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Die WTO auf dem Weg nach Cancun

Poonal vom 25.08.2003
Von Andreas Behn, Poonal 587 vom 26.08.2003

  (Berlin, 25. August 2003, npl).- "Das ist eine unnötige Konfrontation, ein Rückfall in die Nord-Süd-Konfrontation der Siebzigerjahre," empörte sich Peter Carl, Generaldirektor für Handel der EU-Kommission. Sie wollten nur nehmen, aber nichts geben — sinngemäß sagte Carl, die Entwicklungsländer forderten das ganze Weltall in der Hoffnung, ungestört den Mond besetzen zu können. Der Anlass für den undiplomatischen Ausfall: Eine Gruppe von 17 Schwellen- und Entwicklungsländern hatte auf einem informellen Treffen der Welthandelsorganisation WTO am 20. August von den Industriestaaten gefordert, all ihre Agrarsubventionen abzubauen. Brasiliens WTO-Repräsentant Seixas Correa konterte, mit ihrem Vorschlag wollten die 17 Staaten "keinesfalls den Mond, sondern Zugang zu den Agrarmärkten in Europa und anderswo auf der Erde" erreichen.

Die Stimmung ist also gespannt bis schlecht im Vorfeld der 5. WTO-Ministerkonferenz, die in der zweiten Septemberwoche im mexikanischen Karibikbad Cancún stattfinden wird. Die Vorstellungen der armen und reichen Länder in Handelsfragen driften weiter auseinander, und immer mehr kleine Länder beklagen, sich im undemokratischen Regelwerk des Welthandels nicht mehr repräsentiert zu fühlen. Hinzu kommen Streitigkeiten zwischen der EU, den USA und Japan, die zwar prinzipiell an einem Strang ziehen, sich aber bei der Aufteilung der Märkte erbitterte Konkurrenz machen.

Diese Uneinigkeit freut die globalisierungskritische Bewegung, die sich im September ebenfalls in Südmexiko einfinden wird. Sollten die Entwicklungsländer den Durchmarsch der Industriestaaten diesmal blockieren, würde die WTO ganz von alleine gegen die Wand fahren. Angesichts unzähliger Druckmittel des Nordens, die von Schwarzen Listen über Boykottmaßnahmen bis hin zu diplomatischem Liebesentzug reichen, ein gewagter Optimismus. Deswegen wird allerorten dazu aufgerufen, "den WTO-Zug zum Entgleisen zu bringen".

Viel weiter geht die Einigkeit unter den WTO-GegnerInnen jedoch nicht: Das Spektrum reicht von NGOs, die am WTO-Tisch Platz genommen haben und für mehr innere Transparenz plädieren bis hin zu Gruppen, die das Tagungszentrum in Cancún stürmen wollen. Andere sind zu dem Schluss gekommen, dass die WTO nicht reformiert sondern mittels politischem Druck schlicht abgeschafft werden muss. Derweil arbeiten im Mexiko unzählige Gruppen und UnterstützerInnen an der Vorbereitung der siebentägigen Gegenaktivitäten und eines Sozialforums, allerdings nicht ohne sich gegenseitig auch kräftig zu beharken und persönlichen wie parteipolitischen Intrigen freien Lauf zu lassen.

Was ist das für eine Institution, die soviel Streit hervorruft, die je nach Standpunkt weltweiten Wohlstand oder nur noch mehr Armut und Zerstörung schafft? Ein Blick zurück: Die WTO ging aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT von 1948 hervor, das in mehreren sogenannten Runden die Leitlinien des Freihandels zu einem für die Mitgliedsstaaten bindenden Regelwerk ausbaute. Die vorletzte dieser Runden, die "Uruguay-Runde" endete mit der Schaffung der WTO (World Trade Organisation) im Januar 1995, der momentan 145 Länder und die EU angehören.

Oberstes Entscheidungsgremium ist die Ministerkonferenz, zu der alle zwei Jahre alle Mitglieder zusammen kommen. Dazwischen tagen am Sitz der Organisation in Genf unzählige Räte und Kommissionen, treffen Vorentscheidungen und schreiben Kompromisspapiere, so dass es Nichteingeweihten kaum möglich ist zu verfolgen, welche wirtschaftspolitischen Richtlinien debattiert und womöglich auch umgesetzt werden. Wichtigstes Instrument der WTO ist wahrscheinlich der Streitschlichtungsmechanismus, eine Art weltweites Handelsgericht, das nach komplizierten Regeln zwischen den Staaten Recht spricht — ein Recht, dass an den Grundsatz des Freihandels gebunden ist und Vorrang vor anderen internationalen wie nationalen Rechtssprechungen hat.

Bei der Ministerkonferenz 1999 in Seattle wollten die USA und die EU eine neue Handelsrunde ausrufen. Doch die massenhaften Proteste auf der Strasse und Streits zwischen verschiedenen Ländergruppen ließen die Konferenz scheitern. Ein solches Debakel sollte sich 2001 nicht wiederholen, und so lud die WTO in das Emirat Katar nach Doha ein. Abgeschirmt von allem Protesten gelang es den Industriestaaten, die Entwicklungsländer, die vorerst keine neuen Themen verhandeln wollten, erfolgreich unter Druck zu setzen. Nach dem Motto "Für-uns-oder-gegen-uns" wurde nach einer endlosen Nachtsitzung eine neue, die "Doha-Entwicklungsrunde" ausgerufen.

Diese neue Runde umfasst fast alle erdenklichen Handelsthemen und ist dementsprechend umstritten. Im Mittelpunkt stehen jedoch drei Themen: Das Agrarabkommen (AoA — Agreement on Agriculture), bei dem um Marktzugang in der Landwirtschaft, Einführzölle im armen Süden und wettbewerbsverzerrende Subventionen im reichen Norden gerungen wird; das GATS (General Agreement on Trade in Services), das die Privatisierung von Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitssystem oder Wasserversorgung regeln soll; und das TRIPS (Trade Related Intellectual Property Rights), in dem es um Eigentumsrechte sowie Patente auf Erfindungen und lebende Organismen geht.

Besonders umstritten ist allerdings ein vierter Bereich — die so genannten "Singapure-Issues": Insbesondere die EU drängt seit der Ministerkonferenz in Singapur 1996 darauf, die Themen Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen und Handelserleichterungen in die WTO-Agenda aufzunehmen. In Doha hatten sich aber die Entwicklungsländer derart dagegen gewehrt, dass lediglich beschlossen wurde, "Vorgespräche" zu führen. In Cancún soll nun beraten werden, ob die "Singapure-Issues" in die laufende Runde noch aufgenommen werden.

Schon 1998 machte das Thema Investitionsabkommen Furore, damals unter dem Titel MAI (Multilaterale Investitionsabkommen), das hinter verschlossenen Türen in der OECD verhandelt wurde. Es ging vor allem darum, Unternehmen und transnationalen Konzernen größere Investitionssicherheit zuzusichern. So sollten im MAI internationale Standards festgelegt werden, die den sozialen oder ökologischen Belangen der betroffenen Länder übergestülpt werden konnten. Zur Einhaltung dieser Standards wurde den Konzernen ein Klagerecht gegen Staaten und Regierungen eingeräumt, während sie selbst kaum an Verpflichtungen gebunden werden sollten. Auch wäre allen Ländern jegliche Steuerung von Investitionen und Auftragsvergaben gemäß eigener Entwicklungskriterien verboten worden. Als die MAI-Verhandlungen damals publik wurden, war es dem breiten Protest aber auch der Uneinigkeit innerhalb Europas zu verdanken, dass das Investitionsabkommen in den Schubladen verschwand.

Unter neuem Namen soll dieses Abkommen in nur leicht abgeschwächter Form in Cancún wieder auferstehen, hofft die EU. Allerdings sind die USA bei diesem Thema überraschend zurückhaltend, offenbar sind sie überzeugt, im WTO-Rahmen keine für sie akzeptablen Ergebnisse erhandeln zu können. Statt dessen setzt Washington beim Thema Investitionen schon seit längerem auf bilaterale Abkommen und Verträge: zuerst das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, vergangenes Jahr ein Vertrag mit dem südamerikanischen Chile und in nicht ferner Zukunft soll es die Gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA geben. Bisher ein erfolgreiches Konzept, denn seit 1994 häufen sich im NAFTA-Raum erfolgreiche Klagen von Unternehmen gegen angebliche Einschränkungen ihrer Investitionsinteressen.

Es wird erwartet, dass viele Entwicklungsländer und insbesondere Indien erneut versuchen werden, einen Konsens über die Aufnahmen solcher Verhandlungen zu verhindern. Auch bei anderen Knackpunkten stehen zumeist Länder des Südens den Industriestaaten entgegen. Bei dem TRIPS-Abkommen, dass wie das GATS seit 1995 Bestandteil der verbindlichen WTO-Regeln ist, geht es unter anderem um Patente auf exotische Pflanzen, die der Biopiraterie Tür und Tor öffnen, sowie um den Umgang mit genverändertem Saatgut, für das immer mehr Landwirte in aller Welt Lizenzgebühren entrichten müssen.

Aufsehen erregen schon seit längerem die durch Patente extrem hohen Preise für lebenswichtige Medikamente bei Krankheiten wie Aids, Malaria oder Tuberkulose. Zwar bietet TRIPS inzwischen die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen Nachahmerprodukte, so genannte Generika, herzustellen. Doch kleine Länder ohne eigene Pharmaindustrie sind bislang davon ausgeschlossen und die USA setzen alles daran, diesen Ländern höchsten den Import von Generika gegen akute Epidemien zu erlauben. Wer von solchen TRIPS-Regeln profitiert ist eindeutig: 97 Prozent aller Patente weltweit halten große Konzerne aus Industrieländern.

Bei GATS wird darum gestritten, wie viele Bereiche der öffentlichen Hand der Privatisierung preisgegeben werden sollen. Strategische Sektoren wie Trinkwasser, Kommunikation aber auch das Finanzwesen können für Investoren sehr lukrativ sein, oft aber mit fatalen Konsequenzen für die veramten Teile der Bevölkerung, weil sie sich an Profitinteressen orientierte Dienstleistungen meist nicht leisten können. Da die hochverschuldeten Entwicklungsländer dem Primat der Privatisierung oft nichts entgegensetzen können, laufen die GATS-Verhandlungen bisher am zügigsten. Oft halfen nur spontane Aufstände in den betroffenen Ländern, die Folgen der GATS-Richtlinien rückgängig zu machen, zum Beispiel der sogenannte Wasserkrieg gegen drastische Preiserhöhungen in Bolivien vor zwei Jahren.

Den meisten Konfliktstoff bietet jedoch das Agrarabkommen, das Paradebeispiel für Doppelmoral. Während die Länder des Südens gezwungen werden, ihre Handelsbarrieren und Zölle komplett abzubauen, schützen die Länder des Nordens ihre Märkte mit unzähligen Regelungen, Steuergeschenken und Subventionen. Die Folge: Länder wie Brasilien oder Thailand haben keinen Zugang zu den Märkten in der EU oder den USA, während letztere aber in alle Entwicklungsländer mit Dumpingpreisen exportieren können und dort auch noch die weniger rentable kleinbäuerliche Produktion zerstören. Niemand im Norden denkt an einen Subventionsabbau: Mit ihrem "farm bill" erhöhte die US-Regierung vergangenes Jahr die Agrarsubventionen für die kommende Dekade um 70 Prozent auf rund 190 Milliarden US-Dollar. Auch die Reform der EU-Agrarpolitik vom 26. Juni änderte nichts an der Gesamtsumme von 43 Milliarden Euro, mit denen die hiesige Landwirtschaft unterstützt wird.

Die KritikerInnen der WTO monieren nicht nur den bedingungslosen Liberalisierungsdrang der WTO, sondern auch ihre undemokratische Struktur. Auf den ersten Blick mag das geltende Konsensprinzip fortschrittlich klingen, doch de facto hat so jedes Land ein Vetorecht — und insbesondere die wenigen Industrieländer können jederzeit Initiativen der zahlreicheren armen Länder abblocken. Andererseits haben die reichen Länder viele Möglichkeiten, andere unter Druck zu setzen und so einen Konsens in ihrem Sinne zu erwirken. Mal werden Länder gegeneinander ausgespielt, mal mit Hilfsversprechen bestochen oder es wird gedroht, ihnen Vorrechte zu nehmen. Auch sind viele kleine Länder gar nicht in der Lage, gleichzeitig an allen Tischen kompetent und auch noch nächtelang mitzudiskutieren — wenn sie überhaupt geladen sind: Oft werden die entscheidenden Gespräche in so genannten green rooms hinter verschlossenen Türen geführt, und wer sich später dagegen stellt, bekommt mächtig Druck. Gerne werden unbequeme Anliegen auch einfach ignoriert. So stehen eigentlich über 100 konkrete Probleme bezüglich der Umsetzung der bereits bestehenden WTO-Abkommen auf der Tagesordnung, doch statt sie zu thematisieren, werden einfach die gesetzten Deadlines verpasst.

Bei der Durchsetzung ihrer liberalen Dogmen profitiert die WTO auch davon, dass KritikerInnen und Leidtragende sich oft uneinig sind bzw. unterschiedliche Interessen verfolgen. So gehen große Agrarexporteure im Süden zwar vehement gegen die Subventionen im Norden vor, stellen damit aber die Freihandelslogik selbst keinesfalls in Frage. Diese aber zwingt beispielsweise Ruanda, alle Medikamente auf dem teuren Weltmarkt zu erstehen, während Brasilien zu Haus durchaus billige Generika herstellen kann.

Auch die globalisierungskritische Bewegung ist sich in Sachen WTO alles andere als einig. Einige monieren vor allem die undemokratischen Regeln oder Auswüchse im Rahmen der WTO-Freihandelslogik, während andere überzeugt sind, dass auch eine ganz demokratische WTO nur Unheil anrichten kann. Kompliziert wird es für die globalofóbicos — wie die WTO-Gegner vor Ort abfällig in der mexikanischen Presse bezeichnet werden — vor allem bei der Wahl der BündnispartnerInnen: Können es auch reaktionäre Regierungen in Drittwelt-Ländern sein, wenn diese sich auf einmal gegen Industrieinteressen im Norden aussprechen? Oder nationale Unternehmen, weil sie bei Privatisierungen angeblich andere Interessen verfolgen als transnationale Multis?

Der an der University of Cambridge lehrende Ökonom Ha-Joog Chang kommt zu dem Schluss, dass entgegen aller Beschwichtigungen und kleinen Zugeständnisse im Rahmen der WTO-Logik keine Entwicklung möglich ist. Denn diese Logik läuft darauf hinaus, die Entwicklungsländer daran zu hindern, genau jene wirtschaftlichen Strategien zu nutzen, mit denen die Industrieländer selbst zuvor erfolgreich agiert haben.


Quelle: poonal
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