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10 Jahre zapatistischer Aufstand: Das "¡Ya Basta!" geht um die Welt
Direkte Solidarität Chiapas vom 09.11.2003 |
Direkte Solidarität mit Chiapas |
Nach 500 Jahren Unterdrückung und zehn Jahren verdeckter Organisierung erhoben sich die Indígenas in Chiapas am 1. Januar 1994 in einem bewaffneten Aufstand. Das "¡Ya Basta!" — Es Reicht! der "Zapatistischen Armee zur Nationalen Befreiung" (EZLN) ist bis heute nicht verhallt. Ein Rückblick und eine vorläufige Bilanz.
Die Gründe für den Aufstand
Auslösende Faktoren für den Aufstand im Südosten Mexikos waren die Reprivatisierung des Gemeindelandes und die Preiskrise von Produkten wie Kaffee und Mais. EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos meinte zur erstaunlichen Bereitschaft ganzer Talschaften, sich der Guerilla anzuschliessen: "Es gab schlicht keine Alternative zum bewaffneten Kampf." Erst recht, als Mexiko dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA am 1. Januar 1994 beitrat. Den mexikanischen Kleinbauern und −bäuerinnen wurde damit auf lange Sicht die Chance auf eine würdige Existenz genommen. Die EZLN stellt eine Hoffnung auf ein Ende der Marginalisierung dar. Im Krieg gegen die Elite sollte eine grundlegende Veränderung der interethnischen Beziehungen zwischen der mestizischen und der indigenen Bevölkerung Mexikos und ein Wechsel im ganzen politischen System erreicht werden.
Dabei scheint die anfänglich kleine Gruppe um Marcos einen Schritt getan zu haben, den andere Organisationen nicht machten: den Schritt von der marxistisch-leninistischen Ideologie und letztlich einem europäischen Politikverständnis hin zur "Indianisierung". Das Eingehen auf die Bedürfnisse und die Realität der Gemeinden beschreibt Marcos so: "Die EZLN wurde in dem Moment geboren, als sie akzeptierte, sich mit der neuen Realität auseinanderzusetzen, auf die sie keine Antwort hatte und der sie sich unterzuordnen gezwungen sah, um in dieser Realität — im wahrsten Sinn des Wortes — zu überleben". Marcos bezeichnet diese Anpassung der Guerillagruppe an die lokalen Gegebenheiten in den indigenen Dörfern als "die erste Niederlage der EZLN, die wichtigste, welche sie von diesem Zeitpunkt an prägte. (...) Als die EZLN sich mit den Gemeinden zu verflechten beginnt, wird aus ihr ein weiteres Element in ihrem Widerstand, wird von den Gemeinden angesteckt und ordnet sich ihnen unter. Die Gemeinden nehmen sich der EZLN an und nehmen sie unter ihre Fittiche." Aus einem isolierten Guerillagrüppchen, das sich als Selbstverteidigungskomitee der unter der Repression leidenden Gemeinden verstand, wuchs so in den Jahren 87-90 eine Bewegung heran, welche Tausende von Mitgliedern umfasste. Für Frauen bot sich zudem eine Fluchtmöglichkeit aus der Enge der patriarchalen indigenen Gemeinden: Der Frauenanteil in der Guerilla beträgt dreissig Prozent.
Trotz Widerstand der städtischen compas, welche die Perspektive eines Angriffs als selbstmörderisch einschätzten, wurde im Januar 93 die indigene Kommandantur der EZLN, das CCRI (Comité Clandestino Revolucionario Indígena), gebildet und übernahm auch formal das Kommando der Aufstandsarmee. Die Bewegung war nun in indigener Hand und erstmals schlossen sich verschiedene indigene Völker in Chiapas zu einer gemeinsamen, pluriethnischen Bewegung zusammen. Gleichzeitig jedoch distanzierten sich gerade die als traditionell geltenden Tzotziles des Hochlandes von Chiapas von einer Indigenisierung der Forderungen der Aufstandsbewegung: "Jene, die ihre Wurzeln am meisten behüten, David, Ana María und all die anderen sind am meisten abgeneigt, die EZLN bloss als eine indigene Bewegung zu sehen." In der Analyse der indigenen Kommandantur der EZLN könnten hingegen nur ein landesweiter Aufstand und landesweite Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erstens die mestizische Bevölkerung in ihren Kampf einbinden und zweitens eine Veränderung auf nationaler Ebene — den Sturz der korrupten Staatspartei PRI — herbeiführen. Oder wie Subcomandante Marcos die Wünsche des CCRI an ihn als Verfasser der Communiqués beschreibt: "Wenn du zu sehr auf dem Indigenen beharrst, wirst du uns isolieren; du musst es öffnen; wenn du auf das Indigene zurückgreifst, mach es universell, so dass alle gemeint sind."
Der Aufstand und der Krieg gegen das Vergessen
Gleichzeitig mit dem Beitritt Mexikos zur NAFTA trat die EZLN mit einer überraschenden Guerillaoffensive am 1. Januar 1994 erstmals an die Öffentlichkeit: Sie besetzt mehrere Bezirkshauptorte, darunter die Touristenstadt San Cristóbal de las Casas sowie Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas. Subcomandante Marcos verlas in San Cristóbal die "Erste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald": "Ya Basta! Heute sagen wir: es reicht!" In dieser Erklärung sind die 11 Forderungen der EZLN aufgeführt: "Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden". Ein entschlossener Aufstand gegen das Vergessen, gegen die Unsichtbarkeit der marginalisierten indigenen Bevölkerung.
Meist ohne offene Kampfhandlungen wurden Waffenlager in Polizeistationen geräumt und Gefängnisse geöffnet. Die EZLN nahm am 3. Januar auch den früheren Gouverneur von Chiapas, General Absalón Castellanos Dominguez, auf seinem Herrensitz fest und machte ihm den Prozess als "einem der gewalttätigsten Gouverneure in der Geschichte von Chiapas." Sie liess ihn einige Wochen später wieder frei mit der Strafe, "bis ans Ende seiner Tage mit der Schande leben zu müssen, von denjenigen Vergebung und Güte erfahren zu haben, die er so lange Zeit erniedrigt, verschleppt, vertrieben, beraubt und ermordet hat".
In zwölf Tagen Gegenoffensive bombardierte die mexikanische Armee indigene Gemeinden mit Pilatus-Flugzeugen, hergestellt in Stans. Es starben einige Hundert ZivilistInnen, Soldaten und Aufständische. Aussergerichtliche Hinrichtungen und Vertreibungen forderten ihre Opfer. Doch der Krieg gegen die schlecht bewaffneten Aufständischen führte in Mexiko Stadt und international zu einem Proteststurm. Am 12. Januar 94 demonstrierten hunderttausend Personen in Mexiko-Stadt gegen den Krieg in Chiapas. Präsident Salinas de Gortari sah sich gezwungen, aufgrund des Drucks der Bevölkerung einen einseitigen Waffenstillstand auszurufen. Die Zapatistas halten sich bis jetzt an diesen Waffenstillstand und entwickelten zahlreiche politische Initiativen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.
Das Zentrum und Symbol der jahrhundertelangen Ausbeutung, das Touristenstädtchen San Cristóbal de las Casas, war einen ganzen Tag lang in der Hand aufständicher Indigenas. Viele Gemeinden und Regionen waren am Aufstand selber nicht beteiligt gewesen, doch durch die indigenen Siedlungen ging ein Ruck und das zapatistische Feuer verbreitete sich in den Wochen und Monaten darauf schnell. In den Monaten darauf wurden viele Grossgrundbesitzer in ganz Chiapas enteignet und die lokale Oligarchie musste um ihre Pfründe zittern.
Die zapatistische Basis organisiert sich autonom
Schon bald zeigte sich, dass das lokale Machtgefüge nicht durch Wahlen auszuhebeln war, da sich die PRI weiterhin durch Wahlbetrug an der Macht hielt. Die Zapatistas forderten in Verhandlungen mit der Regierung eine weitgehende indigene Autonomie ein. Ein erster Kompromiss wurde in San Andrés zum Thema "Indigene Rechte und Kultur" erzielt. Doch dieses erste Abkommen blieb toter Buchstaben. Weil es nicht umgesetzt wurde, sistierte die EZLN weitere Verhandlungen. Die EZLN übte mit zivilen politischen Initiativen Druck aus, es gründeten sich auf Anregung der Zapatistas der Dachverband der indigenen Organisationen (CNI) und die Unterstützungskomitees des Frente Zapatista. Gleichzeitig sollten die autonomen lokalen Strukturen in ihren Dörfern Tatsachen schaffen und GegnerInnen wie AnhängerInnen zeigen, dass eine Alternative zur korrupten Regierung machbar ist. Die nach langen Perioden des Schweigens immer wieder mit grossen und fantasievollen Mobilisierungen überraschende EZLN wurde so zur Leitfigur einer Demokratisierungsbewegung, welche das mexikanische politische System in seinen Grundfesten erschütterte.
In den Dörfern im Konfliktgebiet vertiefte sich die Spaltung unter AnhängerInnen und GegnerInnen des EZLN zusehends. Die Devise der Zapatistas, gemeindeinterne Auseinandersetzungen im Dialog zu lösen und Provokationen aus dem Wege zu gehen, verhinderte jedoch nicht immer gewaltsame Konflikte. Oft wurden diese durch die Regierung geschürt oder eskalierten erst, wenn Armee und Polizei sich einmischten. Dieser "Krieg niederer Intensität" schafft bis heute in den Gemeinden ein Klima der Angst mit dem Ziel, die aufständischen Familien zu zermürben. Es kam auch immer wieder zu Austritten aus der zapatistischen Struktur. Doch es gelang der Regierung nicht, die Bewegung merklich zu schwächen. Das jüngste Beispiel für die ungebrochene zapatistische Präsenz ist die im August 2003 erfolgte, viel beachtete Ausrufung der "Räte der guten Regierung", mit denen die indigene Autonomie im zapatistischen Einflussbereich auf regionaler Ebene umgesetzt werden soll.
In der Praxis der indigenen Autonomie soll aus Fehlern gelernt und Widersprüche nicht ausblendet werden. Die EZLN fasst dies in ihr poetisches Leitmotiv "preguntando caminamos" — "Fragend gehen wir voran", auf dem steinigen, aber selber erkundeten Weg aus der Marginalisierung und Abhängigkeit hinaus.
Heute: Das neoliberale Dogma wankt
Die durch die Zapatistas initiierten internationalen Mobilisierungen wurden zu einer wichtigen Wurzel der Bewegung gegen den Neoliberalismus, hierzulande besser bekannt unter den Namen Anti-WTO-, Anti-WEF- oder Anti-Globalisierungsbewegung. Die als "Woodstock der Linken" (Spiegel) verschrieenen Interkontinentalen Treffen 1996 und 1997 waren trotz ihrer inhaltlichen Unverbindlichkeit ein wichtiger Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der Linken nach dem Berliner Mauerfall. Oder wie Subcomandante Marcos sagte: "Vielleicht hat der Zapatismus ihnen [also uns] geholfen sich zu erinnern, dass gekämpft werden muss, dass es sich lohnt zu kämpfen, oder vielmehr, dass es unabdingbar ist zu kämpfen, nicht mehr und nicht weniger".
Bleibt die Hoffnung, dass die Anti-Globalisierungsbewegung auf Chiapas zurückwirkt und gemeinsam interamerikanische Grossprojekte und Freihandelsabkommen wie das von der USA diktierte Free Trade Agreement of the Americas (FTAA) zu Fall gebracht werden können. Das Scheitern der WTO-Konferenz und das Zusammengehen anlässlich der Proteste gegen die WTO in Cancún — Bauern- und Indígena-Organisationen, Gewerkschaften und städtische Anti-Globalisierungsgruppen demonstrierten gemeinsam — war ein vielversprechender Auftakt.
Zitate aus: Yvon LeBot (Edit.): Subcomandante Marcos: El sueño zapatista.
Ein Artikel für den "Correos de las Américas".
Quelle:
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