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Kagemusha − April ist auch morgen.

Kommunique vom 12.04.2017
übersetzt von lisa - colectivo malíntzin

 

Kagemusha — April ist auch morgen.



12. April 2017

Vor einigen Monaten erzählte mir der Subcomandante Insurgente Moisés eine Synthese dessen, von dem er Ihnen heute ausführlicher und inhaltsreicher gesprochen hat.

Vielleicht — ohne Vorhaben — hatte er eine Spannungslinie zwischen der Vergangenheit und dem Unwetter, was bereits da ist, gefunden.

In dieser Morgendämmerung — nachdem ich die Geschichten unserer ältesten Compañeros mit der Stimme des SubMoy gehört hatte — kehrte ich in meine Champa (1) zurück. Ein Regen, der außerhalb der Jahreszeit auftrat, begann das Wellblech-Dach zu peitschen, sodass nichts anderes zu hören war außer dem Unwetter.

Ich wühlte wieder einmal in dem Koffer, den mir der SupMarcos übergeben hatte, weil mir schien, ich hätte einen Text gesehen, der sich auf das beziehen könnte, was gerade zu hören war.

Diese Schriften durchzusehen, ist nicht gerade einfach, glauben Sie mir. Die meisten der Texte, die sich in einem Durcheinander im Koffer aufhäufen, sind von 1983 bis zum Januar 1994. Wie man sieht, hatte der Sup mindestens bis 1992 nicht nur keinen Computer sondern noch nicht einmal eine mechanische Schreibmaschine. So stellen die Texte Manuskripte dar in Papiergrößen aller Art. Die Handschrift des Verstorbenen ist natürlich weit davon entfernt, leserlich zu sein, dem können Sie noch den Zahn der verbrachten Zeit in den Montañas, deren Feuchtigkeit, sowie Tabakflecken und Brandlöcher hinzufügen.

Alles ist da zu finden. Ich fand beispielsweise das Original-Manuskript der operativen Befehle für unterschiedliche zapatistische militärische Einheiten am Vorabend des Aufstands. Nicht nur die Aufstellungen der Einheiten tauchen auf, sondern jede Operation en detail — in einer Minutiösität, die eine Vorbereitung von Jahren offenbart.

Es sind nicht die Notizen eines zerstreuten Poeten in den Bergen des Südosten Mexikos — oder die eines Geschichtenerzählers. Es sind Schriften eines Soldaten. Oder eher die eines mando militar, eines militärischen Befehlsgebers.

Aber ja, es sind auch reichlich und vielfältig Erzählungen und Geschichten vorhanden, und es gibt einige wenige Gedichte — zu zählen, sind politische und ökonomische Analysen.

Na gut, es handelt sich eher um Schemata oder notierte Punkte als um Analysen, als ob sie später entwickelt oder vervollständigt oder korrigiert werden sollten. Ich konnte einige identifizieren, die später — jedoch ausgearbeitet — öffentlich gemacht wurden.

Das jedoch ist nicht, was ich suche. Die Geschichten, die der SubMoy für sich in Anspruch nahm, hatten mich daran erinnert, dass es irgendetwas — innerhalb dieses ungeordneten Papier- und Ideenbergs — über die Genealogie, die Geschichte des antikapitalistischen Kampfes gibt.

Hier ist es. Ja, das ist nach Beginn des Krieges, denn es ist bereits gedruckt und seine Typographie rührt von einem Textverarbeitungsprogramm her.

Es müsste deshalb vor ungefähr 20 Jahren geschrieben sein — als die Zapatistas einige tiefergehende Analysen veröffentlichten über das, was passierte und das, was sie vorausschauten, was folgen würde. Nun gut zumindest die ersten Zeilen; denn etwas scheint aus einer späteren Periode zu stammen.

Der Text trägt eine verwirrende Überschrift, die sich jedoch beim Weiter lesen aufklärt. Sie lautet: »April ist auch morgen«. Dem folgen einige Punkte, die anscheinend weiter ausgeführt werden sollten, jedoch zu der Zeit noch nicht umgesetzt waren.

Die meisten Fragestellungen erschienen — ausgeführt in Texten — die um die Jahre 1996, 1997 publiziert wurden; und somit werde ich Sie nicht damit langweilen, diese noch einmal zu wiederholen. Die wesentlichen sind jetzt zusammengefasst in einem Buch, mit dem Titel: »Schriften über Krieg und Politische Ökonomie« — ausgearbeitet vom Verlag »Pensamiento Crítico Ediciones«. Falls jemand mehr darüber wissen möchte, das Buch könnte dazu dienlich sein; oder es kann die Website Enlace Zapatista konsultiert werden.

Der Teil, den ich Ihnen zeigen möchte, taucht in keinem der publizierten Texte auf. Obwohl nur halb ausgeführt, reicht es, um eine Reihe von Reflexionen über die Sozialwissenschaft, das meint, die politische Ökonomie — sowie die althergebrachte und gegenwärtige Herausforderung von Theorie und Praxis — kenntlich zu machen.

Ich lese Ihnen vor:
.- Die möglichen Etappen des Kapitalismus. Die Annahme, der Imperialismus wäre ein höchstes Stadium des Kapitalismus (2), verwandelte sich eher in einen Aktionsplan für die Kämpfe in aller Welt als in eine wissenschaftliche Definition. Aus »ein höchstes Stadium« wurde geschlossen, dass der Imperialismus »das letzte Stadium« des Kapitalismus sei.

.- Auf dieser Grundlage etablierte sich eine Art internationale (Auf)Teilung — nicht der Arbeit — sondern des antikapitalistisches Kampfs. In den Ländern der so genannten dritten Welt, die keine entwickelte Industrie und somit einer soliden Arbeiterklasse mangelten, sollte der Kampf für den Sozialismus zuvor den nationalen, antiimperialistischen und antikolonialistischen Kampf durchlaufen. Nur derart könnten sie erlangen, antikapitalistisch zu sein. Es wurde festgelegt, dass der Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus notwendigerweise den nationalen Befreiungskampf zuvor durchläuft. Dies zumindest in den Ländern der sogenannten dritten Welt. Um zum Sozialismus übergehen zu können, müssten sich die Nationen zu erst vom neo-kolonialistischen Joch befreien — in diesem Fall aufgezwungen vom US-amerikanischen Imperialismus. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land wäre nicht möglich, noch weniger wenn dieses Land ein unterentwickeltes wäre. Die sozialistische Revolution sei weltweit oder sie sei nicht. Die wissenschaftliche Analyse verwandelte sich nun in eine Art von Zentral-Kommando der Weltrevolution, das sich in der UDSSR niedergelassen hatte. Von dort aus brachen die Strategien und Taktiken für die weltweiten antikapitalistischen Kämpfe auf. Wer den Anordnungen folgte, der erhielt die Einwilligung der weltweiten »Avantgarde«. Für denjenigen, der nicht folgte, der vorhatte, seinen eigenen Weg zu schaffen, das heißt, seinen eigenen Kampf, gab es die Verurteilung, das Scherbengericht oder die gerade angesagte Bezeichnung, um zu disqualifizieren.

Die Geschichtswissenschaft, die politische Ökonomie, war nicht mehr Wissenschaft und verließ die wissenschaftliche Analyse, um von Parolen, Losungen, Weisungen (3) ersetzt zu werden. Wenn die Realität nicht mit der Sichtweise des Zentralkomitees übereinstimmte, wurde diese Wirklichkeit als reaktionär, kleinbürgerlich, spalterisch, revisionistisch — und vielen anderen ähnlichen »-isch« — eingeordnet. Das kritische Denken ging von der Analyse zur Rechtfertigung über; Fehler und Fehlentwicklungen wurden durch die Ausrede von der Konfrontation mit dem US-amerikanischen Imperialismus verdeckt. Der Simplizismus einer bipolaren Welt drang in die Sozialwissenschaft ein; und gleich den politischen Kräften und Regierungen nahm sie Partei für eine der beiden großen und einzigen Gegner. Die Intelligenz wurde besiegt und die Mittelmäßigkeit richtete es sich bequem ein.

.- Mitte des 20. Jahrhunderts waren alle froh und gelassen. Der schlecht bezeichnete »sozialistische Block« ging ganz in dem auf, was wir den dritten Weltkrieg nennen. In Asien, in Afrika — und insbesondere in Lateinamerika — liefen die Kämpfe ohne größere Relevanz ab für diesen Krieg, der wichtig genommen wurde. Die damaligen linken Parteiorganisationen mussten — auf Teufel komm raus — ihre Hauptkräfte darauf richten, den Sozialistischen Block zu unterstützen. Jeder Kampfversuch brauchte die Zustimmung der think- oder no-think-tanks, die in der UDSSR Anleitungen verfassten, die mehr als nur zu vereinfachen, die Entwicklung der Sozialwissenschaft hemmten. Innerhalb der Sozialwissenschaft ging es nicht mehr darum, um das beste Verständnis dessen, was geschah oder bevor stand, zu ringen, sondern — wie in den Olympischen Spielen — ging es darum, wer am Höchsten und am Häufigsten die Fahne der Stars and Stripes oder die mit Hammer und Sichel hisste.

Im weltweiten Szenario schien alles voraussehbar und einfach ... jedoch platzte Fidel da hinein.
Und »die Problem« (4) — wie die Compas sagen — bestand darin, Fidel kam nicht allein daher. Er brachte einen gewissen Camilo mit, dessen Nachname eine Definition in sich trug (5); und mit diesem gewaltigen Paar kam ein argentinischer-Arzt-Fotograf-Asmathiker — ohne einen gewichtigen Namen im Stammbaum der Weltrevolution oder einen Posten innerhalb irgendeiner dieser Strukturen zu haben. Einige Monate später würde der gesamte Planet ihn kennen — unter seinem Namen aus lediglich drei Lettern: Che.

Später geschah, was geschah; und das Licht, das in den ersten 60er Jahren in der Karibik leuchtete, verwandelte sich, ohne es vor zu haben, in einen Virus, der den gesamten Kontinent infizierte. Nach einem langen Kalender der Niederlagen — in diesem Schmerz genannt Lateinamerika — organisierte sich ein ganzes Land, änderte sein Los und breitete seinen Namen aus.

Seit der gescheiterten Söldner-Invasion, unter US-amerikanischer Schirmherrschaft, trug Cuba den Namen »Fidel«, und Fidel hatte »Cuba« zum Rufnamen des Widerstands und der Rebellion, des Kampfes.

Das kleinste Land — das am meisten verachtete und gedemütigte — erhob sich, und in organisierter Aktion veränderte es die Geographie der Welt.

Der Staatsmann, den das kubanische Volk als seine Leitung einsetzte, tilgte in einigen Jahren praktisch die Bedeutung der anderen »weltweiter Führer«. Und wie es üblich ist, scharten sich um seine Figur die Extreme: Einige wenige, um zu schmeicheln, die meisten jedoch, um zu attackieren.

Lediglich einige schauten und verstanden, etwas Neues war entstanden; und die kubanische Revolution hatte nicht nur die ganz Amerika aufgezwungenen Herrschaft des Imperiums der Stars and Stripes, des »verworrenen und brutalen Nordens«, gebrochen.

Auch die damals schon eingeschrumpfte Sozialtheorie lag in Trümmern — gehütet von Kommissaren, die im gesamten politischen Spektrum niemals nur die Ausnahme sondern das Übliche darstellen.

Fast 60 Jahre später gibt es immer noch irgendeinen alten Kommissar, der sich »heroisch« im universitären Schützengraben befindet und — mittels der Waffe der sozialen Netzwerke — danach strebt, den Leuten von Cuba zu diktieren, was sie zu machen oder nicht zu machen oder rückgängig zu machen haben.

Weit entfernt von den theoretischen Selbstbefriedigungen einer bequemen Intellektualität begannen die Leute von Cuba ihren langen Weg des Widerstands, und schritten unter widrigen, niemals zuvor gegebenen Umständen voran.

Immer noch leiden sie unter der intensivsten und längsten Wirtschaftsblockade innerhalb der Weltgeschichte. Und nicht nur das. Sie widerstanden terroristischen Angriffen, erfuhren eine militärische Invasion, die dem überheblichen Onkel Sam seine erste Niederlage auf dem Kontinent eingebracht hatte. Sie schufen — mit allem gegen sich — ihr eigenes Geschick.

Die Leute von Kuba erhielten nicht nur die Angriffe der weltweiten Rechten, auch die gut gesittete Linke fiel über sie her. Mit Hilfe von Klischees und Allgemeinplätzen trat sie nicht nur der kubanischen Realität entgegen, sondern auch und vor allem jener heroischen Anstrengung, sich aus den eigenen Irrtümern und Niederlagen zu erheben.

Mit dem einzigen Ziel sich der Rechten anzudienen, hat die weltweite institutionelle Linke die kubanische Revolution angegriffen — mit äußerungen der Rechten und entsprechend der jeweiligen Mode.

Der Widerstand der Leute von Cuba ist dermaßen dauerhaft, dass die intellektuelle Hysterie — die sich in diesem kaputten Land namens »Mexiko« so zahlreich ausbreitet — sicherlich sagen könnte, dieser Widerstand hat sich gehalten, weil er eine Erfindung Salinas (6) ist, und somit unterstützt wurde durch die »Mafia der Macht«.

Am Ersten Mai 1961 — Tage nach dem Aufblitzen einer militärischer Geschicklichkeit und Überzeugung, die einem kleinen Gebiet eine neue Bedeutung gaben und den Namen »Playa Girón« (7) eintrug in das fast leere Register der Siege einer weltweiten Linken — sprachen die Leute von Cuba — durch die raue Stimme eines in eine oliv-grünen Kampfanzug geschlüpften Bärtigen — die folgenden Worte:

»Wenn Mr. Kennedy der Sozialismus nicht gefällt, nun gut, uns gefällt der Imperialismus nicht, uns gefällt der Kapitalismus nicht. Wir haben genauso viel Recht, gegen die Existenz eines imperialistischen und kapitalistischen Systems, 90 Meilen vor unserer Küste, zu protestieren, so wie er meint, das Recht zu haben, gegen die Existenz eines sozialistischen Regimes, 90 Meilen vor ihrer Küste, zu protestieren.

Nun aber würde uns nicht einfallen, deshalb zu protestieren, denn es ist eine Frage, die ihnen obliegt, eine Frage, die den Leuten der Vereinigten Staaten obliegt. Es wäre absurd, wenn wir vor hätten, den Leuten in den Vereinigten Staaten zu sagen, welche Regierungsform sie haben sollten, in diesem Falle würden wir meinen, dass die Vereinigten Staaten kein souveränes Volk seien und wir ein Recht besäßen über das Innenleben der Vereinigten Staaten.

Das Recht gibt nicht die Größe, das Recht gibt nicht, dass ein Volk zahlreicher ist wie ein anderes. Das spielt keine Rolle! Unser Gebiet und unser Volk ist zwar klein, jedoch ist unser Recht ebenso zu respektieren wie das jeglichen Landes, gleich welcher Größe. Uns fällt nicht ein, den Leuten der Vereinigen Staaten zu sagen, welche Regierungsform sie haben sollten. Somit ist es absurd, dass dem Herrn Kennedy einfällt, welche Regierungform er möchte, dass wir sie hier haben sollten; denn das ist eine absurde Sache. Das fällt dem Herrn Kennedy ein, weil er kein klares Konzept davon hat, was internationales Recht und die Souveränität der Völker bedeutet.«

Der Text setzt sich fort mit einer ausgedehnten Reflexion über die Sozialwissenschaften und das kritische Denken. Ich halte jetzt jedoch inne, um zu zeigen, wie gut Sie den Namen »Kennedy« durch den Namen »Trump« ersetzen können; und Sie werden sehen, diese Worte stellen nicht eine der Zeit geschuldete Erklärung sondern ein Erklärung von Prinzipien dar.

Ich hielt in der Lektüre inne und schaute auf die Sanduhr.

Mir kam in den Kopf, vielleicht ist es kein herkömmlicher Sand, den die Uhr enthält. Und vielleicht ist er nicht herkömmlich, weil er von einem Strand herrührt, der sich in der Geschichte von Widerstand und Rebellion der Menschheit gegen den Kapitalismus wiederholt und erneuert.

Vielleicht kommt der Sand — der von einer zur anderen Seite der Uhr rieselt — von einem Ort des amerikanischen Kontinents; und seine Geographie lässt sich festmachten auf einer Insel, die sich im Karibischen Meer wie ein rebellischer Kaiman ausdehnt — ein Kaiman, der sich weigert unterworfen zu werden und darum seinen Blick und seine Haut härter werden lässt.

Vielleicht — so kommt es mir jetzt in den Kopf — ist der Sand dieser Sanduhr Sand vom Playa Girón. So lautet der Name dieses Risses in der Mauer des Kapitals, der mit seiner Ausdauer uns alle lehrt: Der Große und Mächtige kann durch den Kleinen und Schwachen besiegt werden, wenn es organisierten Widerstand, Beharrlichkeit und Horizont gibt.

-*-

Lassen Sie mich Ihnen sagen, der verstorbene SupMarcos — und nicht nur er — hegte eine große Bewunderung für die Leute von Cuba und einen tiefen Respekt für Fidel Castro Ruz.

In jenem informellen Gespräch, das wir Stunden vor seinem Tod führten, fiel das Wort auch auf den militärischen Aspekt. Er erzählte mir, dass er meine, die militärische Geschichte der Kämpfe der Pueblos sei wenig bekannt. Er bezog sich auf die so genannte Schlacht von Zacatecas und die Einnahme von Ciudad Juárez — beide angeführt von Francisco Villa (8). Er erzählte mir, er habe sich die Konzeption ausgeliehen — die General Villa ausgearbeitet hatte, um Ciudad Juárez einzunehmen. Mit jener entwarf er den Beginn des Aufstandes. »Für die Schlacht von Zacatecas fehlte mir nicht die Kavallerie, sondern das Flachland«, scherzte er.

International gesehen war sein Referenzpunkt — entgegen dem Herkömmlichen der Linken — nicht die Schlacht um Leningrad sondern die Schlacht von Santa Clara, geführt vom Che, und die Schlachten von Cuito Cuanabale und (später) vom Playa Girón, geleitet von Fidel Castro.

Ich nahm die Gelegenheit wahr, ihn zu fragen, warum er, wenn er Fidel Castro nannte, nicht »Comandante« sagte, wenn doch die gesamte Linke Lateinamerikas es so machte. Seine Antwort lautete:

»Dass alle ihn so nennen, könnte ausreichen, jedoch ist es nicht deswegen. Wir sind eine Armee und wenn wir »Comandante« sagen, meinen wir »mando«, »Befehlsgeber«. Und uns befiehlt niemand, außer unsere Pueblos. Fidel Castro jedoch hat es nicht nötig, dass wir ihn so nennen. Ihm hat sein Pueblo diesen Grad verliehen und mehr braucht er nicht.«

Er setzte seine Erzählung über Playa Girón fort. Mit Bewunderung sprach er von der Situation als Fidel Castro herum gestikulierte und sich mit seinen Offizieren stritt, weil sie ihn nicht Richtung Playa Giŕon ziehen lassen wollten, um gegen die Söldner zu kämpfen. »Stell dir vor«, lachte er aus vollem Herzen, »Fidel gegen seinen Offiziersstab: Er, der darauf besteht, er will an der Kampffront sein, und die anderen, die meinen, nein, er müsse auf sich aufpassen. Und weißt Du? Er hat nicht mit der Pflicht argumentiert, sondern damit, es sei sein Recht.«

Der Verstorbene zündete seine Pfeife an, und nach dem ersten Zug erhob er sich als ob er einen Toast aussprechen wollte und sagte: »Natürlich hat Fidel diese Diskussion gewonnen.«

Daraufhin, um das Thema zu beenden, fügte er noch hinzu: »Fidel Castro ist der Maradona der internationalen Politik. Niemals werden sie ihm die Tore verzeihen, die er denen verpasste, denen einfiel, sich mit ihm zu konfrontieren.«

Ich erinnerte mich der Worte des verstorbenen SupMarcos als ich las, was das ausgemergelte politische Spektrum Lateinamerikas über den Tod Fidel Castros als Meinung kundtat: die wiederholten Vorwürfe und vermeintlichen Kritiken der Rechten und gut gesitteten Linken. Die Rechte, die ihm die Niederlagen, die er ihnen zufügte, nie verzeihen wird. Die institutionelle Linke, die ihm nicht vergeben wird, all das gewesen zu sein, was sie in ihrer Mittelmäßigkeit niemals erreichen werden zu sein.

Da sind auch die Mittelmäßigen, die jetzt Urteile und Strafen erlassen und einfach nicht erklären können, warum — wenn doch Fidel Castro ein Diktator gewesen sein sollte — die stärkste Macht der Welt keine Rebellion organisieren konnte und sich für terroristische Anschläge entschied, um ihn auszuschalten.

Weit entfernt von Sciencefiction-Filmen und -Fernseh-Serien, in denen die US-amerikanischen Geheimdienste die Bösewichte — nur mit einem Kugelschreiber bewaffnet — erledigen (9), scheiterten sie in Cuba aus dem einfachen Grund, weil »Comandante Fidel« der Name, das Bild und die Stimme war, die dieser Pueblo ergriff, um immer wieder zu bestätigen, was er die ganze Zeit und entgegen allem aufbaute: seine Freiheit.

Und das Geld suchte und sucht — und immer findet es Psychopathen, die bereit sind, ihren Blutdurst und ihren Zerstörungswillen zu verkaufen. Immer wird es die Mas Canosa, die Posada Carriles (10), finden. Zu anderen Zeiten und anderen Orten heißen sie: Felipe Calderón Hinojosa (11), seine Exfrau und jetzige, sich um die Präsidentschaft bewerbende Geliebte Margara Zavala in Mexiko; Mauricio Macri in Argentinien; Temer in Brasilien; Leopoldo López in Venezuela. Sie alle sind Politiker, Psychopathen, Korrupte — immer bereit, andere sterben zu lassen, damit sie selber verdienen.

Ich erzähle Ihnen dies nicht nur, weil es das Thema des Kleinen — das rebelliert und sich erhebt, indem es aufgezwungene Muster zerstört — berührt, sondern auch wegen dem jetzt folgenden:
Es war an mir, dem Subcomandante Insurgente Moisés in einer unserer Stellungen, Report zu geben — um genau zu sein: einige Tage nach Fidel Castros Tod.

Als ich ankam, sagte die Insurgenta Erika zu mir — ohne die Tränen zurück halten zu können: »Der Fidel Cuba ist gestorben.« So drückte sie es aus. Die kubanische Revolution widersteht seit 58 Jahren allem; die Insurgenta Erika müsste in den 20ern sein; niemals hat sie dieses Land verlassen; sie hat spanisch in einem Camp in den Bergen gelernt und kämpft mit der Mathematik und den »harten« Wörtern; und trotz all dem — oder genauer: wegen all dem — fasste sie in zwei Worten eine ganze Kampfgeschichte, eine Geschichte des Widerstands und der Rebellion zusammen.

Und ich komme daher, um Ihnen von Cuba — das heißt von Fidel Castro — zu sprechen, aus dem einfachen Grund, weil nicht mehr von ihm gesprochen wird. Vielleicht weil Sie denken, er ist gestorben und mit ihm, das rebellische Cuba. Bezüglich Fidel Castro sagen wir Ihnen lediglich: »Wenn sie ihn nicht töten konnten als er lebte, um so weniger werden sie es können, jetzt, wo er gestorben ist.«

All das taucht hier auf, weil es stimmt, und der verstorbene SupMarcos hatte recht:
April ist auch morgen.

-*-

Um zurückzukehren: Ich setzte mein Gespräch fort mit dem verstorbenen SupMarcos — als er noch nicht verstorben war — da die Wartezeit sich weiter ausdehnte. Die Zeit in La Realidad Zapatista war in einen Rhythmus verfallen, wo es schien, der Tag habe es eilig zu vergehen und die Nacht folge ihm nur schwerfällig. Es war der Subcomandante Insurgente Moisés, der den gesamten Ablauf dieses 24. Mai 2014 bewerkstelligte; dem SupMarcos näherte sich keiner mit Berichten oder Fragen. Als ob der SubMoy alles Mögliche tat, damit der SupMarcos seine letzten Minuten in Ruhe verbringen konnte.

Da wir weiterhin warteten, fragte ich ihn, warum er gesagt hatte, er sei die Figur (seiner Erzählungen) und nicht Durito oder der Alte Antonio oder Andere, die darin auftauchen. Klar, zu diesem Zeitpunkt kannten weder ich noch andere den Text, »Zwischen Licht und Schatten«, den er in der kommenden Morgendämmerung vorlesen würde.

Bevor er mir antwortete, schaute der Sup auf seine beiden Armbanduhren.

Niemals zuvor hatte er dies getan. Immer hatte er die eine oder die andere konsultiert — immer situationsabhängig.

Nachdem er beide Uhren verglichen hatte, seufzte er tief und fragte mich:
»Was ist, was du nicht verstehst?«

»Das Warum?«, erwiderte ich ihm, »Wer bist du? Oder besser: Wer bist du gewesen?«
Daraufhin nahm er Haltung an und verneigte den Kopf — und versuchte paradoxerweise die Stimme der ernsten und förmlichen Samurai Akira Kurosawas (12) zu imitieren und sprach:

»Kagemusha.«

Ich sagte, »paradoxerweise«, denn der SupMarcos scherzte ansonsten über alles und machte sich über alles lustig, vor allem über sich selbst.

Ich habe das gleiche Gesicht gemacht wie Sie im jetzigen Moment.

»Was verdammt soll das mit Kagemusha bedeuten?«

»Ein Köder«, gab er mir zur Antwort, »ein Distraktor (14), ein Schatten, der Schatten des Kriegers.«

Nun verstand ich, warum in den letzten Texten plötzlich eine neue Figur aufgetaucht war: »Sombra, der Krieger« (15).

»Und nun?«, fragte ich nur so zum Spaß.

»Nichts. Irgendjemand musste es machen; und es war an mir, es zu tun.«

»Und nun, was wirst du jetzt machen?«, insistierte ich weiter.

»Sterben«, sagte er zu mir, während er sich die Pasamontañas überzog. Er rückte die Schirmmütze zurecht, zündet die Pfeife an — sich an den Posten wendend, der die Tür bewachte, ordnete er zum letzten mal an:
»Sag’ dem SubMoy, ich bin bereit.«

-*-

Das Unwetter rückt heran.

Ein ums andere mal wird das Geld versuchen, die Geschichte zu zerstören, die von Bedeutung ist. Ein ums andere mal wird es besiegt werden. Wie in einem April vor 56 Jahren — in Playa Girón — werden sich ganze Generationen von der Hundeleine reißen und sich erheben, das Geschick herausfordern, das ihnen aufgezwungen wurde.

An diesem Tag werden Sie — wenn auch mit einer anderen Stimme — die Worte hören, die die Leute von Cuba an diejenigen richteten, die vorhatten, sie zu beugen:

»Sie werden auch nicht dem Verdikt der Geschichte entgehen, welches nicht nur ein simples Verdikt aus Worten sein wird, sondern unerbittlich das Los der Ausbeuter der ganzen Welt anzeigt wie eine Uhr, die ihnen sagt: Deine Tage sind gezählt, das Ende deines Ausbeutersystems nähert sich.«

Cuba wird überleben. Die Pueblos originarios werden überleben. Die Menschheit wird überleben.

Und wo »patria« gesagt wird, wird damit »Welt«, »Haus«, »Leben« gemeint.

Sicherlich, es wird mächtige Blitze und stärkste Unwetter geben — jedoch wird sich letztendlich diese Erde erheben — und mit ihr ihre Frauen, ihre Männer und diejenigen, die sind, was sie sind, ohne das eine oder das andere zu sein.

Gedenken und Erinnerung werden nicht vergessen, jedoch wird es keine Feierlichkeiten geben.

Nicht weil es sich nicht lohnte, sondern weil das ganze Leben dann sein wird, was es immer gewesen sein müsste — das meint: ein Fest.

Und wenn dieser Morgen kommt, werde ich — erneuter Kagemusha-Nomade — lediglich beklagen, nicht anwesend zu sein, um Sie spöttisch zu betrachten und Ihnen zu sagen:

»Ich hasse zu sagen, ich habe es Ihnen gesagt jedoch habe ich es Ihnen gesagt.«

Danke, nicht vielen Dank, aber immer, ja, einige wenige ziemliche Danke.

SupGaleano.
April 2017.


 Anhang  
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Anmerkungen der_die Übersetzer_in:


(1) »champa«: Hütte
(2) Lenin: »Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus«
(3) im Original: »consigna«
(4) im Original: »la problema«; die Compas geben oftmals den Substantiven, die mit »a« enden, den weiblichen Artikel »la/ die«
(5) (Camilo) Cienfuegos: wörtlich: »Hundertfeuer«
(6) Carlos Salinas de Gortari: mexikanischer Präsident der PRI: 1988-94; er verantwortet das NAFTA-Abkommen mit den USA und Kanada; ausgezeichnet durch Korruption und Machtgier.
(7) »Playa Girón«: 17. April bis 19. April 1961: Invasionsversuch der Exil-kubanischen paramilitärischen, USA-gestützen und durch die CIA ausgebildeten »Brigade 2506«, mit über 1500 Teilnehmern in der Bahía de Cochinos (»Schweinebucht«) am Ort Playa Girón im Süden Kubas.
(8) Francisco Pancho Villa (1898-1923 ermordet); mexikanischer Revolutionär; Anführer der División del Norte, während der mexikanischen Revolution.
Besetzung von Ciudad Juárez: 15./16.11.1913; Schlacht von Zacatecas: 23.6.1914.
(9) Bespielsweise in »Never say never again«. (»Mein Name ist Bond, James Bond.«)
(10) Jorge Mas Canosa; Luis Posada Carriles; beide Mitglieder der Exil-kubanischen Brigade 2506, die die Invasion am Playa Girón versuchte; letzterer bekannt für seine langjährigen terroristischen Aktionen gegen Kuba und Fidel Castro.
(11) Felipe Calderón Hinojosa: mexikanischer Präsident der PAN: 2006-2012; mit ihm begann 2006 der so genannte »Drogenkrieg«.
(12) Akira Kurosawa: japanischer Filmregisseur; »Kagemusha — der Schatten des Kriegers«, aus dem Jahr 1980, ist einer seiner Spielfilme.
(13) »Kagemusha«; wörtlich übersetzt: »Schattenkrieger«
(14) »Distraktor«: ablenkendes Objekt
(15) »sombra«: der Schatten

[i] Hinweis: Chiapas98 ist ein ehrenamtliches, nicht-kommerzielles Projekt. Sollten Sie nachweislich die Urheberrechte an einem der von uns verwandten Bilder haben und nicht damit einverstanden sein, dass es hier erscheint, kontaktieren Sie uns bitte, wir entfernen es dann umgehend.

 Quelle:  
  http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2017/04/12/kagemusha-abril-tambien-es-manana/ 
 

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