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Zapatistas bauen indigene Autonomie aus

Direkte Solidarität Chiapas vom 10.08.2003
Direkte Solidaritiät mit Chiapas

  In Chiapas werden künftig die "Räte der guten Regierung" die autonomen Regionen im Einflussbereich der zapatistischen Aufstandsbewegung EZLN verwalten. Kritische Töne über die "sociedad civil" und die NGO’s sind zu hören, eigene Unzulänglichkeiten werden benannt, neue Strukturen sollen Abhilfe schaffen. Damit stärken die Zapatistas in einem von Politikverdrossenheit geprägten Land ihre Strategie des Widerstandes und erneuern kurz vor dem WTO-Treffen in Cancún die Vernetzung mit mexikanischen Basisbewegungen.

Stell dir vor, es waren Wahlen und keineR ging hin...

Anfang Juli, bei der Erneuerungswahl des mexikanischen Parlamentes, stimmten die MexikanerInnen mit den Füssen ab: Nur vier von zehn Wahlberechtigten gingen an die Urne, in Chiapas betrug die Wahlbeteiligung gar bloss 30 Prozent, der abstencionimso gewann erstmals die absolute Mehrheit. Für an schweizerische Formaldemokratie gewöhnte LeserInnen keine besonders alarmierende Zahlen, doch in Mexiko nimmt der Legitimitätsverlust des Parteiensystems dramatische Ausmasse an: Denn noch vor fünfzehn Jahren gewann die PRI in Chiapas mit dem "voto verde" — dem Stimmenkauf der armen Campesinos durch Unterstützungsgelder −haushoch und bei einer Wahlbeteiligung von offiziell 102 % (sic!). Die Politikverdrossenheit zeigt sich jedoch auch in aktiverer Form als blosser Stimmenthaltung. Eine Million Stimmen wurden aus Protest ungültig abgegeben. Und in den zapatistischen Regionen warnten Schilder mit der Aufschrift: "Auf autonomem Territorium erlauben wir die Wahlen nicht". Beim aktiven Wahlboykott der Zapatistas wurden zahlreiche Urnen entwendet, das Wahlmaterial verbrannt.

Vierzehn Tage nach den Wahlen begannen die Zapatistas eine neue politische Initiative. Im ersten der zehn comunicados greift die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) die politische Klasse an und bezeichnet die Wahlen vom 6. Juli als "eine exzellente Demonstration ihrer grenzenlosen Fähigkeit, sich lächerlich zu machen". Die Zapatistas werden in Zukunft "jeglichen Kontakt mit der Bundesregierung Mexikos und den politischen Parteien unterlassen" und "den Widerstand zur wichtigsten Kampfform küren". Dabei steht die Umsetzung der Abkommen von San Andrés über die indigenen Rechte und Kultur im Vordergrund. Das heisst konkret: indigene Autonomie und Kampf gegen die neoliberalen Strukturanpassungsmassnahmen, insbesondere den "Neustart" des famosen Plan Puebla-Panamá. "Die Zapatistas haben ausreichende Mittel und die nötige Organisation um die Konkretisierung dieses Planes zu verhindern", wird der neue mexikanische Wirtschaftsminister, Luis Ernesto Derbez, gewarnt. Bevor sie in den darauffolgenden comunicados auf interne Neustrukturierungen und innenpolitische Initiativen eingehen, äussern sich die Zapatistas zur internationalen Politik, bezeichnen den Irak-Krieg als Zeichen dafür, dass die "Globalisierung der Macht (...) in ihre agressivste Phase getreten ist" und "die zapatistische Rebellion nur ein kleiner Teil der großen Demonstration der menschlichen Würde ist", die in der weltweiten Anti-Kriegsbewegung ihren Ausdruck fand. Damit und mit ihrer Betonung der Solidarität mit den Kämpfen in Argentinien, Venezuela und dem Baskenland "bekräftigen wir Zapatistas erneut unser Recht, unsere Solidarität mit den gerechten Kämpfen der Menschen von Mexiko und auf der ganzen Welt zum Ausdruck zu bringen. Dies erfolgt als Antwort an jene, die forderten, dass wir uns auf die indigene Frage in Mexiko beschränken sollten."

Indigene Autonomie und der Paternalismus der "Zivilgesellschaft"

"Für uns ist Autonomie keine Fragmentierung des Landes oder Separatismus, sondern die Ausübung des Rechtes uns selbst zu regieren", schreibt Subcomandante Marcos, der temporär zum Sprecher der 30 autonomen Bezirke ernannt wurde. Diese Bezirke setzen sich aus jeweils mehreren Dutzenden Gemeinden zusammen, welche meistens in Zapatistas und regierungsfreundliche DorfbewohnerInnen gespalten sind. In jeder der fünf Regionen mit zapatistischer Präsenz sind so zehntausende Zapatistas als "base de apoyo" organisiert. Diese indigene Autonomie muss nicht nur ohne Zuschüsse seitens des Staates auskommen, sondern ist oft Ziel der Repression und der Aufstandsbekämpfung. Doch offensichtlich gelang es den rebellischen Gemeinden, trotz dem "Krieg niederer Intensität", ihre Organisationsformen zu stärken.

Am 9. August wurden in Oventik in einer "mega-fiesta" mit zwanzigtausen Anwesenden die fünf "Aguascalientes" für "tot" erklärt. Neu sind die "Caracoles" der Sitz der regionalen "Räte der guten Regierung". Die Namensänderung der regionalen Zentren des Aufstandsgebietes hat mehr als symbolischen Charakter: Es soll ein Schlussstrich gezogen werden unter den Paternalimus, mit welchem viele NGO’s und sogenannte "Zivilgesellschaft" — "wir nennen sie Zivilgesellschaft, um sie von der politischen Klasse zu unterscheiden und um sie nicht in sozialen Klassen zu kategorisieren" — ihre philanthropische Hilfe und ihre Projekte einzelnen Gemeinden aufdrängten. So waren die "Aguascalientes" zwar ein Raum, der nötig war, "um von dieser Pluralität, die wir "Zivilgesellschaft" nennen, zu lernen, um zuzuhören und mit ihr zu sprechen." Doch die Erwartung, dass diese sogenannte Zivilgesellschaft — oder, um der Verschiedenheit gerecht zu werden, "sociedades civiles" — in gegenseitigem Respekt auftrete, wurde enttäuscht: "Für uns ist Mitleid eine Kränkung und die Almosen sind ein Schlag ins Gesicht." Marcos bezeichnet den Paternalismus als Aschenputtelsyndrom. Die chiapanekischen Indígenas wurden in den mildtätigen Augen der Zivilgesellschaft zu Cinderellas und überhäuft mit "nutzlosen Computern, Medikamenten mit ausgelaufenem Verfallsdatum, (für uns) extravagante Kleidung, die nicht mal für Theaterspiele ("señas" werden sie hier genannt) benutzt werden konnten, und, ja, Schuhe ohne Gegenstück".

Doch auch eine "komplexere Art von Mildtätigkeit" wird praktiziert: NGO’s implementieren Projekte, ohne die Gemeinden nach ihren Prioritäten zu fragen: "Stellt Euch die Verzweiflung einer Gemeinde vor, die Trinkwasser braucht und der eine Bibliothek aufgedrängt wird." Da dieses Mitleid, welches die Zapatistas schon früh als Respektlosigkeit denunzierten, weiter praktiziert wird und Neid unter Gemeinden und Bezirken sät, müssen nun alle Projekte und alle zapatistischen Kooperativen über die Struktur des regionalen Rates laufen. Es werden keine Spenden an einzelne Gemeinden oder Bezirke mehr toleriert. Nur der regionale "Rat der guten Regierung" entscheidet, wohin die Unterstützung fliesst. Eine Steuer von 10 % namens "impuesto hermano" wird von jeder Projektfinanzierung abgezogen, um damit andere, nicht von dem Projekt begünstigte Gemeinden zu unterstützen. Die internen Ungleichgewichte sollen somit eingedämmt werden. Mit dem "Rat der guten Regierung" wird auch eine Anlaufstelle geschaffen, welche die zapatistischen Personen, Gemeinden und Kooperativen gegenüber BesucherInnen akkreditiert: "Auf diese Weise soll verhindert werden, dass sich Personen als Zapatisten auszugeben, die es nicht sind, oder sogar anti-zapatistisch sind (wie dies bei einigen biologischen Kaffeekooperativen der Fall ist)." Damit sind einige grössere Kooperativen angesprochen, welche sich in der Vergangenheit mit falschen Federn schmückten. Dass Kaffee-Kooperativen, Projektgelder und Spenden so prominent erwähnt werden, ist nicht nur ein Indiz dafür, dass hier offensichtlich grosser Handlungsbedarf bestand, sondern auch, dass die Schaffung einer ökonomischen Basis für die Autonomiebewegung von vitalem Interesse ist. Die Zapatistas sehen die Gefahr der Zersplitterung aufgrund der Mittel und geben nun den Projekte betreuenden oder mit Kooperativen Handel treibenden Solidaritätsgruppen und NGO’s klar den Tarif an: Nehmt nicht ein Dorf oder eine Kooperative unter eure Fittiche, respektiert unsere regionalen autonomen Strukturen.

Indigene Rechtssprechung, zapastistische Schulen, Gesundheitsposten, Radios

Ein anderer Bereich der indigenen Autonomie, der stark betont wird, ist die Rechtssprechung: Die Führer der Paramilitärs werden nun erstmals von den Zapatistas klar verwarnt, sie könnten nicht mehr mit Straffreiheit rechnen. Auch wird darauf hingewiesen, dass Menschenrechts-Verletzungen seitens der Zapatistas in Zukunft bei den "Räten der Guten Regierung" angezeigt werden können. Die lokalen zapatistischen "Friedensrichter" geniessen einen guten Ruf, teilweise gelangen sogar Leute von der Regierungsseite mit Problemen an sie, denn: "Sie kümmern sich um das Problem und lösen es". Die autonomen Räte sollen sich auch um Schulbildung und Gesundheitsfürsorge, um Land-, Wohn- und Ernährungsfragen kümmern. Im Bereich von Kultur und Information werden neuerdings Nachrichten in den indigenen Sprachen durch die zapatistische Radiostation "Radio Insurgente" übertragen. So wurde ausführlich über den Irak-Krieg informiert und "regelmäßig werden, in Abwechslung mit Musik aller Art, Botschaften gesendet, die empfehlen, dass Männer Frauen respektieren, und die Frauen aufrufen, sich zu organisieren und Respekt für ihre Rechte einzufordern". Wobei auch der Macho Subcomandante Marcos betonen muss, dass "die "Revolutionären Frauengesetze" noch einen langen Weg vor sich bis zu ihrer völligen Umsetzung haben". In den ersten Tage Sendebetrieb als internationaler Kurzwellensender wurde das Rebellenradio durch Interferenzen der mexikanischen Regierung massiv gestört.

Die Guerilla und zivile Basisstrukturen

Mehrmals spricht Subcomandante Marcos das Verhältnis von militärischer und ziviler Struktur an, von Guerilla und politischer Autonomie: "Diese Form der Selbstregierung (...) ist nicht eine Erfindung oder ein Beitrag der EZLN. Sie kommt aus viel älteren Zeiten. Mit dem rapiden Wachstum der EZLN breitete sich diese Praxis von der kommunalen auf die regionale Ebene aus "wobei die EZLN sah, dass jene, die ihren Pflichten nicht nachkamen, naturgemäß durch andere ersetzt wurden. Obwohl hierbei, da es sich um eine politisch-militärische Organisation handelt, das Kommando die endgültige Entscheidung traf." Somit hat in den Worten des Sprechers der EZLN "die Militärstruktur der EZLN gewisserweise eine Tradition von Demokratie und Selbstregierung "kontaminiert". Die EZLN war gewissermaßen eines der "undemokratischen" Elemente in einer Beziehung der direkten Gemeindedemokratie." Als dann die autonomen Bezirke ihre Arbeit aufnahmen, "bewegte sich die Selbstregierung nicht nur von lokaler zur regionaler Ebene, sie erhob sich auch aus dem "Schatten" der Militärstruktur. Die EZLN interveniert überhaupt nicht bei der Ernennung oder Absetzung autonomer Autoritäten, und hat sich damit begnügt darauf hinzuweisen, dass die EZLN aus Prinzip nicht für die Machtergreifung kämpft, dass kein Angehöriger des Militärkommando oder Mitglied des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees eine Autoritätsstellung in den Gemeinden oder Autonome Bezirke einnehmen kann."Doch die Kommandantur der EZLN, das CCRI (Geheimes Revolutionäres Indigenes Komitee) "wird in jeder Region die Aktivitäten der "Räte der Guten Regierung" beaufsichtigen, um Akte der Korruption, Intoleranz, Ungerechtigkeit und Abweichungen vom zapatistischen Prinzip des "gehorchend Regierens" zu vermeiden." So gesehen sind die "comandantes" dann doch die Kontrollinstanz der zivilen Regierungen. Unbestritten ist wohl die Notwendigkeit einer besseren Koordination der Regionen. Die daraus erwachsende Stärke der zapatistischen Bewegung ist zu begrüssen, doch es existiert auch "die Gefahr einer bürokratisch-administrativen Zentralisierung, kontrolliert durch den militärischen Apparat", wie Guillermo Almeyra in der Jornada vom 3. August schreibt. Diese Tendenz zur militärischen Logik, zum "tenemos que esperar que dice el comité", wurde schon oft von Seiten befreundeter Organisationen, der solidarischen "sociedad civil en resistencia" kritisiert. Die neuen regionalen Autonomiestrukturen werden daran gemessen werden, ob ein respektvolles Miteinander der zivil-demokratischen und der hierarchisch-militärischen zapatistischen Strukturen möglich sein wird. Und darüber entscheiden wird insbesondere die eigene Basis.

Reaktionen auf die Neuorganisation des zapatistischen Autonomie

Die Zapatistas können sich nach einer schwierigen Phase — der grosse Marsch nach Mexiko Stadt im Jahre 2001 brachte den Konflikt keiner politischen Lösung näher — offensichtlich auf die eigenen Kräfte verlassen und treten nun mit ihrer Strategie der Praxis der indigenen Autonomie an die Öffentlichkeit. Die Reaktionen auf die zapatistische Umsetzung der Abkommen von San Andrés sind unterschiedlich. Die Armee verstärkt Strassensperren und Präsenz und reaktionäre Kreise sehen die Gefahr eines "Staates im Staate" und sprechen klar von illegalen Aktivitäten, gegen welche auch militärisch vorgegangen werden müsste. Doch andere Teile der politischen Klasse haben sich längst mit der Situation in der Konfliktzone abgefunden. So der chiapanekische Gouverneur Pablo Salazar Mendiguchía, welcher gar meinte: "Keine Regierungsform, welche die Lebenssituation der Indígenas der Selva und Altos zu verbessern versucht, verletzt das Gesetz." Von Seiten der mexikanischen Regierung sind Töne zu hören, dass man nun einfach die chiapanekische Gesetzgebung den Umständen entsprechend anpassen müsse. Eine Regionalisierung des Konfliktes, gegen welche sich die EZLN immer wehrte. Bauernorganisationen wie die nationale Union der Landarbeiter (Unión Nacional de Trabajadores Agricolas) oder der ständige Agrarkongress CAP (Congreso Agrario Permanente) begrüssen die zapatistischen "Räte der guten Regierung" als "ausserordentliches Instrument der Volksdemokratie". An der Feier in Oventik zur Einweihung der "Caracoles" im Herzen der zapatistischen Rebellion gaben sich unzählige mexikanische Basisorganisationen ein Stelldichein. Im Takt der Marimba wurde an den Widerstandsstrategien gegen die neoliberale Politik weitergesponnen. Die Symbolwirkung und Mobilisierungskraft dieses grossen Treffens ist nicht zu unterschätzen: Es fand einen Monat vor den geplanten Aktivitäten gegen das 5. WTO-Ministertreffen in Cancún vom 10.-14. September statt. Auch die EZLN wird sich an diesen Mobilisierungen beteiligen.

Die Bedeutung der "Caracoles" (Meeresschnecken)

Nach Ueberlieferung der Urahnen hatten "die Götter, die die Welt erschufen, nicht mehr genug Energie", um einen fest verankerten Himmel zu schaffen. Der Himmel neigte dazu, sich manchmal zu lockern und Unglück und das Böse über die Menschen zu bringen. So wurden vier Götter auf die Erde geschickt, die ihn an seinen vier Ecken halten sollten. Da sie nicht alle immer wachsam waren, wurde einer als Wächter bestimmt. Er bekam eine Muschel auf die Brust gehängt, mit der er seine Kumpane ab und zu zur Wachsamkeit aufrufen sollte. Die spiralförmige Meeresschnecke symbolisiert aber neben ihrer Funktion als Rufhorn mit ihren Spiralwindungen auch den Pfad ins Herz hinein und dann wieder hinaus. Subcomandante Marcos beschreibt, wie sich die zapatistischen KämpferInnen treffen, im Regen ausharren, ums Feuer sitzen oder in einen schlammigen Tümpel springen, wie sie diskutieren und Ideen entwickeln. "Vom Internationalen wandten sich ihre Augen und ihre Gedanken nach innen, durchstreiften nacheinander das Nationale, das Regionale und das Lokale, bis sie das erreichten, was sie die zapatistischen Völker oder "el Votán, den Wächter und das Herz des Volkes" nennen". Dann geht es wieder spiralförmig nach aussen, die Vorstellungen werden ins Kollektiv getragen. "Und so werden die Caracoles wie Türen sein, um in die Gemeinden einzutreten und für die Gemeinden, um aus sich herauszukommen. Wie Fenster, damit wir uns drinnen betrachten können und auch um hinauszuschauen. Wie Lautsprecher, um unser Wort weit zu tragen, und für uns, um zu hören, was weit weg gesagt wird. Aber vor allem, um uns daran zu erinnern, dass wir wachsam sein sollen gegenüber der Vielfältigkeit der Welten, welche die Erde bevölkern."

Ein Artikel für den Correos de las Américas.


Quelle:
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