zementboden haben sie ja nun, somit ist ein wichtiger Indikator für die Armutsstatistiker korrigiert.

Eine Frau mit vier Kindern zeigt uns ihr Haus, in dessen Hinterhof eine Tonne mit Plastikdach steht — eine improvisierte Feuerstelle, weil die Holzfeuerküche im Zweizimmerhäuschen unerträglich viel Rauch verbreitet. Ihr Mann fand einen Job als Gemeindepolizist, er verdient 3400 Pesos im Monat (300 Sfr.). Damit kann die sechsköpfige Familie in der urbanen Umgebung nicht überleben. Sie ist heute ärmer dran als früher. Allgemein beklagen die Dorfbewohner die schlechte Lage auf dem lokalen Arbeitsmarkt. Viele Arbeiten sind temporär beschränkt für den Aufbau der Infrastruktur. Der auf Werbeflächen überall präsente Slogan »Vivir mejor« der Regierung haben sie für ihre Situation umgemünzt: »Vivir peor«, schlechter Leben.

»Hier versucht der paternalistische, korrupte Staat, im alten Stil die Menschen aus der Armut zu befreien, und schafft damit nur neue, sogar schlimmere Abhängigkeiten« So zieht Isaín Mandujano Bilanz. Er ist Mitarbeiter der bekannten Zeitschrift »Proceso« und hat uns beim Besuch begleitet. Typisch sei, so der Journalist, wie sich auch an diesem Vorzeigeprojekt der Regierung, einige schamlos bereichern. Aber ebenso schockierend ist die Kontrolle, welche die Regierung über die zu entwickelnde Bevölkerung ausübt: Noch gibt es keine Dorfregierung, die Beamten aus der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez haben das Sagen. So muss die Restaurantbesitzerin eine Umsatzliste führen und diese regelmässig den Beamtinnen von Sedesol vorlegen. Und die Frauen der Schneiderei wurden, als sie intern Streit bekamen, von der Funktionärin kurzerhand mit dem zwischenzeitlichen Entzug der Nähmaschinen diszipliniert.

Ursprünglich waren 29 »Landstädte« geplant, aktuell ist noch von deren neun die Rede. Die Grundsteinlegung einer zweiten Landstadt wurde eben inszeniert, wo der chiapanekische Finanzminister Carlos Jair Jiménez betonte: »Die neue nachhaltige Stadt Santiago el Pinar wird es uns ermöglichen, innerhalb eines Jahres Verbesserungen zu erreichen, die sonst Jahrzehnte gedauert hätten« Auch werde, so der ganzseitige Werbeartikel in La Jornada, »die Bevölkerung mit der Anbindung ans Handynetz in die Modernität integriert«

Unverändert bleibt die Absicht, auf welche die Soziologen Mariela Zunino und Miguel Pickard von der chiapanekischen NGO Ciepac aufmerksam machen. Die kleinbäuerliche, meist indigene Bevölkerung von Chiapas lebt in ressourcenreichen Gebieten, die ins Visier transnationaler Unternehmen der Agroindustrie, von Bergwerksunternehmen und Tourismus geraten sind. Die indigene Bevölkerung steht ihnen im Weg und muss zwangsumgesiedelt werden, wo sie konzentriert und kontrolliert als billige Arbeitskräfte für die genannten Grossprojekte zur Verfügung stehen.

Vorbild aller Entwicklung?

Auffallend ist die massive internationale Unterstützung der modellhaften Entwicklung. Zuerst machte der Repräsentant des UNDP in Mexiko, Magdy Martinez Soliman, seine Aufwartung in der »Landstadt«, wo er im Juli 2009 erklärte, hier würden die Milleniumsziele der UNO im Kampf gegen die Armut beispielhaft umgesetzt. Die Milleniumsziele wurden gar von der Administration Sabines in die lokale Verfassung integriert, sehr zur Freude der UNO. Zur offiziellen Einweihung kam im September Mexikos Präsident Felipe Calderón, im Oktober wurden VertreterInnen von über 60 Botschaften in die neue Stadt gebracht. Und im November pries Gouverneur Sabines an der Harvard Universität die Vorzüge des neuen Entwicklungsmodells: Versprengt liegende Dörfer sollen zu grösseren Einheiten zusammengefasst werden. So können die EinwohnerInnen leichter Zugang zu Elektrizität, Trinkwasser, Gesundheitsdienst, Schulen, Arbeitsplätzen erhalten und damit in die Marktwirtschaft integriert werden.

Die Weltbank, die das Konzept der »Landstadt« ursprünglich angestossen hat, spricht von einer im Weltentwicklungsbericht 2009 von einer »Neuen Wirtschaftsgeografie« für die Entwicklung«Die massgebende Herausforderung ist, die adäquate Bevölkerungsdichte zu erreichen, damit man die Marktwirtschaft so lenken kann, dass zur Bevölkerungskonzentration ermutigt wird und der Lebensstandard und Lebensstil im Dorf, in der Stadt und in der Grosstadt übereinstimmend gefördert werden können« Das von der Weltbank entworfene Wirtschaftsmodell macht eine »territoriale Neuordnung« notwendig. Im Klartext heisst das: Die indigene Bevölkerung entwurzeln, sie ihrer Ernährungssouveränität, ihres Territoriums, ihrer Kultur und damit auch ihrer Widerstandskraft berauben.

Hinter dem altruistischen Ziel der Armutsbekämpfung stecken demnach handfeste Interessen. Das zeigt auch das Vorhaben der Regierung, die Leute der »Landstädte«, welche noch eigenes Land besitzen, mit — rechtlich ungültigen — Verträgen zu verpflichten, es der so genannten »produktiven Umwandlung« zur Verfügung zu stellen: Nicht mehr Mais für den Eigenkonsum sollen in kleinbäuerlicher Eigenproduktion angebaut werden, denn der subventionierte Gentechmais aus den USA überschwemmt zu Billigpreisen den mexikanischen Markt. Vielmehr müssen sie das Land für Agrarprodukte »mit hohem kommerziellem Wert« zur Verfügung stellen, wie die Ölpalme oder Zitrusfrüchte. Von dieser »Entwicklung« werden letztlich nicht die zwangsproletarisierten Bauernfamilien, sondern die Grossbetriebe und multinationale Unternehmen profitieren. Nicht zuletzt deshalb sind prominente Sponsoren von Nuevo Juan del Grijalva IBM, Bancomer oder der Tortilla-Monopolist Maseca. Die genauen Zahlen werden geheim gehalten, aber rund 60 Prozent der Kosten für den Bau der ersten Landstadt sollen von der Privatwirtschaft bezahlt worden sein, die ihre wohltätigen »Spenden« von den Steuern abziehen kann.

Diese Sabinschen Dörfer, mit welchen Gouverneur Sabines als Bezwinger der Armut in die Geschichte der Menschheit einzugehen träumt, entstehen nicht unabhängig vom konfliktiven sozialen Kontext in Chiapas. Sie sind Teil des »Projekts Mesoamerika«, wie der Plan Puebla-Panamá umgetauft wurde. Doch Grossprojekte scheinen auf grossen Widerstand der lokalen Bevölkerung zu stossen. So musste der Bau der privaten Autobahn San Cristóbal − Palenque schon auf den ersten Kilometern gestoppt werden. Und der kanadischen Minenfirma Blackfire wurde die Lizenz zumindest vorübergehend entzogen, nachdem Auftragsmörder den Anführer des lokalen Protests im November ermordeten. Deshalb, so die Einschätzung von Ciepac, werden die Modellstädte nun verstärkt vorangetrieben. Erst sollen die Leute umgesiedelt werden, nachher ist Platz für die Grossprojekte.



Der Zufall wollte es, dass 2007, wenige Tage nach der Katastrophe von San Juan del Grijalva, die Autorin Naomi Klein in Chiapas an einem Kolloquium über antisystemische Bewegungen zusammen mit Subcomandante Marcos über ihr eben erschienenes Buch »Schock-Strategie« diskutierte. Ihre Kernthesen über den Katastrophen-Kapitalismus und dessen zynisches Ausnützen von Schockzuständen für die Implementierung von Strukturanpassungsmassnahmen zwecks Zurichtung »rückständiger«, sprich nicht marktförmiger Lebensweisen wurden in der »nachhaltigen Landstadt« Nuevo Juan del Grijalva bestätigt. Aber ob das Wörtchen »nachhaltig« im Projektnamen auch für den Erfolg des Modells gilt, darf bezweifelt werden.

Kasten 1. Zweite Modellstadt begünstigt Paramilitärs

Im kleinen, verarmten Bezirk Santiago El Pinar mitten in den Altos von Chiapas entsteht momentan das zweite Modell dieser Entwicklung zur Überwindung der Disparität der Bevölkerung: Alle 11 indigenen Dörfer des Bezirks mit 2’500 EinwohnerInnen werden in einer Landstadt mit drei Quartieren konzentriert. Gemäss Hermann Bellinghausen von der Zeitung La Jornada wird eine Gruppe von lokalen Paramilitärs davon profitieren, denn Teil des Fortschritts ist die Installation von Kommunikationsantennen für Polizei und Militär, was die lokalen paramilitärischen Strukturen stärkt. Santiago El Pinar grenzt an die zapatistischen autonomen Bezirke San Juan de la Libertad und San Andrés Sakamch’en de los Pobres. Kritische Stimmen wie Japhy Wilson von der Universität Manchester sehen diese Landstädte als Reaktion auf die zapatistische Autonomie: »Sie (die Landstädte) repräsentieren eine staatliche Antwort auf die Bedrohung, welche durch das Funktionieren der zapatistischen Caracoles ausgeht«.

Kasten 2. Zum Scheitern verurteilt?

Ist denn die »Landstadt« nicht schon ein im ersten Anlauf kläglich gescheitertes Modell? Muss man diesen umfassenden technokratischen Angriff auf Territorium, Ernährungssouveränität kleinbäuerliche Selbstbestimmung gar nicht ernst nehmen? Beinahe wäre man versucht, das mit Ja zu beantworten. Aber im Kontext der gezielten Repression, wie im Fall der Ermordung des Anführers des Widerstands gegen eine Mine in Chicomuselo, ist dies nicht so sicher. Das systematische Kaufen der Anführer von sozialen Organisationen (»Gubernabilitäts-Abkommen« heisst diese Liste der monatlichen Zahlungen der Regierung Sabines) einerseits und Repression gegen die nicht korrumpierbaren Teile der sozialen Bewegung andererseits erschwert einen Widerstand, auch gegen solche Umsiedlungen.

Dass Chiapas so nicht aus der Armut geführt werden kann, ist hingegen schon rein quantitativ augenfällig. Denn der Bundesstaat, annähernd doppelt so gross wie die Schweiz, umfasst gemäss letzter Zählung 19’386 Ortschaften, drei Viertel mit weniger als 100 EinwohnerInnen. Mal angenommen, das Modell würde wirklich flächendeckend und im bisherigen Tempo umgesetzt, dass heisst jährlich würden 11 Gemeinden umgesiedelt, dann würde dieser Prozess noch eineinhalb Jahrtausende dauern.

Ein Artikel für den Correos vom April 2010. Eine leicht kürzere Version dieses Artikels erschien erstmals in der ila vom März 2010. Siehe auch WoZ vom Februar (Artikel in Zusammenarbeit mit Roman Berger). Mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Quelle:
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