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Bodenständige Realisten
Helge Buttkereits neues Buch über die Linke Lateinamerikas
junge welt vom 03.05.2010 |
Thomas Wagner |
Linke streiten sich viel. Das ist gut, wenn Positionen deutlicher umrissen, Argumente geschärft und neue Handlungsoptionen sichtbar werden. Unproduktiv wird der Streit, wenn sich die Beteiligten auf Kosten anderer profilieren, der Rechthaberei frönen und das Gedeihen der eigenen Splittergruppe höher schätzen als den Erfolg der Sache. Ein Streitthema dieser Art ist seit einiger Zeit die Frage, wie das emanzipatorische Potential der linken Bewegungen und Regierungen in Lateinamerika eingeschätzt werden muß. Antiautoritär gesinnte Linke in Deutschland sehen in der Bewegung der Zapatistas im mexikanischen Chiapas ihr Modell für einen Sozialismus, der ohne die Eroberung der Staatsmacht auszukommen glaubt. Wer mit straff organisierten Parteien und linken Regierungen weniger Probleme hat, hält das für unrealistisch und sympathisiert eher mit der kubanischen Revolution, die sich auch nach dem Ende der Sowjetunion dem aggressiven US-Imperialismus widersetzt.
Glaubensrichtungen
Während die einen ihre Hoffnung auf die indianisch geprägte Bewegung für den Sozialismus in Bolivien setzen, geben sich andere als Anhänger des bolivarianischen Wegs in Venezuela zu erkennen oder beobachten die Reformprozesse in Ecuador mit Wohlwollen. Was denen einen ihr Fidel, ist den anderen ihr Subcomandante Marcos. Doch wenn die hiesigen Streithähne sich darüber zerfetzen, ob Hugo Chávez’ Versuch einer Revolution von oben schon aus prinzipiellen Gründern zum Scheitern verurteilt sei oder die von Evo Morales angeführte breite Volksbewegung sich dem skrupellosen Vorgehen der Oligarchen schutzlos ausliefere und auf das Schicksal der Regierung Salvador Allendes in Chile am 11. September 1973 zusteuere, dann hat das mehr mit Querelen linker Glaubensrichtungen zu tun als mit den Bedingungen, unter denen die Menschen im Vorhof der USA für Freiheit und Gleichheit kämpfen.
Womöglich ließe sich nachweisen, daß die tatsächlich sehr unterschiedlichen Formen des Kampfes in Mexiko, Venezuela, Bolivien und Ecuador weniger mit unvereinbaren ideologischen Konzepten zu tun haben als mit jeweils sehr verschiedenen Bedingungen. Der Journalist Helge Buttkereit, Autor des Buches »Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika« ist offensichtlich dieser Auffassung. Für ihn vereint die angeblichen Antipoden Chávez und Subcomandante Marcos weitaus mehr, als sie trennt. Beide hält er für bodenständige Realisten, die genau wissen, was sie unter gegebenen Bedingungen zu tun haben, um eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse voranzutreiben.
Spielräume
Buttkereit schlägt vor, von ihnen und von den sie tragenden Aktivisten an der Basis zu lernen, wie eine revolutionäre Politik so auf konkret vorgefundene Bedingungen bezogen werden kann, daß das momentan Mögliche erreicht wird. »Wie dies jeweils aussieht, ist je nach Land verschieden und richtet sich nach den nationalen, regionalen und lokalen Begebenheiten.« Mit dem, was unter dem Stichwort »radikale Realpolitik« derzeit in der Linkspartei diskutiert und vor allem praktiziert wird, hat die von Buttkereit so bezeichnete »Utopische Realpolitik« allerdings nichts zu tun. Die Linke versucht erst gar nicht, den Rahmen der herrschenden Verhältnisse zu überschreiten. Die Lateinamerikaner zielen nach Meinung des Autors dagegen permanent »über das im konkreten Moment Machbare hinaus.« Realpolitik heiße nicht zwangsläufig, sich dem Mainstream anzuschließen, sondern bedeute, das zu machen, was in der jeweiligen Situation unter Maßgabe utopischer Visionen machbar und sinnvoll ist: zum Beispiel die Spielräume und Kampfbedingungen für oppositionelle Kräfte zu erweitern.
Das Buch ist gut geschrieben und daher für die politische Bildungsarbeit bestens geeignet. Sein Autor läßt keinen Zweifel daran, daß er sich einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts wünscht, der von unten her entwickelt wird. Doch ist er sich zugleich im klaren darüber, daß solche Versuche ohne staatliche Unterstützung innen- wie außenpolitisch chancenlos sind. Aber: »Das entscheidend Neue an der Neuen Linken ist, daß sie auf der Unterstützung der Basis beruht. Einer selbstorganisierten und selbsttätigen Basis, die ihr Schicksal nicht mehr passiv hinnehmen will. Diese Basis bildet sich aus Menschen, die über Jahrzehnte unterdrückt wurden und keine wirkliche Stimme hatten — dies gilt insbesondere für die Indigenen — oder die durch paternalistische Gesten von oben und Klientelismus eingelullt worden sind. Deswegen ist es entscheidend, die Bewegung von unten her zu sehen, wie weit sie organisiert ist und wo ihre Grenzen liegen. Denn auf die Menschen und auf ihre Organisation kommt es an. Darauf, daß sie erkennen, daß sie etwas erreichen können und sich die Welt nur dann so weiter dreht wie bisher, wenn sie mitmachen. Wenn sie sich verweigern und versuchen, etwas Neues zu schaffen, kann ein Prozeß der Veränderung in Gang kommen und nachhaltig sein. Sonst nicht.«
Quelle: | |||
http://www.jungewelt.de/2010/05-03/013.php | |||
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