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Der mexikanische Staat funktioniert gut − als Garant für die »Eliten«!!

Poonal vom 21.11.2014
von Gerd Goertz, Mexiko-Stadt

  (Berlin, 21. November 2014, npl).- Interview mit Antonio Cerezo von der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo* zum Permanenten Völkertribunal (TPP)

Gerd Goertz: Reflektiert das Urteil der Jury den Anhörungsprozess und die Arbeit des Permanenten Völkertribunals in Mexiko in angemessener Weise?

Antonio Cerezo: Ja. Das Urteil reflektiert die Problematik, die durch die im Rahmen des TPP dokumentierten Fälle deutlich wird. Es drückt klar die Verantwortung des mexikanischen Staates auf allen drei Regierungsebenen bei der systematischen Anwendung von Menschenrechtsverletzungen aus. Es hebt ebenso die Verantwortung der Wirtschaftspolitik des mexikanischen Staates hervor, die dieser mit der Unterstützung anderer Staaten und Unternehmen durchgesetzt hat.

Das Tribunal hat sehr viel mit dem Konzept der fehlgeleiteten, der missbrauchten Macht gearbeitet. Es wird aber auch von Staatsterrorismus statt von fehlgeleiteter Macht gesprochen...

Beim von uns bearbeiteten Schwerpunkt »Schmutziger Krieg« haben wir nicht mit der These der fehlgeleiteten Macht gearbeitet. Warum? Dieses Konzept geht von einem Staat und seinen Institutionen aus, die die für sie gedachten Funktionen nicht mehr erfüllen. Die stattdessen Funktionen erfüllen, die sich gegen die Bevölkerung richten. Soweit die Theorie. Aber in der Praxis hat der mexikanische Staat seiner eigenen Bevölkerung niemals den vollständigen Zugang zu deren Rechten gewährt. Wir können zu keinem Zeitpunkt von einem Wohlfahrtsstaat europäischen Typs sprechen. Mit minimaler Armut, minimalen sozialen Problemen — zu seinen besten Zeiten.

In Mexiko war dies anders. In Mexiko waren es genau die 1960-er und 1970-er Jahre, in denen die Kleinbauern für ihr Land kämpften und es Massaker an der Bauernbewegung gab. Die großen Eisenbahnerstreiks, die Streiks der Lehrer, der Mediziner. In diesem Kontext des angeblichen Wohlfahrtsstaates finden wir die Studentenmassaker von 1968, von 1971. Darum fragen wir: Wurde der mexikanische Staat wirklich aufgebaut, um die Rechte der Bevölkerung oder der Bevölkerungsmehrheit zu garantieren? Oder gibt es nach Präsident Lázaro Cárdenas vielmehr eine schrittweise Gegenreform der Institutionen des mexikanischen Staates zum Vorteil einer Minderheit? Unserer Meinung nach beginnt nach Cárdenas ein Prozess, in dem der mexikanische Staat den politischen und ökonomischen Interessen einer Minderheit den Vorrang gibt. Dies wird besonders deutlich und verschärft sich in der Zeit des Neoliberalismus. Das heißt aber nicht, dass sich solche Entwicklungen nicht schon in früheren Perioden zeigten. Mit ihren Besonderheiten, Rückzügen und Vorstößen.

So gesehen glauben wir: Der mexikanische Staat funktioniert in der Aktualität gut. Er ist kein gescheiterter Staat. Sondern der derzeitige mexikanische Staat ist die Vollendung einer Entwicklung, bei der sich der Staat zum Garanten der politischen, ökonomischen und sozialen Interessen einer kleinen Minderheit erhoben hat. Dabei hat er sich verändert, transformiert.

Der Staat gibt seine sozialen Verpflichtungen wie den Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen auf. Aber gleichzeitig stärkt er einen Militarisierungsprozess, schafft neue Polizeikräfte, investiert in Überwachungstechnologie. Er entwickelt und perfektioniert Mechanismen sozialer Repression. Das geht soweit, Mechanismen zu kreieren, die sich in Akte von Staatsterrorismus wandeln. Die Richter haben dies zu Beginn des TPP erwähnt. Sie erklärten, dass es Elemente gibt, die einen Staatsterrorismus konstituieren. Systematische, geplante Akte, deren Ziel die soziale Kontrolle durch Terror ist. Das Urteil nimmt dies wieder auf. Es gibt eine staatliche Politik, durch den Terror zu kontrollieren. Und um durch Terror kontrollieren zu können, müssen wir von einem bei gewissen Aspekten starken Staat sprechen. Und schwach bei anderen Aspekten. Das heißt nicht, dass der Staat nicht funktioniert. Mit dieser Lesart stimmen wir nicht überein.

Wenn wir die Falldokumentationen betrachten, sehen wir nicht, dass der Staat scheitert. Uns zeigt die Dokumentation von 17 Fällen: Der Staat interveniert aktiv. Beim Verschwinden lassen von Personen, bei außergerichtlichen Hinrichtungen. Und wenn er nicht aktiv interveniert, dann interveniert er durch Unterlassung. Er erlaubt, dass die Dinge geschehen. Besonders finster und makaber ist dabei seine Einwilligung. Er übergibt das Mandat für Menschenrechtsverletzungen an nichtstaatliche Zivilpersonen. So versucht er, seiner Verantwortung für diese Taten zu entgehen.

Welchen Sinn macht es dann, wenn das TPP vom Staat einen Wandel einfordert, so wie es das in den Empfehlungen tut und indirekt auch im Urteil?

Es macht Sinn. Das mexikanische Volk und wir als Organisationen, die Teil des Volkes sind, müssen alle uns zur Verfügung stehenden Elemente nutzen, um unsere Situation zu ändern. Eines dieser Elemente ist es, an eine veränderte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik des mexikanischen Staates zu appellieren. Ausgehend von der Dokumentation, der Organisation und der Sichtbarmachung der weitreichenden drastischen und tragischen Konsequenzen, die diese Politik für uns als Gesellschaft gehabt hat. Darum sehen wir den Appell an den Staat weder als verlorene Zeit noch als vergebliche Mühe an. Letztendlich ist auch der Staat ein Resultat der Gesellschaft, nicht nur ein Produkt einiger weniger. Alle intervenierenden Kräfte der Gesellschaft schaffen einen bestimmten Typ von Staat. Es ist richtig, die Volksbewegung ist unterjocht worden, in der Defensive gewesen, hat permanent unter Kriminalisierung und Repression gelitten. Aber wir müssen auch fähig sein, diesen Staat und diese Politik zu modifizieren.

Das Comité Cerezo hat das TPP praktisch von Anfang bis Ende begleitet. Was würdest du bei diesem Prozess besonders hervorheben?

C: Die für uns größte Befriedigung in diesem dreijährigen Prozess ist, dass wir erreicht haben, dass verschiedene Organisationen und Personen ihre Fälle dokumentiert haben. Sie haben die Informationen über ihren eigenen Fall zusammengestellt, nachgeforscht, systematisiert, konkretisiert. Ihre überreichten Unterlagen erfüllten die neun Kriterien des TPP. So konnten die Fälle präsentiert werden. Diese Arbeit haben nicht wir gemacht, sondern sie mit methodologischen Elementen begleitet. Das ist für uns ein qualitativer Sprung, eine erreichte Befähigung. Die Organisationen selbst haben verstanden, wie notwendig die Dokumentation für den Kampf um die Erinnerung, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die integrale Wiedergutmachung ist. In Mexiko gibt es diese Kultur der Dokumentation oft nicht. Die Leute denken: Wenn wir sterben, warum sollen wir dann dokumentieren?

*Das Comité Cerezo wurde 2012 wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte politischer Häftlinge und die Opfer von Menschenrechtsverletzungen allgemein mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Das Interview zum TPP führte am 15.11.2014 Gerd Goertz in Mexiko-Stadt


Quelle: poonal
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