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Interview mit Yesica Sanchez zur aktuellen Lage in Oaxaca

Öku-Büro München vom 22.06.2010

  Das nachstehende Interview ist in dem frisch erschienenen INFOBLATT Nr. 76 des Ökumenischen Büros München erschienen
(http://www.oeku-buero.de/index.php/info-blatt-76.html)

Auf der Website vom Ök-Büro ist Interview (Dort mit Fotos) unter
http://www.oeku-buero.de/info-blatt-76/articles/oaxaca-durchlebt-eine-schwere-krise-des-rechtsstaates.html
abgelegt

Oaxaca durchlebt eine schwere Krise des Rechtsstaates

Die feministische Anwältin Yesica Sanchez im Gespräch über die aktuelle politische Situation in Oaxaca, den Feminizid und die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs

Kannst Du etwas über die aktuelle Situation in Oaxaca sagen?

INFOBLATT Nr. 76Das Jahr 2010 hat mit enormen sozialen Spannungen begonnen, da Gouverneurs-, Landesparlaments- und Bürgermeisterwahlen stattfinden werden. Es wird also von Seiten der politischen Parteien, von Seiten der Basisorganisationen und von Seiten der Gemeinden mobilisiert, um bei der Zusammensetzung dieser staatlichen Autoritäten mitzubestimmen. Andererseits gibt es seit 20061 Straflosigkeit und auch davor gab es schon willkürliche Festnahmen und Folter, die nie verfolgt wurden. Zwei Organisationen haben jetzt Klagen eingereicht und fordern Wiedergutmachung wegen der Vorfälle von 2006. Aber diese Klagen hängen gerade fest, da die politische Führung die Verfahren gegen öffentliche Angestellte, so weit es geht, verzögert. Der Staatsapparat wird weder die Klagen noch die Schadensersatzforderungen durchgehen lassen. Es gibt auch eine extreme institutionelle Gewalt gegen Frauen. Täglich werden Frauen ermordet und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Es gibt keine entsprechende Gesetzgebung zum Schutz von Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Am 28. Februar 2009 ist zwar in Oaxaca ein Gesetz für das Recht der Frauen auf ein gewaltfreies Leben2 verabschiedet worden. Aber die entsprechende Ausführungsbestimmung ist noch nicht beschlossen. Und ohne sie funktioniert ein Gesetz nicht. In Oaxaca ist nach der Krise 2006 ein Transparenzgesetz3 beschlossen worden. Aber wenn du jetzt von den entsprechenden Instanzen Zugang zu Informationen willst und dich dabei auf dieses Gesetz beziehst, geben sie dir keine Auskunft. Es gibt viele Widersprüchlichkeiten. Die PRI4 hat vor kurzem die Abgeordnetenwahlen gewonnen und es gibt Korruption und "Funktionärsrecyclings", bei dem ehemalige Staatsangestellte wieder in "unabhängigen" Institutionen eingesetzt werden. Zum Beispiel ist der Mann, der zwei Wahlperioden lang der Generalsekretär der Regierung war, jetzt der Präsident des Obersten Gerichtshofes. Und der Präsident der Abgeordnetenkammer 2006 arbeitet heute bei COPLADE5, der Institution, die für die Verteilung der Ressourcen an die Gemeinden zuständig ist. Und der heutige Präsident der staatlichen Menschenrechtskommission — bei der man davon ausgehen können sollte, dass sie ein autonomer und unabhängiger Apparat ist — hat früher bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet — einem Regierungsorgan. Deswegen stecken wir definitiv fest. Es ist die gleiche politische Klasse wie 2006, die dem Gouverneur den Rücken deckt.

Wir befinden uns in einer Situation, wo rechtliche Mittel nicht greifen, es herrscht Repression und Menschenrechtsverteidiger_innen werden verfolgt. Den einzigen aktuellen Lagebericht hat Peace Watch6 herausgebracht, in dem sie die Verfolgung und Schikanierung von Menschenrechtsverteidiger_innen darlegen. Vor kurzem hat auch der Nationale Oberste Gerichtshof in einem Urteil die Regierung von Ulises Ruiz7 für die Verletzung von Verfassungsgarantien verantwortlich gemacht. Allerdings wird in diesem Urteil die Verantwortung der nationalen Regierung heruntergespielt. Das finden wir dramatisch, weil sie der nationalen Regierung nicht die ganze Verantwortung geben. Aber der entsprechende Mechanismus wäre ein politischer Prozess. Und in der Abgeordnetenkammer hat die PRI die Mehrheit und deswegen wird es keinen politischen Prozess gegen Ulises Ruiz geben. Es gibt also Auseinandersetzungen und Widersprüche, einerseits ein Urteil des Nationalen Obersten Gerichtshofes und andererseits ist die Instanz, die für die Durchführung zuständig wäre, politisiert und deswegen wird das ganze Thema Ulises Ruiz straflos bleiben. Für die sozialen Bewegungen bedeutet das, dass sie verstärkt herausgefordert sind, sich an internationale Instanzen zu wenden.

Die feministische Anwältin Yesica Sanchez
Die feministische Anwältin Yesica Sanchez

Wie hängt diese Situation der Straflosigkeit und der Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger_innen mit dem Feminizid zusammen?

Oaxaca durchlebt eine schwere Krise des Rechtsstaates. Wir glauben, dass Oaxaca eine tief gehende Veränderung braucht. Es geht nicht nur darum, einen Gouverneur auszutauschen, es geht auch darum, die Verfassung zu verändern und einen neuen sozialen Pakt zu schaffen. Aber bei der derzeitigen Zermürbung wird die Gewalt gegen Frauen immer stärker sichtbar. Seit 2004 werden die Morde an Frauen in Oaxaca dokumentiert. Im selben Jahr wurde dem Abgeordnetenhaus Mexikos ein erster Bericht übergeben, der von dem feministischen Colectivo Huaxyacac erstellt wurde. Meine Organisation, Consorcio, ist auch Teil dieses Kollektivs. Marcela Lagarde, die zu diesem Zeitpunkt verantwortlich war für die "Kommission für die Untersuchung des Feminizids in der mexikanischen Republik und die diesbezügliche Rechtsprechung", leitete damals eine Untersuchung auf nationaler Ebene. In dieser Untersuchung lag Oaxaca an erster Stelle bei der Ermordung von Frauen. Natürlich abgesehen von Ciudad Juárez8. Juárez ist eine Ausnahmeerscheinung und die Dramatik der Situation dort ist nicht vergleichbar. In dieser Studie von acht Staaten wurde die Situation in Oaxaca als besonders ernst festgestellt. Als Marcela Lagarde den Bericht übergab, betonte sie, dass in Oaxaca definitiv von Feminizid gesprochen werden muss. Wir haben damals von Morden gesprochen. Aber die Abgeordnete Marcela Lagarde hat damals eine tiefer gehende Analyse gemacht und sie war es auch, die feststellte, dass Oaxaca ein Staat sei, in dem Feminizid stattfindet. [...] Wir begreifen Feminizid als die Gesamtheit von frauenfeindlichen Umständen und Vorfällen. Das schließt Menschenrechtsverletzungen mit ein und alles, was Frauen in ihrer Sicherheit beeinträchtigt und ihr Leben gefährdet und im Tod einiger von ihnen gipfelt. Aber es gibt auch unendlich viele Überlebende. Feminizid geschieht, weil die zuständigen Autoritäten nachlässig und fahrlässig sind oder mit den Gewalttätern unter einer Decke stecken. Es wird auch institutionelle Gewalt ausgeübt, wenn der Zugang zur Justiz behindert und somit zur Straflosigkeit beigetragen wird. Feminizid bringt einen Bruch des Rechtsstaates mit sich, da der Staat nicht fähig ist, den Frauen ihre Sicherheit und ihr Recht auf Leben zu gewährleisten. Er versagt darin, im Rahmen des Gesetzes zu handeln und es durchzusetzen, Gerechtigkeit zu suchen und der Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und diese Gewalt zu beenden. Feminizid ist also ein staatliches Verbrechen. Nach dieser Definition sprach Marcela Lagarde von Feminizid in Oaxaca.

Wir haben kürzlich einen Bericht präsentiert (Feminizid, Straflosigkeit und staatliches Verbrechen gegen Frauen), der versucht, aktuelle Zahlen zusammenzustellen und so klar zu machen, in welcher Schuld die mexikanische Regierung — und vor allem auch die Regierung von Oaxaca — bei den Frauen steht. Uns erscheint es tragisch, dass die neu errichteten Instanzen wie die durch ein neues Gesetz geschaffene Beratungsstelle für Opfer von familiärer Gewalt nicht funktionieren. Letztlich ist es so, dass in den Gesetzen viele Institutionen vorgesehen sind und es faktisch aber kaum welche gibt. Wir haben in Oaxaca auch eine Staatsanwaltschaft, die auf Verbrechen an Frauen spezialisiert ist. Aber wenn du deren Räume betrittst, kriegst du Mitleid. Die haben ein kleines Häuschen, ohne Internet, die Angestellten arbeiten im Stehen und haben zu wenig Computer. [...] Und in der medizinischen Beratung haben sie nicht einmal die "Pille danach". Die Situation ist katastrophal. Aber verschiedene Anlaufstellen schicken Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, dorthin, obwohl es überhaupt keine ausreichende Ausstattung gibt. Diese Sonderstaatsanwaltschaft scheint also lediglich den Zweck zu erfüllen, dass der Staat ein wenig sein Gewissen entlastet. Diese Institution hatte zwei Jahre lang eine Leiterin, die nicht einmal das Konzept der geschlechterspezifischen Gewalt kannte, und letztes Jahr ist zwar eine neue Leitung gekommen, die sehr kompetent ist, aber ihr fehlt die ökonomische und personelle Ausstattung, um das Thema der Gewalt an Frauen tatsächlich anzugehen. [...]

Die Regierung vernachlässigt das Thema leider ziemlich [...]. Es gibt weder ausreichende Gesetze noch Politikansätze noch Personal, um die Gewalt an Frauen zu beenden. Wir haben auch keine Mechanismen, um Frauen zu schützen, die Opfer von familiärer Gewalt geworden sind. Es ist z. B. sehr ermüdend, wenn eine Frau eine diesbezügliche Anzeige aufgeben möchte. Die Beamten, die Fälle von sexualisierter Gewalt aufzeichnen, sind überhaupt nicht dafür sensibilisiert. Das erste, was sie tun, ist dem Opfer die Schuld zu geben. Und wenn Frauen ermordet werden, dann werden die Ermittlungen verzögert und es wird davon ausgegangen, dass es eben ein weiteres "normales" Verbrechen ist. Im Jahr 2009 sind die Morde brutaler geworden. [...] Die Presse berichtet dann mit schockierenden Bildern und der Staat tut nichts. Wir hatten ein Treffen mit dem Generalstaatsanwalt, um die Aufklärung dieser Fälle zu fordern. Wir bekommen dann zwar immer Zusagen, aber letztlich keine Resultate. Im Jahr 2009 haben wir diesen Bericht (s. o.) herausgebracht und die Zahlen, die in diesem Bericht auftauchen, haben wir aus der Presse. Die offiziellen Institutionen geben keine Zahlen frei. Es sind NGOs, die Zahlen zusammentragen, indem sie die Medien auswerten. Vom vorletzten zum letzten Jahr ist die Zahl der ermordeten Frauen stark angestiegen. Während es 2008 bis zum Jahresende 46 ermordete Frauen gab, waren es im Jahr 2009 58. Es gab also einen Anstieg um 30 Prozent und die Regierung äußert sich gar nicht dazu. [...] Unsere Zahlen kommen aus der Presse, wo noch nicht einmal alle Fälle auftauchen. [...] Der Generalstaatsanwalt hat seine offiziellen Zahlen, die vermutlich höher liegen, bis jetzt noch nicht veröffentlicht. Wir haben ihm auch unseren Bericht überreicht, weil wir auf eine Reaktion von ihm hofften. Die kam aber bis heute nicht. [...] Die Unfähigkeit des Generalstaatsanwaltes bezüglich dieses Themas ist dramatisch. Er unterstellt uns sogar, verrückt zu sein und das Scheinwerferlicht zu suchen, wenn wir Aufklärung und Prävention fordern. Unsere Forderungen werden häufig überhaupt nicht als legitim anerkannt. [...]

Ihr habt diese Kampagne: Frauen und Männer arbeiten gemeinsam für eine soziale Bewegung, die frei ist von Machismus. Kannst Du berichten, wie diese Kampagne entstanden ist und was die Hintergründe sind?

Der Ereignisse 2006 haben uns Frauen — aber auch die Männer — einiges gelehrt. So begannen wir, den Blick auch auf Gewaltsituationen innerhalb der sozialen Bewegungen zu lenken. Wir haben begonnen, dies zu thematisieren und Fälle zu dokumentieren. [...] Die Kampagne hat zum Ziel, Diskussionen innerhalb der sozialen Bewegungen anzustoßen. Immer mit der Perspektive, das Recht auf ein gewaltfreies Leben zu haben. Aber wir appellieren auch daran, dass Forderungen und Alltagsverhalten innerhalb der Bewegung übereinstimmen müssen. Das heißt, wenn wir den autoritären Staat und die Straflosigkeit kritisieren, dann sollten wir auch härter in unseren Forderungen nach dem Recht für Frauen auf ein gewaltfreies Leben sein. Und wir sollten die gewalttätigen und machistischen Praxen bekämpfen, die es innerhalb der Bewegung gibt. [...] Die Kampagne ist nicht abgeschlossen, es ist eine langfristige Arbeit, die nur sehr langsam Früchte trägt. [...] Es geht uns aber nicht darum, die Situation zuzuspitzen, sondern konstruktiv über Reflexion und Vereinbarungen zum Ziel zu kommen. [...] Ist die familiäre Gewalt auch in das Konzept des Feminizids eingeschlossen? In das Konzept sind eine ganze Serie von Faktoren eingeschlossen, die das Recht auf Gewaltfreiheit beeinträchtigen. Wenn du ermordet oder geschlagen werden kannst, ohne dass es ein legales Instrument gibt, das dich schützt, ist das ein weiterer Schritt, der zu diesem Bruch des Rechtsstaates beiträgt. [...] Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, dass die Gewalt gegen Frauen abnimmt und dass sie nicht straflos bleibt. [...] Das ganze System muss verändert werden. Beamt_innen und Richter_innen müssen sensibilisiert werden, es muss Programme geben, die Opfern von Gewalt beistehen, es muss die entsprechenden Gesetze, Institutionen und die Finanzierung dafür geben. [...] Es geschieht zu häufig, dass Richter_innen von den Frauen Beweise verlangen, dass sie geschlagen worden sind, oder dass Frauen sich nicht scheiden lassen dürfen, weil sie das Verschulden nicht beweisen können. Es muss die Aussage der Frau ausreichen. Familiäre Gewalt ist kein schlimmes Vergehen in Oaxaca. Deswegen haben Frauen keine Rechtssicherheit. Der Ehemann kann eine Kaution bezahlen, zurückkommen, sie verprügeln oder sogar umbringen. Wir sagen: In Oaxaca ist es sehr gefährlich, Frau zu sein. Denn überall können sie dir etwas antun. Und selbst wenn du eine Anzeige aufgeben willst, kann es dir passieren, dass es letztlich du bist, die verhört wird.

Wenn Du gerade von den Gefahren für Frauen sprichst: Was ist denn die rechtliche Situation für Schwangerschaftsabbrüche? Ich weiß nur, dass es in der Hauptstadt Mexiko DF straffrei geworden ist, aber wie sieht es in den anderen Bundesstaaten aus?

Die Einschränkung des Rechts auf Entscheidungsfreiheit über den eigenen Körper gehört für uns auch zu den Phänomenen, die den Feminizid ausmachen. Am 9. September 2009 ist im Parlament von Oaxaca ein Gesetzesvorschlag eingereicht worden, der vorgab, das Leben "ab dem Moment der Empfängnis" zu schützen. Der entscheidende Punkt daran war, dass Oaxaca der 16. Staat war, in dem so ein Vorschlag eingereicht wurde. Vor zwei Jahren ist im DF die Entscheidung getroffen worden, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei bleiben sollen. Da gab es dann zwar eine starke Kontroverse [...], aber letztlich überwogen die Befürworter_innen des Rechts auf Selbstbestimmung. Aber was tut die Rechte? Die hat sich eine Strategie ausgedacht, die dazu führte, dass in allen Bundesstaaten solche Gesetzesinitiativen eingereicht wurden. Die Partei, die damit begonnen hat, war die PAN9. Aber die hat dann offensichtlich mit der PRI etwas ausgehandelt, so dass die auch begannen, für diese Gesetzesinitiativen zu stimmen. Und so begann eine Welle der Reformen in einem Bundesstaat nach dem anderen. Das Schlimmste daran ist, dass sie sogar das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Fällen von Vergewaltigung, Missbildung des Fötus oder Lebensgefahr für die Mutter abgeschafft haben. Daraus ergibt sich die Logik, dass eine Frau, die nach einer Vergewaltigung abtreibt, eine Kriminelle ist und ins Gefängnis gehört. Und am 9. September war Oaxaca eben der 16. Staat, in dem das dortige Parlament für diese Reform stimmt. Wenn die Hälfte aller Bundesstaaten für eine Reform gestimmt hat10, wird auch die Bundesverfassung diesbezüglich reformiert. Sie versuchen also, auf diesem Weg die Entwicklung für eine freie Entscheidung, die im DF stattgefunden hat, rückgängig zu machen. [...]

Diese Reform ist natürlich sehr kritisiert worden. Wir in Oaxaca haben eine Demonstration im Parlament gemacht. Und auf Anordnung der Abgeordneten von PRI und PAN wurden wir dann von den Wächtern rausgeprügelt, weil wir eine Debatte mit den Abgeordneten führen wollten. Wir haben auch noch weitere Anläufe gestartet, um eine öffentliche Debatte anzuregen, aber die Absprachen zwischen PRI und PAN waren leider zu weit fortgeschritten. Eine der letzten Möglichkeiten wäre gewesen, die Gesetzesinitiative für verfassungswidrig zu erklären. Aber da hätte die Initiative vom Präsidenten der staatlichen Menschenrechtskommission ausgehen müssen, und der ist ja nicht unabhängig, sondern wurde vom Gouverneur eingesetzt. Der sagte also nur, dass die Reform keineswegs die Rechte von Frauen einschränken würde und dass wir da etwas falsch verstehen würden, uns nur in den Mittelpunkt rücken wollten, und so weiter. Wir haben dann eine Demonstration organisiert, haben die staatliche Menschenrechtskommission geschlossen und trugen das Foto einer Frau bei uns, die nach einer schlecht durchgeführten Abtreibung gestorben war. Unsere Botschaft an den Präsidenten der Kommission war, dass er von nun an verantwortlich sein würde für solche heimlich durchgeführten, gefährlichen Abtreibungen. Außerdem legten wir Verfassungsbeschwerden ein. Das war meine Aufgabe — als juristische Beauftragte von Consorcio — in Kooperation mit RADAR 4, einem Anwälte-Netzwerk auf nationaler Ebene. In Oaxaca haben wir über 140 Verfassungsbeschwerden gegen diese Reform eingelegt. Im Moment warten wir auf den Richterspruch. Warten wir also ab, was die Bundesrichter, die vom Obersten Gerichtshof abhängig sind, entscheiden werden über die Verfassungsmäßigkeit dieser Reform. Für uns ist sie völlig verfassungswidrig. Aber wenn die Rechte ihr Ziel erreicht, den 4. Artikel der Verfassung zu modifizieren — das ist der, in dem es um die Familie und das Recht auf Entscheidungsfreiheit geht, ob und wie viele Kinder jemand haben möchte — dann bedeutet das einen tatsächlichen Rückschritt. In Mexiko ist die Situation nicht einfach. Wir sind auch der Ansicht, dass es hier nicht allein um die Rechte der Frauen geht. Das ist eine noch umfassendere Debatte. Die Tatsache, dass eine religiöse Weltauffassung die Parlamente durchdringt und die PRI als Strohmann der Rechten eingesetzt wurde, heißt unserer Ansicht nach, dass der laizistische Staat aufs Spiel gesetzt wird. Das ist unsere große Sorge. [...] Carlos Monsiváis11 hat die sozialen Bewegungen in einem Artikel zum Nachdenken über diese Gefahr aufgerufen, in der sich der laizistische Staat angesichts dieser Reformen befindet. Darauf zielt der Vorstoß der Rechten: Mexiko mit einem militarisierten Staatsapparat, mit einem Kampf gegen den Drogenhandel, der Menschenrechte verletzt, mit einer Offensive gegen die Gewerkschaften, mit Verfolgung und Ermordung von Menschenrechtsaktivist_innen. Ich empfinde es als äußerst besorgniserregend, dass in Chihuahua eine Menschenrechtsverteidigerin mit Schüssen in den Kopf hingerichtet wurde. [...] Interview und Übersetzung: Eva Bahl

Consorcio ist Partnerorganisation des Ökumenischen Büros und wird von uns unterstützt

1 Als der Gouverneur von Oaxaca, Ulises Ruiz, einen Protest der Lehrergewerkschaft SNTE gewaltsam niederschlagen ließ und dabei drei Menschen starben, entwickelte sich ein Aufstand, der durch die Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO) getragen wurde. Ruiz musste aus seinem Amtssitz in der Hauptstadt Oaxaca de Juárez flüchten. Die Aufständischen erklärten, ihre Proteste erst dann zu beenden, wenn Ruiz zurücktrete. Das lehnte Ruiz jedoch kategorisch ab. Der Konflikt ist bis heute nicht beigelegt.

2 Ley Estatal de Acceso a una Vida Libre de Violencia para las Mujeres

3 Ley de Transparenciay Accesoa la Información Públicapara el Estadode Oaxaca

4 Partido Revolucionario Institucional

5 Comité de Planeación para el Desarrollo del Estado Libre y Soberano de Oaxaca.

6 Bericht der Menschenrechtsorganisation Peace Watch Switzerland: En Oaxaca no se respeta el Derecho a Defender los Derechos Humanos.
http://www.peacewatch.ch/download/Chiapas/091014_BOLETIN-DEFENSORES_PWS-web.pdf

7 Ulises Ruiz Ortiz ist der gegenwärtige Gouverneur des mexikanischen Bundesstaates Oaxaca. Die Amtszeit des Politikers der Partido Revolucionario Institucional PRI begann 2004 und soll 2010 enden.

8 In Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA hat man 1993 noch vor anderen Bundesstaaten begonnen, Gewalt gegen Frauen, das Verschwindenlassen von Frauen und Frauenmorde systematisch zu dokumentieren. Grund dafür war die extreme Situation in Ciudad Juárez, einer Grenzstadt mit einem großen Anteil an mexikanischen Arbeitsmigrantinnen.1993 begannen dort Frauen zu verschwinden. Das waren in erster Linie Frauen aus der Arbeiter_innenklasse, junge Frauen, Frauen mit einem niedrigen sozialen Status.

9 Partido Acción Nacional (Aktuelle Regierungspartei — konservativ)

10 Mexiko hat 32 Bundesstaaten.

11 Carlos Monsiváis ist ein mexikanischer Journalist, Kolumnist, Essayist, Kritiker und Historiker. Er ist vorwiegend bei der Zeitung El Universal tätig, schreibt aber auch politische Kolumnen für andere führende Zeitungen. Er gilt als Meinungsführer der fortschrittlich denkenden Intellektuellen Mexikos.

[i] Hinweis: Chiapas98 ist ein ehrenamtliches, nicht-kommerzielles Projekt. Sollten Sie nachweislich die Urheberrechte an einem der von uns verwandten Bilder haben und nicht damit einverstanden sein, dass es hier erscheint, kontaktieren Sie uns bitte, wir entfernen es dann umgehend.

 Quelle:  
  http://www.oeku-buero.de/index.php/info-blatt-76.html 
 

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