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Offener Brief des Generalsekretärs an den mexikanischen Präsidenten

amnesty international vom 19.08.2013
übersetzt von W. Grenz

  ai-logoAI Index: AMR 41/052/2013
Ref: TG AMR 41/032/2013

Lic. Enrique Peña Nieto
Präsident der Vereinigten Mexikanischen Staaten
Residencia Oficial de los Pinos
Colonia San Miguel Chapultepec
México, D.F., C.P. 11850
México

London, 19. August 2013

Sehr geehrter Herr Präsident,

mit diesem Schreiben ersuche ich Sie, sich umgehend einzuschalten, um die physische Integrität und die Menschenrechte von mindestens vier Personen sicherzustellen. Die vier sind Opfer des Verschwindenlassens durch Mitglieder der mexikanischen Marine geworden − geschehen am 29. Juli 2013 in Nuevo Laredo, Bundesstaat Tamaulipas sowie in der benachbarten Ortschaft Colombia im Bundesstaat Nuevo León.

Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte tragen Sie letztendlich die Verantwortung dafür, dass die Ihnen unterstellten Soldaten keine Menschenrechtsverletzungen begehen, wie z.B. Verschwindenlassen, sowie dafür, dass eine sofortige, unparteiische und umfassende Untersuchung erfolgt, um die Opfer lebend aufzufinden, die Vorgänge aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Seit Ihrem Amtsantritt im Dezember 2012 haben Sie − im Gegensatz zu der vorhergehenden Administration − wiederholt Ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, keine Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitskräfte zu dulden. Die neuen Fälle in Nuevo León lassen Zweifel an der Ernsthaftigkeit Ihres Engagements aufkommen. Gleichwohl bieten sie eine Gelegenheit, in der Praxis unter Beweis zu stellen, dass die Ihnen unterstehenden Behörden in der Lage sind, die Militärbehörden zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen begehen oder Angehörige des Militärs decken, die diese begehen.

Gemäß den Amnesty International vorliegenden Informationen und den mit den Angehörigen der Opfer und weiteren Zeugen geführten Gesprächen sind in den letzten Wochen in Nuevo León und Umgebung vier Personen Opfer des Verschwindenlassens durch Angehörige der Marine geworden:


Armando Humberto del Bosque Villarreal wurde am 3. August in Colombia von Marinesoldaten aus seinem Wagen gezerrt und in Anwesenheit mehrerer Zeugen und im Beisein von zwei Gemeindepolizisten aufgefordert, in ein Militärfahrzeug zu steigen. Kurz darauf eilte sein Vater zu der Marinebasis außerhalb von Colombia und erfuhr dort von einem Offizier, dass Armando festgenommen worden sei und er zu einem späteren Zeitpunkt mehr erfahren werde. Eine Stunde später wurde dem Vater mitgeteilt, dass Armando del Bosque nicht festgenommen worden sei und die Marinesoldaten ihn nicht inhaftiert hätten. Der Vater erstattete zusammen mit vier Augenzeugen Strafanzeige bei der Generalstaatsanwaltschaft. Die Gemeindepolizisten haben schriftlich bestätigt, dass Armando del Bosque von Marinesoldaten festgenommen wurde. Gleichwohl gibt es bislang keinen Beleg für eine effektive Ermittlung des Tathergangs, und der Verbleib von Armando del Bosque ist weiterhin unbekannt.


Raúl David Álvarez Gutiérrez (17) wurde am 30. Juli bei einer Straßensperre südlich von Nuevo Laredo von Marinesoldaten verhaftet. Augenzeugen, einschließlich einer Person, die ihn persönlich kennt, informierten die Familie des Opfers darüber, dass Marinesoldaten Raúl Álvarez aufgefordert hatten, in ein Militärfahrzeug einzusteigen. Als Angehörige bei der Marine vorstellig wurden, teilte man ihnen mit, dass Raúl Álvarez nicht verhaftet worden sei. Seither ist er verschwunden. Die Staatsanwaltschaft lehnte es zunächst ab, eine Strafanzeige entgegenzunehmen und verlangte von der Familie, erst müsste sie die Zeugen präsentieren. Diese möchten jedoch aus Furcht vor Repressalien keine Aussage machen.


José de Jesús Martínez Chigo und Diana Laura Hernández Acosta (17) wurden am 29. Juli um 2:30 Uhr in der Früh auf ihrem Nachhauseweg in Nuevo Laredo bei einer Straßensperre von Marinesoldaten festgenommen. Ein Angehöriger der Opfer, der die Festnahme beobachtet hatte, folgte dem Militärfahrzeug, in dem die Opfer abtransportiert wurden und sah, dass es in die Sportanlage (Ciudad Deportiva) einbog, die der Marine in Nuevo León als Feldlager dient. Die Familienangehörigen baten noch am selben Tag um Informationen über den Verbleib der beiden Opfer, aber die Marinedienststelle leugnete die Festnahme und verweigerte jegliche Auskunft. Eine bei der Staatsanwaltschaft erstattete Strafanzeige, die durch die Aussage mehrerer Zeugen untermauert wurde, dass Marinesoldaten an der Festnahme beteiligt gewesen waren, hatte keine nennenswerten Ermittlungen zur Folge.

Im Juni 2011 hatte Amnesty International an Präsident Calderón geschrieben und um Aufklärung des gewaltsamen Verschwindenlassens von José Fortino Martínez Martínez, José Cruz Díaz Camarillo, Martín Rico García, Usiel Gómez Rivera, Diego Omar Guillen Martínez und Joel Díaz Espinoza gebeten, für das die Marine in Nuevo Laredo verantwortlich war. Trotz der Empfehlung 39/2012 der Nationalen Menschenrechtskommission, mit der das gewaltsame Verschwindenlassen der Opfer bestätigt worden war, hat die Regierung zu keinem Zeitpunkt die notwendigen Maßnahmen ergriffen, die verschwundenen Personen zu lokalisieren oder die Verantwortlichen der Justiz zu überstellen. Die Opfer, einschließlich der Familienangehörigen, erlangten weder Gerechtigkeit, noch Wahrheit noch eine Entschädigung. Das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion auf die Nachfragen der Angehörigen und Forderungen von Amnesty International in diesem Fall ist bezeichnend für eine Regierung, die ihre Verpflichtungen in puncto Menschenrechte einfach ignorierte.

Im Juni 2013 veröffentlichte Amnesty International den Bericht »Sich dem Albtraum stellen − Das Verschwinden- lassen von Menschen in Mexiko«. Der Bericht beschäftigt sich mit dem Verschwindenlassen, einschließlich des gewaltsamen Verschwindenlassens, für das die Sicherheitskräfte verantwortlich zeichnen. Darin werden die Schritte benannt, die die Regierung unternehmen muss, um die Opfer zu finden und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Bisher zeigt Ihre Regierung keine angemessene Reaktion auf diese menschenrechtliche Krise.

Amnesty International ist sich der komplexen Sicherheitslage in Mexiko, welche die gewalttätigen Aktionen des Organisierten Verbrechens − auch insbesondere im Bundesstaat Tamaulipas − mit sich bringt, bewusst. Aber bei den drei von mir erwähnten Fällen stellt das Verhalten der Militärs im Bundesstaat Tamaulipas einen Angriff auf die in der mexikanischen Verfassung und die durch internationales Recht garantierten Menschenrechte dar. Lassen Sie mich daran erinnern, dass gewaltsames Verschwindenlassen als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden kann und dass Mexiko zu den Staaten zählt, die das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und das Interamerikanische Abkommen gegen gewaltsames Verschwindenlassen von Menschen unterzeichnet haben.

Das Interamerikanische Abkommen verpflichtet die Staaten, »das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen nicht zu praktizieren, nicht zu gestatten und nicht zu dulden«. Das Internationale Übereinkommen regelt, dass »jeder Teilnehmerstaat darüber zu wachen hat, jedem Menschen, der von dem gewaltsamen Verschwinden einer Person erfährt, das Recht zuzugestehen, den Tatbestand den zuständigen Behörden anzuzeigen, die daraufhin schnell und unparteiisch die Anzeige zu prüfen haben und ggf. unverzüglich eine umfassende und unparteiische Ermittlung durchführen.«

In Ihrem ersten Amtsjahr haben Sie sich gegenüber Angehörigen von Verschwundenen öffentlich verpflichtet, dass Ihre Regierung gewaltsames Verschwindenlassen nicht dulden wird, dass der Rechtsrahmen im Kampf gegen dieses Verbrechen gestärkt werden soll, dass eine wirksame und schnelle Suche nach als verschwunden geltenden Personen (sei es unter dem Einfluss von Kriminellen oder Staatsbediensteten) erfolgen wird und dass sich Militärs, die wegen der Verletzung von Menschenrechten angeklagt sind, nach gründlichen Ermittlungen vor Zivilgerichten zu verantworten haben. Eine entschiedene Aktion in den genannten Fällen würde belegen, dass jene Worte mehr sind als leere Versprechen.

Die Familienangehörigen der Verschwundenen in Nuevo León und Umgebung, die danach fragen, wo ihre Lieben geblieben sind, erwarten von Ihnen ein entschlossenes Handeln, weil es scheint, als seien die Sicherheitskräfte, die Staatsanwaltschaft und die Justiz nicht in der Lage oder nicht willens, die Tatbestände aufzuklären und die Betroffenen zu finden.

Hier steht zurzeit die Handlungsfähigkeit der Exekutive gegenüber den Streitkräften auf dem Prüfstand. Die Erfahrung lehrt, dass ein Nicht-Handeln die Straflosigkeit und die Fortdauer gravierender Menschenrechtsverletzungen begünstigt.

Angesichts der gebotenen Eile in den vorliegenden Fällen wird Amnesty International diese Mitteilung an Sie öffentlich machen. In Erwartung Ihrer Antwort und der Maßnahmen Ihrer Regierung, die vier verschwundenen Personen ausfindig zu machen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen grüße ich Sie

hochachtungsvoll

Salil Shetty Generalsekretär

Kopien an:
Lic. Jesús Murillo Karam, Generalbundesanwalt
Admiral Vidal Francisco Soberón Sanz, Marineminister
Lic. Miguel Ángel Osorio Chong, Innenminister
Lic. Ricardo García Cervantes, Staatsanwalt für Menschenrechte bei der Generalbundesanwaltschaft
Lía Limón, Staatsekretärin im Innenministerium für Rechtsangelegenheiten und Menschenrechte
Juan Manuel Gómez Robledo, Staatssekretär im Außenministerium für Multilaterale Angelegenheiten und Menschenrechte

(Übersetzung aus dem Spanischen: Wolfgang Grenz)

 Anhang  
  Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko (Bericht)


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 Quelle:  
  http://www.amnesty.de/ 
 

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