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Ciudad Juárez: Über 300 ermordete und 500 vermisste Frauen

Menschenrechtler prangern Straflosigkeit an

Poonal vom 21.10.2003
Von Andreas Behn, Poonal 595 vom 21.10.2003

  (Mexiko-Stadt, September 2003, npl).- "Die Polizei hat nahe der Stadt Ciudad Juárez erneut die Leiche einer jungen Frau aufgefunden. Aus Rücksicht auf die Angehörigen teilte der Sprecher keine Einzelheiten über das Verbrechen und den Zustand des Opfers mit," berichtet die Tageszeitung "Diario de Chihuahua"."Die Leiche wies Spuren sexueller Misshandlung auf, was auf einen weiteren Fall der mysteriösen Mordserie an Frauen hinweist," ergänzt das Blatt.

Eine fast alltägliche Meldung im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua.Vor allem Ciudad Juarez, unmittelbar an der Grenze zu den USA gelegen, hat mittlerweile traurige Berühmtheit erlangt: Über 320 Frauen und Mädchen sind hier seit 1993 auf brutale Weise ermordet worden, zwischen 400 und 500 sind spurlos verschwunden. Verzweifelt suchen ihre Familien nach ihnen, doch zumeist ohne Erfolg und oftmals ohne Unterstützung durch die Behörden, klagt Evangelina Arce. Ihre Tochter Silvia war im März 1998 nicht nach Hause gekommen. "Sie haben nicht einmal richtige Ermittlungen eingeleitet. Ich will doch nur, dass sie meine Tochter suchen," sagt Evangelina Arce verbittert.

Die Opfer weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Alle sind Frauen, jung und schön. Die meisten stammen aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Nicht alle — laut Polizei lediglich zwei von fünf Mordopfern — waren sexueller Gewalt ausgesetzt. Deswegen sagen die Behörden, die These einer Serie von Sexualmorden sei übertrieben. Die Angehörigen und die Menschenrechtsgruppen, die sie unterstützen, halten dies allerdings für eine faule Ausrede. Sie befürchten vielmehr, dass es kein Zufall ist, dass so wenige der Verbrechen aufgeklärt werden und gehen davon aus, dass womöglich auch staatliche Stellen mit den Serientätern Verbindung haben.

Sollte es wirklich ein kriminelles Kartell geben, das es auf junge Frauen abgesehen hat, dann wäre die Nordgrenze Mexikos eine geeignete Region. Jenseits der Städte ist es einsam, nur selten kommt man auf den staubigen Landstraßen an Dörfern vorbei. Immer wieder sind Ruinen zu finden, einstige Bauernhöfe oder Landhäuser, die schon lange verlassen wurden. Die Landschaft ist wüstenartig, Kakteen und dürre Sträucher soweit das Auge reicht. Hinzu kommt eine oft unerbärmliche Hitze, die draußen kaum zu ertragen ist.

In dieser etwas trostlosen Gegend floriert nicht nur der grenznahe Drogenhandel, der die Kriminalitätsraten in die Höhe schießen ließ. In der Umgebung haben sich viele Maquilas angesiedelt, sogenannte Teilfertigungsfabriken. Hier lassen große US-amerikanischen oder japanischen Unternehmen die arbeitsintensiven Phasen der Produktion erledigen, zum Beispiel in der Textilindustrie. Mexikos Regierung preist dies als bedeutenden wirtschaftlichen Fortschritt, weil Auslandsinvestitionen und neue Arbeitsplätze ins Land kommen. Doch für die Betroffenen ist es ein fraglicher Fortschritt. Die Löhne, die in den Maquilas gezahlt werden, sind ärmlich, die Arbeitsbedingungen prekär. Und weil die Maquilas in Freihandelszonen liegen, gelten andere Arbeitsrechte: Eine gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter ist fast unmöglich, es herrschen so strenge Regeln, dass sich die Menschen innerhalb einen Betriebes kaum kennen lernen.

Die große Mehrheit der Maquila-Beschäftigten sind Frauen — weil ihnen noch weniger gezahlt werden kann und weil sie im Gegensatz zu vielen Männern bereit sind, so niedere Tätigkeiten anzunehmen, um ihre Kinder zu ernähren. Viele von ihnen sind nur wegen den Jobs in den rund 300 Maquilas hierher gekommen, alleine oder mit Kindern. Andere arbeiten in der Prostitution, in Bars oder als Kellnerin im Restaurants. Sie sind vielleicht vor ihren Ehemännern oder aus ihren Familien geflohen und hoffen, hier zumindest überleben zu können.

Die Vereinzelung, Armut und Arbeitsschichten, die oft mitten in der Nacht aufhören, machen es potentiellen Frauenmördern leicht. Unheimlich ist, dass bislang kein Motiv für die vielen Verbrechen ermittelt wurde: Zwangsläufig wird der Phantasie freier Lauf gelassen. Mal ist von satanischen Ritualen zu hören, von grenzüberschreitendem Frauenhandel, von Psychopathen oder von Drogenhändlern des berüchtigten Juarez-Kartells, das seine Finger im Spiel haben soll. Das spurlose Verschwinden vieler Frauen und der Zustand, in dem die Opfer von Sexualverbrechen aufgefunden wurden, lässt immer wieder die grauenhafte Version aufkommen, Hersteller sogenannter Snuff-Videos, gewaltverherrlichende Pornos, verbergen sich hinter der Mordserie.

"Ich denke, dass alle Erklärungsansätze in Frage kommen. Aber die wesentliche Ursache ist die Straflosigkeit," meint die Frauenrechtlerin Irma Campos Madregal aus Ciudad Juárez. "Denn wenn niemand zur Rechenschaft gezogen wird, wenn die Täter machen können, worauf sie Lust haben, dann wird alle Welt in Ciudad Juárez Verbrechen begehen können," schimpft Irma Campos.

"Seit zehn Jahren verschwindet pro Woche mindestens eine Frau in Ciudud Juárez. Warum wird nichts dagegen getan?" fragt auch die Angehörigen-Gruppe "Por Nuestras Hijas (Für Unsere Töchter). Ihre Mitglieder beklagen, dass Polizei und Regierung das Thema kaum beachten, Ermittlungen fast immer im Sande verlaufen. Und das, obwohl die Nationale Menschenrechtskommission Mexikos (CNDH) sich mehrfach zu dem Thema äußerte und den Präsidenten anmahnte, in der Sache tätig zu werden. Zuletzt kamen im August dieses Jahres die Menschenrechtler von amnesty international den Frauen von Ciudad Juárez zu Hilfe. Sie studierten die Situation vor Ort, dokumentierten mehrere Fällen von unaufgeklärten Sexualmorden und starteten eine Kampagne, um Druck auf die mexikanischen Behörden zu machen. Zugleich will amnesty die unglaublichen Zustände über die Grenzen Mexikos hinaus bekannt machen.

Die außergewöhnliche Brutalität der Verbrechen steht im Mittelpunkt der amnesty-Studie. Viele der Opfer — die jüngsten waren gerade mal zwölf Jahre alt — wurden nicht einfach umgebracht. Sie wurden vergewaltigt, gefoltert, misshandelt und dann erhängt oder zu Tode geprügelt. "Als wir sie fanden, bezeugte der Körper meiner Tochter all das, was sie ihr angetan hatten," berichtete Norma Andrade, Mutter von Lilia Alejandra, die vor zwei Jahren auf einem unbebauten Grundstück direkt neben der Maquila, in der sie gearbeitet hatte, tot aufgefunden wurde.

Es ist gar nicht so lange her, da waren die Frauen von Ciudad Juárez nicht nur auf sich allein estellt. Seitens der Behörden wurden sie sogar selbst für ihre Lage erantwortlich gemacht. "Frauen, die abends ausgehen, oft noch spät, und Kontakt mit Betrunkenen haben, gehen ein Risiko ein. Wer auf die Straße geht, lebt gefährlich," kommentierte vor vier Jahren der damalige Staatsanwalt von Chihuahua, Arturo González Rascón. Mehrmals äußerte er die Ansicht, dass die Art und Weise, wie sich die Frauen kleiden, eine Ursache der Verbrechen sei.

Seit der amnesty-Kampagne schlägt die mexikanische Polizei andere Töne an. Derzeit werde in 228 Fällen ermittelt, erklärte am 6. September der Sonderstaatsanwalt für organisierte Kriminalität, José Luis Santiago Vasconcelos. Offenbar hat die Bundesanwaltschaft die Frauenmorde zur Chefsache erklärt. Nicht zuletzt weil die Morde seit einigen Monaten nicht nur in der berüchtigten Grenzstadt begangen werden. Auch in der Bundeshauptstadt Chihuahua nimmt die Zahl der ungeklärten Verbrechen an Mädchen und Frauen zu.

Santiago Vasconcelos stimmt mit den Angehörigen überein, dass es sich "um Serienmorde handelt, hinter denen womöglich gewalttätige Kulte, Videoproduktionen oder auch Nachahmungstäter stehen". Für das Desinteresse auch der meisten Menschen in Chihuahua macht der Staatsanwalt das "Wegbrechen des sozialen Netzes" mit verantwortlich. Diese Verwahrlosung führe dazu, dass "alle Verbrechen, vom Handel mit gestohlenen Autos bis hin zu Entführungen und Drogenhandel einfach toleriert werden," so der Jurist vor der Presse.


Quelle: poonal
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