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Bundesgericht schlägt Wahrheitskommission für den Fall Ayotzinapa vor
Poonal vom 05.06.2018 |
Gerd Goertz |
(Mexiko-Stadt, 5. Juni 2018, npl).- Nach mehr als dreieinhalb Jahren nun auch eine schallende Ohrfeige von der eigenen Justiz. Immer wieder haben zahlreiche internationale Institutionen sowie nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen die Ermittlungsergebnisse und angebliche »historische Wahrheit« der mexikanischen Bundesgeneralstaatsanwaltschaft (PGR) im Fall der am 26. September 2014 verschwundenen 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa, Bundesstaat Guerrero, scharf kritisiert. Jetzt hat erstmals auch ein mexikanisches Bundesgericht die damals unter dem Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam begonnenen Untersuchungen »zerpflückt«. Das dreiköpfige Richtergremium kam einstimmig zu dem Schluss, die Ermittlungen seien weder »schnell, effektiv, unabhängig noch unbefangen« sondern auf eine irreguläre Weise durchgeführt worden. Das Kollegialgericht geht genauso wie internationale Instanzen davon aus, dass Zeugenaussagen teilweise unter Folter zustande kamen. Dies war der Ursprung des Verfahrens im Bundesstaat Tamaulipas. Mehrere der Verhafteten und von der PGR als Mitverantwortliche des Verbrechens gegen die Studenten präsentierte Personen hatten vor Gericht geklagt, weil sie nach eigenen Angaben im Zuge der Vernehmungen gefoltert wurden.
Die Richter sahen die Vorwürfe als hinreichend belegt an, gingen aber in ihrem Urteil weit über den Folteraspekt hinaus. Sie fordern ein neues Aufrollen des Verfahrens sowie die Einrichtung einer Untersuchungskommission für Wahrheit und Gerechtigkeit, da es in Mexiko keine unabhängige Staatsanwaltschaft gebe. Der »Wahrheitskommission« sollen Vertreter*innen der Opfer, der Nationalen Menschenrechtskommission sowie der Ermittlungsbehörden angehören. Außerdem empfahlen die Richter, erneut die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in die Ermittlungen einzubeziehen. Deren kritische Begleitung des Falles war der mexikanischen Regierung von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte das Mandat der GIEI so kurz wie möglich gehalten. Die Richter in Tamaulipas legten den Finger in eine weitere Wunde: Bezüglich der möglichen Beteiligung von Personal der Streitkräfte und der Bundespolizei beim Verschwindenlassen der Studenten sei nicht einmal ermittelt worden.
»Historische Wahrheit« kaum zu glauben
Die Reichweite des Urteils ist noch nicht abzusehen. Es ist aber ein zusätzlicher Schlag gegen die »historische Wahrheit« der PGR. Danach waren ausschließlich lokale Polizei und organisiertes Verbrechen für die Ermordung und angebliche anschließende sofortige Verbrennung auf der Müllhalde von Cocula im Bundesstaat Guerrero verantwortlich. Zahlreiche unabhängige Expert*innen halten diesen Ablauf für unmöglich.
Das Gerichtsurteil kommt weniger als vier Wochen vor den Präsidentschaftswahlen am 1. Juli zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt für die Regierung von Enrique Peña Nieto. Zuletzt gab es Gerüchte, die Regierung wolle den Fall Ayotzinapa noch vor den Wahlen für abgeschlossen erklären. Die Bundesgeneralstaatsanwaltschaft (PGR) warf dem Kollegialgericht in einer ersten Reaktion vor, Gewaltenteilung und Zuständigkeiten nicht anzuerkennen. Die Ermittlungen gingen zudem weiter und würden »unter strikter Achtung der Menschenrechte« die Empfehlungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) und der CNDH berücksichtigen.
Die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen Centro Prodh, Tlachinollan, Serapaz und Fundar wiesen in einer gemeinsamen Erklärung darauf hin, dass erstmals ein nationales Bundesgericht die zuvor von internationalen Einrichtungen aufgezeigten Irregularitäten der Ermittlungen feststelle. Noch vor wenigen Wochen hatte sich die mexikanische Regierung vehement gegen ein Dokument des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Mexiko-Stadt gewehrt, in dem die Foltervorwürfe und weitere Missstände bei den Ermittlungen erwähnt wurden. Für die Familienangehörigen der Studenten bedeutet das Urteil einen kleinen Hoffnungsschimmer. Selbst wenn von der aktuellen Regierung kaum eine Kehrtwende im Fall Ayotzinapa zu erwarten ist, bieten die Ausführungen der drei Richter eine mögliche Grundlage für wirkliche Aufklärung, was genau mit den Studenten geschah. Oppositionspolitiker Andrés Manuel López Obrador, derzeit haushoher Favorit für die Präsidentschaftswahlen, hat diese Aufklärung vor Kurzem bei einem Treffen mit den Eltern der Studenten versprochen. Das Urteil könnte für ihn zu einer Messlatte werden.
Quelle: poonal
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